Ein Verfassungsschützer während der Tat am Tatort

Seite 3: V-Mann mit Kontakten nach Thüringen

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Benjamin G. war seit 2001 V-Mann des LfV Hessen und gehörte einmal selber der rechten Szene von Kassel an. Wo genau er als Spitzel eingesetzt war, ist unklar.

G. hatte aber auch Kontakte nach Thüringen zum rechtsextremen Thüringer Heimatschutz (THS), zu dem Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe sowie die in München Angeklagten Ralf Wohlleben, Carsten Schultze und Holger Gerlach zählten. Der THS war unter starker Mitwirkung des Verfassungsschutzes geschaffen worden und von zahlreichen V-Leuten durchsetzt. An führender Stelle der V-Mann Tino Brandt, über den viel Geld des Verfassungsschutzes in das Netzwerk floss.

Hessen und Thüringen, Westdeutschland und Ostdeutschland - das Phänomen NSU führt in die jüngere deutsche Geschichte zurück. Nach der Wende in der DDR 1989 und der Auflösung der Staatssicherheit war der Osten zunächst ein Gebiet ohne Geheimdienst, eine Art Tabula rasa. Der bundesdeutsche Verfassungsschutz wurde in die neuen Länder verpflanzt, wo er Möglichkeiten vorfand, wie er sie im Westen so nicht mehr hatte. Der Thüringer Verfassungsschutz wurde vom hessischen aufgebaut. Das Führungspersonal im Landesamt in Erfurt kam überwiegend aus dem Westen.

Und so, wie es Verbindungen zwischen den Hauptamtlichen in Thüringen und Hessen gab, gab es sie auch zwischen ihren Informanten und deren Kameraden. Die Aufarbeitung in den letzten Jahren erbrachte viele Erkenntnisse über Verflechtungen zwischen Neonazis, Rockerbanden und kriminellen Milieus in ganz Deutschland. Auch Temme persönlich war Teil dieser Mischszene.

Neonazis, Rocker und organisierte Kriminalität

Reinhardshagen, ein Ort wenige Kilometer nördlich von Kassel, war Treffpunkt von Rockern und Neonazis, "Hells Angels"- und "Blood and Honour"-Mitgliedern. Dort soll auch Uwe Mundlos verkehrt haben. Das bezeugte ein Informant der Polizei, Volker B., und ist auch dem BKA bekannt. Kontakte zur "Hells Angels"-Gruppe unterhielt nicht nur Temmes V-Mann Benjamin G., sondern auch der V-Mann-Führer selber. In Reinhardshagen nahm Temme an Schießübungen einer Reservistenkameradschaft teil. Auch Hinweise auf eine rechtsextreme Gesinnung fanden sich bei Temme, NS-Schriften etwa. Vom Geist, der im Hause Temme geherrscht haben muss, konnte man sich im Sitzungssaal in München überzeugen, als ein abgehörtes Telefonat vorgespielt wurde, in dem sich Temmes Ehefrau über "Dreckstürken" auslässt.

Spuren des NSU nach Kassel: 2006 soll Beate Zschäpe dort gesehen worden sein. In ihrer abgebrannten Wohnung in Zwickau fand sich ein Stadtplan von Kassel. Darauf waren verschiedene Objekte gekennzeichnet, die an den Fahrtstrecken Temmes zwischen seiner Wohnung und der Dienststelle lagen. Unter anderem gibt es eine Markierung zur Adresse Untere Königsstraße 81. Die Untere Königsstraße 80 war die Adresse einer konspirativen Wohnung Temmes, wo er unter seinem dienstlichen Decknamen "Alexander Thomsen" seine Informanten traf.

Gibt es auch eine Verbindung von Temme zum NSU-Trio? Diese Frage wurde in München von der Nebenklage an Zschäpe gerichtet. Sie hat sie nicht beantwortet. Und Richter Manfred Götzl hat sie sich nicht zu eigen gemacht.

Vor 2011 keine zentralen Ermittlungen

Wenn man die Taten von Dortmund und Kassel am 4. und 6. April 2006 als Doppelmord betrachtet, muss man nicht nur mögliche Verbindungen des NSU-Trios in beiden Städten untersuchen, sondern auch die Verbindungen zwischen den Neonazi-Szenen beider Städte untersuchen. Eine bestand zum Beispiel durch die rechtsradikale Band "Oidoxie" und deren Schutztruppe, zu der wiederum auch der V-Mann Sebastian S. aus Nordrhein Westfalen gehörte.

Doch trotz der zwei Morde unmittelbar hintereinander und obwohl inzwischen neun Migranten mit ein und derselben Waffe erschossen worden waren, lehnte es die Bundesanwaltschaft ab, die Ermittlungen zu übernehmen. Sie schloss rechtsextreme und fremdenfeindliche Tatmotive aus und sprach von einem privaten Rachefeldzug eines Einzeltäters.

Vor 2011 gab es keine zentralen bundesweiten Ermittlungen. Es existierte lediglich eine sogenannte Lenkungsgruppe unter Leitung der Mordkommission von Nürnberg, mit der sich die Ceska-Mordkommissionen austauschten. Sie hatte nicht die Qualität, die zentralisierte BKA-Ermittlungen gehabt hätten. Das BKA selber führte nur eine kleine Ermittlungsgruppe. Insgesamt Mordermittlungen, die nicht alle Ressourcen ausschöpften und mit angezogener Handbremse betrieben wurden.

So unterblieb auch eine intensive Kooperation zwischen der Dortmunder und der Kasseler Kriminalpolizei, obwohl die nahelag, weil es sich um dieselben Täter handeln musste. Konsequenterweise hätten die Fahnder allerdings sämtliche Ceska-Morde hinzuziehen müssen. Mordkommissionen aus sechs Städten hätten zusammenarbeiten müssen. Das wäre auf eine Art paralleles Bundeskriminalamt hinausgelaufen. Strukturell absurd und vor allem politisch nicht gewollt. Die lokalen Kriminalpolizeien konnten nicht lösen, was Bundesanwaltschaft und BKA nicht lösen wollten. Hinzu kam, dass seit Kassel mit dem Auftauchen des Verfassungsschutzes die Mordserie kein normaler Kriminalfall mehr war und von den örtlichen Mordkommissionen nicht mehr beherrschbar.

Erst nach dem Auffliegen des Terrortrios im November 2011 zog die Karlsruher Strafverfolgungsbehörde das Verfahren an sich.

Unterdrückte und geschwärzte Akten

Die Ermittlungsunterlagen im Fall Temme befinden sich heute in Karlsruhe. Die Anklagebehörde behauptet, darin gäbe es keine Anhaltspunkte für eine Tatbeteiligung oder Hintergründe der Tat. Opferanwälte müssen zum Dienstsitz des Generalbundesanwaltes fahren, um die Akten einsehen zu können. Sie bekommen keine Kopien, sondern dürfen sich lediglich Notizen machen, manchmal nicht mal das. Obendrein existieren umfangreiche Schwärzungen in den Unterlagen, ganze Blätter wurden entfernt. Selbst ein als Zeuge gehörter BKA-Beamter musste dem Gericht eingestehen, dass er nicht sagen kann, ob die Akten vollständig sind.

Im Juli 2016 beendete der Vorsitzende Richter am OLG in München, Manfred Götzl, das Thema Temme für sich und die Hauptverhandlung endgültig. Sechs Mal hatte der als Zeuge erscheinen müssen. Nun befand Götzl: Dessen Einlassungen, er sei nur zufällig und aus privaten Gründen an dem Tatort Internetcafé gewesen, habe vom Mord nichts mitbekommen und auch den Toten beim Gehen nicht liegen sehen, seien glaubhaft und plausibel. Temme sei unschuldig, eine weitere Beweiserhebung überflüssig. Dieses Urteil ist zwar mutwillig, aber konsequent. Schon die Temme-Akten wollte der Richter nicht beiziehen. Vielleicht war diese Aufgabe zu groß. Vielleicht folgte der Staatsschutzsenat aber auch nur der vermeintlichen Staatsräson.

"Aufklärung auf Jahre hinaus verhindert"

2014 wurde vor diesem Gericht der frühere LfV-Chef von Hessen, Lutz Irrgang, als Zeuge vernommen. Er verneinte eine Verwicklung des Amtes und seines Mitarbeiters Temme in den Mord, präsentierte aber eine bemerkenswerte Analyse: "Weil offenbar wurde, dass ein Verfassungsschützer am Tatort war, wird die Aufklärung sehr schwierig werden. Denn derjenige, der die Tat beging, musste sich neu positionieren."

Um Erläuterung gebeten, wie er das meine, führte Irrgang weiter aus: "Ich habe mir Gedanken gemacht, wie es auf den Täter wirkt, dass in unmittelbarer Nähe seiner Tat ein Verfassungsschützer war. Und habe mich gefragt: Was könnte das für die Aufklärung, wie auch für den Fortgang der Serie bedeuten? Meiner Meinung nach bedeutet es, dass die Aufklärung über Jahre nicht gelingen wird." Opferanwalt Alexander Kienzle fragte nach: "Durch die Anwesenheit von Herrn Temme am Tatort wurde die Aufklärung auf Jahre verhindert?" Und Irrgang konkretisierte: "Nein, dadurch, dass man das öffentlich gemacht hat."

Es ist, als stoße der ehemalige Geheimdienstchef eine Tür in unbekannte Sphären auf. Tatsächlich endete nach Kassel das Ermorden von Migranten mit der Ceska-Pistole. Weil sich die Täter neu positionieren mussten? War der Verfassungsschützer am Tatort ein Zeichen dafür, dass ihnen die Sicherheitsbehörden nahe gekommen waren? Das hieße, der Verfassungsschutz wäre doch nicht so ahnungslos gewesen, wie behauptet. Oder verhielt es sich umgekehrt: Waren mit der Enttarnung Temmes Schutzmächte fragwürdig geworden?

Doch der größte Widerspruch ist: Wenn nun nichts mehr so war, wie bisher, warum wagen die Täter nur ein Jahr später noch Gefährlicheres? Nämlich, am helllichten Tag auf einem belebten Platz zwei Polizeibeamte, Repräsentanten des Staates, zu erschießen? Oder waren in Heilbronn andere Täter am Werk, zumal andere Waffen verwendet wurden?

Wer alles zur Tätergruppierung NSU gehörte und welche Rolle das Kerntrio genau spielte, ist nicht aufgeklärt.

In Teil 4 der NSU-Serie: Die Raubüberfälle.