Ein Verfassungsschützer während der Tat am Tatort

Grafik: TP

Mit dem Mord an Halit Yozgat in Kassel endet die Ceska-Serie - Warum? Teil 3 der Telepolis-Serie zum "NSU"

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Auf den Tag genau ein Jahr nach dem Nagelbombenanschlag in Köln vom 9. Juni 2004 setzte sich die Mordserie, die dem NSU zugeschrieben wird, fort: Am 9. Juni 2005 wurde Ismail Yasar erschossen, bereits das dritte Opfer in Nürnberg. Nicht einmal eine Woche später, am 15. Juni 2005, traf es in München den Griechen Theodoros Boulgarides. Der einzige der getöteten Männer ohne türkische Wurzeln. Nur wenige Meter von Boulgarides' Laden entfernt um die Ecke wohnte einmal der bekannte und mehrfach verurteilte Neonazi Martin W., der wie das NSU-Trio aus Ostdeutschland stammte.

Die Morde Nummer sechs an Yasar und Nummer sieben an Boulgarides waren eine Art Doppelmord. Genauso wie ein Jahr später die Morde acht und neun.

Doppelmord von Dortmund und Kassel

Am 4. April 2006 wurde in Dortmund Mehmet Kubasik in seinem Kiosk erschossen. In derselben Straße wohnt einer der bekanntesten Neonazis der Stadt, Siegfried B. Nur zwei Tage später, am 6. April 2006, starb in Kassel Halit Yozgat in seinem Internetcafé.

Neun Morde an Männern mit Migrationshintergrund durch mehrere Schüsse in Gesicht und Kopf aus ein und derselben Waffe der Marke Ceska. Zweimal wurde zusätzlich eine italienische Bruni-Pistole verwendet: Beim ersten Mord an Enver Simsek in Nürnberg und beim dritten an Süleyman Tasköprü in Hamburg.

Jede Tat hat ihre Besonderheiten. Die neunte in Kassel gleich mehrere. Es war der letzte Mord, der mit der Ceska-Pistole begangen wurde. Und es war ein Verfassungsschutzbeamter zugegen. Seine Rolle - passiv oder aktiv - ist bis heute nicht aufgeklärt. Sein Name: Andreas Temme. Der Mord von Kassel ist einer der Schlüsselfälle des NSU-Mysterium - wie auf ihre Weise die Nagelbombe von Köln, der Polizistenmord von Heilbronn oder auch der 4. November 2011, als mit den Toten von Eisenach der NSU aufgedeckt wurde.

Wo endet der NSU, wo beginnt der Verfassungsschutz - und umgekehrt?

Namen dominieren dessen undurchsichtige Geschichte: Die der mutmaßlichen Täter Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe oder des Angeklagten Ralf Wohlleben. Die von V-Leuten des Geheimdienstes im Umfeld des NSU, wie Tino Brandt, Ralf Marschner, "Corelli" oder "Piatto". Und mit Andreas Temme gehört auch ein Hauptamtlicher des Verfassungsschutzes (VS) zu dieser Nomenklatur.

Doch in den vergangenen fünf Jahren ist der Fall Temme vor allem zum Symbol für den Widerstand des Sicherheitsapparates gegen die Aufklärung der Mordserie geworden. X-mal ist Temme mittlerweile befragt worden, im Zschäpe-Prozess wie in Untersuchungsausschüssen, doch die staatliche Mauer um ihn herum scheint höher und höher zu werden. Der Fall ist die Nagelprobe, das Exempel, an dem sich erweist, ob der Komplex aufgelöst oder weiterhin unterdrückt werden kann. Er steht wie kaum ein anderer für die politische Dimension des NSU-Skandals.

Dass der VS-Beamte während der Tat in dem Internetcafé anwesend war, kann inzwischen als gesichert gelten. Das hat auch die Bundesanwaltschaft eingeräumt. Damit ist der Kreis um den Mord wie um Temme enger gezogen.

Ein Mord wie in Szene gesetzt

6. April 2006: Kurz nach 17 Uhr fand Ismail Yozgat seinen 21jährigen Sohn tot hinter dem Tresen in seinem Internetcafé in der Holländischen Straße in Kassel. Als Tatwaffe wird die Ceska-Pistole identifiziert, die schon bei acht Morden verwendet wurde, zuletzt nur zwei Tage zuvor in Dortmund. Im November 2011 wird diese Pistole zusammen mit anderen Schusswaffen im Brandschutt der Wohnung in Zwickau gefunden, wo das Trio Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe gelebt hatte.

Ismail Yozgat hatte sich um ein paar Minuten verspätet. Er wollte seinen Sohn um 17 Uhr ablösen. Möglicherweise wäre er dann das Opfer geworden. Das sorgt bis heute für Spekulationen, ob der Anschlag vielleicht Ismail Yozgat galt. Daran hängt die grundsätzliche Frage nach dem Motiv der Morde und der Auswahl der Opfer. Sollten konkrete Individuen getroffen werden oder Vertreter gesellschaftlicher Gruppen, zum Beispiel Türken? Dass wir das immer noch nicht wissen, gehört zu den Unheimlichkeiten der Geschichte.

Ein Mord wie in einem Kammerspiel, wie in Szene gesetzt. Während der Tat waren sechs Menschen in dem kleinen Laden: Der Iraker Hamadi S. telefonierte in einer Zelle im Vorraum nur wenige Schritte vom Opfer entfernt. Die Türkin Hediye C. saß mit einem Kleinkind im separierten Familienraum und telefonierte. Die Jugendlichen Emre E. und Ahmed T. surften im hinteren Raum im Internet.

Die sechste Person war der Beamte des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV), Andreas Temme, der ebenfalls im hinteren PC-Raum saß. Er hatte sich um 16:51 Uhr ein- und kurz vor 17:02 Uhr wieder ausgeloggt. Als Vater Yozgat seinen Sohn fand, war Temme nicht mehr da. Als einziger hatte er das Geschäft verlassen. Die anderen Zeugen geben an, ein dumpfes Geräusch gehört zu haben, wie wenn etwas zu Boden fällt. Hamadi S., der nicht mehr in Deutschland lebt, sagte der Polizei, er habe schattenhaft einen großen Mann wahrgenommen, der an seiner Zelle vorbeiging, zum Tresen geschaut und dann in Eile das Lokal verlassen habe. Temme misst 1.90 Meter. Ahmed T., damals 15 Jahre alt, sagte aus, den großen blonden Mann, eben Temme, mit einer Plastiktüte in der Hand rausgehen gesehen zu haben. In der Tüte habe sich ein schwerer Gegenstand abgebildet.

Verfassungsschützer unter Tatverdacht

Temme meldete sich nach Bekanntwerden der Tat nicht als Zeuge. Er wurde zwei Wochen danach als jener sechste Besucher des Internetcafés ermittelt und wegen dringenden Tatverdachts verhaftet. Der Verdacht wurde später fallengelassen, das Verfahren gegen ihn im Januar 2007 eingestellt.

Aus dem ersten NSU-Untersuchungsausschuss in Berlin, der Hauptverhandlung vor dem Oberlandesgericht in München und dem Landesuntersuchungsausschuss von Hessen sowie aufgrund der Recherchen von Opferanwälten und Journalisten kennt man heute zahlreiche Einzelheiten des Falles, die den Verfassungsschützer unverändert in den Blickpunkt rücken und die erneut nicht zur allgemeinen exklusiven Zwei-Täter-Böhnhardt-Mundlos-Theorie der Bundesanwaltschaft passen.

Unter anderem hatten die Ermittler schon 2006 herausgefunden, dass der VS-Mann Temme am 9. Juni 2004 in Köln war, als in der dortigen Keupstraße die Nagelbombe gezündet wurde. Er habe eine Tagung besucht. Die Öffentlichkeit erfuhr von diesem Aufenthalt erst im Juli 2016 aus dem Mund eines Kasseler Polizisten im hessischen NSU-Ausschuss. Der Sachverhalt ist umso bemerkenswerter, als gegen Temme ursprünglich auch wegen anderer Ceska-Morde ermittelt wurde.

Warum war Temme in dem Internetcafé? Er selber bleibt stoisch bei seiner Version: Am 6. April 2006 habe er auf einer Kontakt-Webseite gechattet, rein privat, dann bezahlen wollen, den Besitzer nicht gesehen, sei auf die Straße gegangen, zurückgekehrt, nach hinten gegangen, wo die Toiletten sind und wieder nach vorne. Weil Halit Yozgat nicht da gewesen sei, habe er ein 50 Centstück auf den Tresen gelegt und das Lokal verlassen.

Er habe nichts wahrgenommen, was mit dem Mord zu tun gehabt haben könnte, auch kein dumpfes Fallgeräusch gehört, nichts gerochen und auf der Straße niemanden gesehen. Wer den Mann bei einem seiner Auftritte erlebt hat, dem fällt es erst Recht schwer, diese Schilderung zu glauben. Sein verkniffenes Verhalten erinnert an das der Angeklagten Wohlleben und Zschäpe.

Zeuge, Komplize, Täter?

Da man heute davon ausgehen kann, dass Temme anwesend war, als Yozgat erschossen wurde, stellen sich zwingende Fragen. Kann er, als er das Internetcafé verließ, den Sterbenden tatsächlich nicht bemerkt haben, der hinter dem Tresen lag? Aber warum meldete er sich dann nicht hinterher als Zeuge? Oder sah der großgewachsene Mann Halit doch liegen? Warum ging er dann weg? Ist er letzten Endes sogar verstrickt und übergab dem oder den Mördern die Tatwaffe in der Plastiktüte?

Oder war er gar - konsequent zuende gedacht - selber der Mörder? Ein Opferanwalt fragte ihn vor Gericht genau das. "Natürlich nicht", antwortete Temme. Diese Denkvarianten sind übrigens nicht weit von den Ermittlungshypothesen entfernt, die die Kasseler Kriminalpolizei 2006 verfolgte: Erstens: "Temme war der Täter", zweitens: "Temme und ein V-Mann waren Mittäter". Eine dritte Hypothese stellte damals das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen auf: "Temmes V-Mann war der Täter".

Gemessen daran dreht sich die Aufklärung seit zehn Jahren im Kreise.

Und noch eine Variante ist denkbar: Selbst wenn Temme an dem Mord nicht aktiv beteiligt war, war ihm dann vielleicht eine passive Rolle zugeschrieben worden? Nach eigener Aussage war er jede Woche mehrmals in dem Internetcafé. War das den Tätern bekannt und sollte er als Verfassungsschützer Zeuge eines Mordes werden? War das eine der Botschaften dieser Tat?

Was ist die "Kasseler Problematik" des Verfassungsschutzes?

Eine Handlungsebene des Mordfalles Kassel führt in den hessischen Verfassungsschutz. In welchem Ausmaß entzieht sich bisher allerdings dem öffentlichen Einblick. Ist der Yozgat-Mord nur Temmes Geschichte, wie es seine Vorgesetzten und auch er selber glauben machen wollen? Oder hängt die Behörde mit drin? Jedenfalls gibt es eine Reihe erklärungsbedürftiger Indizien. So hatte zwei Wochen vor dem Mord, am 24. März 2006, die wiesbadener Zentrale in einem Rundschreiben auf die Ceska-Mordserie hingewiesen und die Quellenführer angehalten, ihre Quellen danach zu befragen - und das, obwohl der letzte Ceska-Mord ein dreiviertel Jahr zurücklag. Hatte man Hinweise auf eine nächste bevorstehende Tat?

Nachdem Temme zum Tatverdächtigen geworden war, versuchte das Landesamt, auf dessen Aussageverhalten bei der Polizei Einfluss zu nehmen. Er sollte nur so viel offenbaren, wie nötig. Das weiß man aus der Telefonüberwachung Temmes, die die Polizei erwirkt hatte. Trotz laufenden Ermittlungsverfahrens trafen sich Vorgesetzte mit ihm, selbst der LfV-Direktor Lutz Irrgang und sein Stellvertreter Alexander Eisvogel. Ein Treffen mit der Abteilungsleiterin Iris P. fand nicht im Dienstgebäude statt, sondern in einer Autobahnraststätte, damit es nicht von der Polizei abgehört werden konnte.

Von den abgehörten Telefonaten wurden einige Passagen bekannt, die Fragen aufwerfen, wie der Satz des Dienststellenleiters in Kassel, Frank-Ulrich F., zu Temme: "Du hast Vieles zugegeben und jetzt sitzt du mit drin. Es fehlt eine Minute. Die ist das Problem." F. spricht in dem Telefonat allgemein von einer "Kasseler Problematik". Vor dem OLG in München behauptete F., ein solches Gespräch mit Temme habe es nicht gegeben. Er habe nach dessen Suspendierung keinen Kontakt mehr mit ihm gehabt. Nachdem ihm das Abhörprotokoll vorgehalten wurde, räumte er ein, mit Temme gesprochen zu haben. Die Protokolle wurden in ihrer Gesamtheit nicht in den Prozess eingeführt. Worin die "Kasseler Problematik" bestand, bleibt im Dunkeln.

In einer anderen Passage, die durch Nachforschungen der Anwälte der Familie Yozgat bekannt wurde, äußerte der Geheimschutzbeauftragte des hessischen Verfassungsschutzes, Gerald-Hasso H., im Mai 2006 gegenüber Temme: "Ich sage ja jedem, wenn der weiß, dass irgendwo sowas passiert, bitte nicht vorbeifahren." Die prompten Abwiegelungen durch H. (er habe die Kollegen gemeint), wie seitens der Bundesanwaltschaft (der Satz habe das Gespräch auflockern sollen), sind wenig überzeugend, auch weil sie sich widersprechen. Stattdessen steht die Frage: Wusste Temme, wusste das Amt von der bevorstehenden Tat oder einer bevorstehenden Aktion?

In einem weiteren überwachten Telefonat beklagte sich Temmes Ehefrau drei Wochen nach dem Mord bei ihrer Schwester über ihren Mann. Sie spricht von "niedergemetzelten Türken" und sagt wörtlich: "Was interessiert's mich, wen er heute wieder niedergemetzelt hat." Die Telefonate sind bisher nur in Bruchteilen bekannt.

Der Nachrichtendienst blockiert die Ermittlungen

Ein wesentliches Merkmal des Mordfalles Kassel ist der Konflikt zwischen Polizei und Geheimdienst. Die Ermittler der Mordkommission "Café" stießen beim Landesverfassungsschutzamt (LfV) auf eine Mauer. Sie wollten Auskunft über das Arbeitsfeld Temmes haben und seine V-Leute befragen. Das LfV lehnte das kategorisch ab. Vom Geheimschutzbeauftragten Gerald-Hasso H. ist der Satz überliefert: "Wenn die Quellen vernommen würden, müssten sie abgeschaltet werden. Das wäre das größte Unglück für das LfV." Schließlich untersagte der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsidenten von Hessen, Volker Bouffier (CDU), die Vernehmung von Temmes Quellen und die Herausgabe seiner Dienstakte. Außerdem hielt Bouffier, wie der hessische Untersuchungsausschuss im September 2016 herausfand, den Tatverdacht gegen einen Verfassungsschutzbeamten drei Monate lang vor dem Landtag geheim.

Quellenschutz vor Mordaufklärung also. Und ein Verfassungsschutz, der nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems ist.

Wenn Mauern gebaut werden, sieht man im besten Falle, wer sie baut. Andreas Temme steht für den hessischen Verfassungsschutz. Er ist nicht mehr bei ihm angestellt, aber der lässt ihn bis heute nicht fallen, aller demonstrativ distanzierenden Rhetorik zum Trotz. Vielleicht, weil er dann selbst fallen könnte. Ein amtsinternes Disziplinarverfahren gegen Temme, auch das ergab sich im Untersuchungsausschuss, wurde nie ernsthaft betrieben, sondern lediglich pro forma angelegt.

Neben fünf Quellen im Bereich Islamismus führte Temme eine im Bereich Rechtsextremismus: Benjamin G. mit Decknamen "Gemüse". Mit ihm telefonierte der Quellenführer am Tattag zweimal, kurz um die Mittagszeit wenige Sekunden und etwa eine dreiviertel Stunde vor der Tat über elf Minuten lang, Inhalt unbekannt.

Von den Treffs mit dem V-Mann G. im Jahre 2006, etwa zwei pro Monat, sollen keine Berichte existieren, heißt es. Nach Temmes Suspendierung arbeitete das Amt mit G. noch ein Jahr lang weiter, ehe er abgeschaltet wurde. Der Kontakt schien geblieben zu sein. Als Benjamin G. 2013 vor dem Gericht in München als Zeuge erscheinen musste, hatte er einen Rechtsbeistand dabei, der vom Verfassungsschutz bezahlt wurde.

V-Mann mit Kontakten nach Thüringen

Benjamin G. war seit 2001 V-Mann des LfV Hessen und gehörte einmal selber der rechten Szene von Kassel an. Wo genau er als Spitzel eingesetzt war, ist unklar.

G. hatte aber auch Kontakte nach Thüringen zum rechtsextremen Thüringer Heimatschutz (THS), zu dem Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe sowie die in München Angeklagten Ralf Wohlleben, Carsten Schultze und Holger Gerlach zählten. Der THS war unter starker Mitwirkung des Verfassungsschutzes geschaffen worden und von zahlreichen V-Leuten durchsetzt. An führender Stelle der V-Mann Tino Brandt, über den viel Geld des Verfassungsschutzes in das Netzwerk floss.

Hessen und Thüringen, Westdeutschland und Ostdeutschland - das Phänomen NSU führt in die jüngere deutsche Geschichte zurück. Nach der Wende in der DDR 1989 und der Auflösung der Staatssicherheit war der Osten zunächst ein Gebiet ohne Geheimdienst, eine Art Tabula rasa. Der bundesdeutsche Verfassungsschutz wurde in die neuen Länder verpflanzt, wo er Möglichkeiten vorfand, wie er sie im Westen so nicht mehr hatte. Der Thüringer Verfassungsschutz wurde vom hessischen aufgebaut. Das Führungspersonal im Landesamt in Erfurt kam überwiegend aus dem Westen.

Und so, wie es Verbindungen zwischen den Hauptamtlichen in Thüringen und Hessen gab, gab es sie auch zwischen ihren Informanten und deren Kameraden. Die Aufarbeitung in den letzten Jahren erbrachte viele Erkenntnisse über Verflechtungen zwischen Neonazis, Rockerbanden und kriminellen Milieus in ganz Deutschland. Auch Temme persönlich war Teil dieser Mischszene.

Neonazis, Rocker und organisierte Kriminalität

Reinhardshagen, ein Ort wenige Kilometer nördlich von Kassel, war Treffpunkt von Rockern und Neonazis, "Hells Angels"- und "Blood and Honour"-Mitgliedern. Dort soll auch Uwe Mundlos verkehrt haben. Das bezeugte ein Informant der Polizei, Volker B., und ist auch dem BKA bekannt. Kontakte zur "Hells Angels"-Gruppe unterhielt nicht nur Temmes V-Mann Benjamin G., sondern auch der V-Mann-Führer selber. In Reinhardshagen nahm Temme an Schießübungen einer Reservistenkameradschaft teil. Auch Hinweise auf eine rechtsextreme Gesinnung fanden sich bei Temme, NS-Schriften etwa. Vom Geist, der im Hause Temme geherrscht haben muss, konnte man sich im Sitzungssaal in München überzeugen, als ein abgehörtes Telefonat vorgespielt wurde, in dem sich Temmes Ehefrau über "Dreckstürken" auslässt.

Spuren des NSU nach Kassel: 2006 soll Beate Zschäpe dort gesehen worden sein. In ihrer abgebrannten Wohnung in Zwickau fand sich ein Stadtplan von Kassel. Darauf waren verschiedene Objekte gekennzeichnet, die an den Fahrtstrecken Temmes zwischen seiner Wohnung und der Dienststelle lagen. Unter anderem gibt es eine Markierung zur Adresse Untere Königsstraße 81. Die Untere Königsstraße 80 war die Adresse einer konspirativen Wohnung Temmes, wo er unter seinem dienstlichen Decknamen "Alexander Thomsen" seine Informanten traf.

Gibt es auch eine Verbindung von Temme zum NSU-Trio? Diese Frage wurde in München von der Nebenklage an Zschäpe gerichtet. Sie hat sie nicht beantwortet. Und Richter Manfred Götzl hat sie sich nicht zu eigen gemacht.

Vor 2011 keine zentralen Ermittlungen

Wenn man die Taten von Dortmund und Kassel am 4. und 6. April 2006 als Doppelmord betrachtet, muss man nicht nur mögliche Verbindungen des NSU-Trios in beiden Städten untersuchen, sondern auch die Verbindungen zwischen den Neonazi-Szenen beider Städte untersuchen. Eine bestand zum Beispiel durch die rechtsradikale Band "Oidoxie" und deren Schutztruppe, zu der wiederum auch der V-Mann Sebastian S. aus Nordrhein Westfalen gehörte.

Doch trotz der zwei Morde unmittelbar hintereinander und obwohl inzwischen neun Migranten mit ein und derselben Waffe erschossen worden waren, lehnte es die Bundesanwaltschaft ab, die Ermittlungen zu übernehmen. Sie schloss rechtsextreme und fremdenfeindliche Tatmotive aus und sprach von einem privaten Rachefeldzug eines Einzeltäters.

Vor 2011 gab es keine zentralen bundesweiten Ermittlungen. Es existierte lediglich eine sogenannte Lenkungsgruppe unter Leitung der Mordkommission von Nürnberg, mit der sich die Ceska-Mordkommissionen austauschten. Sie hatte nicht die Qualität, die zentralisierte BKA-Ermittlungen gehabt hätten. Das BKA selber führte nur eine kleine Ermittlungsgruppe. Insgesamt Mordermittlungen, die nicht alle Ressourcen ausschöpften und mit angezogener Handbremse betrieben wurden.

So unterblieb auch eine intensive Kooperation zwischen der Dortmunder und der Kasseler Kriminalpolizei, obwohl die nahelag, weil es sich um dieselben Täter handeln musste. Konsequenterweise hätten die Fahnder allerdings sämtliche Ceska-Morde hinzuziehen müssen. Mordkommissionen aus sechs Städten hätten zusammenarbeiten müssen. Das wäre auf eine Art paralleles Bundeskriminalamt hinausgelaufen. Strukturell absurd und vor allem politisch nicht gewollt. Die lokalen Kriminalpolizeien konnten nicht lösen, was Bundesanwaltschaft und BKA nicht lösen wollten. Hinzu kam, dass seit Kassel mit dem Auftauchen des Verfassungsschutzes die Mordserie kein normaler Kriminalfall mehr war und von den örtlichen Mordkommissionen nicht mehr beherrschbar.

Erst nach dem Auffliegen des Terrortrios im November 2011 zog die Karlsruher Strafverfolgungsbehörde das Verfahren an sich.

Unterdrückte und geschwärzte Akten

Die Ermittlungsunterlagen im Fall Temme befinden sich heute in Karlsruhe. Die Anklagebehörde behauptet, darin gäbe es keine Anhaltspunkte für eine Tatbeteiligung oder Hintergründe der Tat. Opferanwälte müssen zum Dienstsitz des Generalbundesanwaltes fahren, um die Akten einsehen zu können. Sie bekommen keine Kopien, sondern dürfen sich lediglich Notizen machen, manchmal nicht mal das. Obendrein existieren umfangreiche Schwärzungen in den Unterlagen, ganze Blätter wurden entfernt. Selbst ein als Zeuge gehörter BKA-Beamter musste dem Gericht eingestehen, dass er nicht sagen kann, ob die Akten vollständig sind.

Im Juli 2016 beendete der Vorsitzende Richter am OLG in München, Manfred Götzl, das Thema Temme für sich und die Hauptverhandlung endgültig. Sechs Mal hatte der als Zeuge erscheinen müssen. Nun befand Götzl: Dessen Einlassungen, er sei nur zufällig und aus privaten Gründen an dem Tatort Internetcafé gewesen, habe vom Mord nichts mitbekommen und auch den Toten beim Gehen nicht liegen sehen, seien glaubhaft und plausibel. Temme sei unschuldig, eine weitere Beweiserhebung überflüssig. Dieses Urteil ist zwar mutwillig, aber konsequent. Schon die Temme-Akten wollte der Richter nicht beiziehen. Vielleicht war diese Aufgabe zu groß. Vielleicht folgte der Staatsschutzsenat aber auch nur der vermeintlichen Staatsräson.

"Aufklärung auf Jahre hinaus verhindert"

2014 wurde vor diesem Gericht der frühere LfV-Chef von Hessen, Lutz Irrgang, als Zeuge vernommen. Er verneinte eine Verwicklung des Amtes und seines Mitarbeiters Temme in den Mord, präsentierte aber eine bemerkenswerte Analyse: "Weil offenbar wurde, dass ein Verfassungsschützer am Tatort war, wird die Aufklärung sehr schwierig werden. Denn derjenige, der die Tat beging, musste sich neu positionieren."

Um Erläuterung gebeten, wie er das meine, führte Irrgang weiter aus: "Ich habe mir Gedanken gemacht, wie es auf den Täter wirkt, dass in unmittelbarer Nähe seiner Tat ein Verfassungsschützer war. Und habe mich gefragt: Was könnte das für die Aufklärung, wie auch für den Fortgang der Serie bedeuten? Meiner Meinung nach bedeutet es, dass die Aufklärung über Jahre nicht gelingen wird." Opferanwalt Alexander Kienzle fragte nach: "Durch die Anwesenheit von Herrn Temme am Tatort wurde die Aufklärung auf Jahre verhindert?" Und Irrgang konkretisierte: "Nein, dadurch, dass man das öffentlich gemacht hat."

Es ist, als stoße der ehemalige Geheimdienstchef eine Tür in unbekannte Sphären auf. Tatsächlich endete nach Kassel das Ermorden von Migranten mit der Ceska-Pistole. Weil sich die Täter neu positionieren mussten? War der Verfassungsschützer am Tatort ein Zeichen dafür, dass ihnen die Sicherheitsbehörden nahe gekommen waren? Das hieße, der Verfassungsschutz wäre doch nicht so ahnungslos gewesen, wie behauptet. Oder verhielt es sich umgekehrt: Waren mit der Enttarnung Temmes Schutzmächte fragwürdig geworden?

Doch der größte Widerspruch ist: Wenn nun nichts mehr so war, wie bisher, warum wagen die Täter nur ein Jahr später noch Gefährlicheres? Nämlich, am helllichten Tag auf einem belebten Platz zwei Polizeibeamte, Repräsentanten des Staates, zu erschießen? Oder waren in Heilbronn andere Täter am Werk, zumal andere Waffen verwendet wurden?

Wer alles zur Tätergruppierung NSU gehörte und welche Rolle das Kerntrio genau spielte, ist nicht aufgeklärt.

In Teil 4 der NSU-Serie: Die Raubüberfälle.