Ein deutsch-französisches Europa?
Kann die reanimierte Achse Berlin-Paris die Zentrifugalkräfte in der EU in Schach halten?
Für die Kameras inszenierte man auf dem vergangenen EU-Gipfel in Brüssel noch einmal die ganz große paneuropäische Harmonieshow; überquellend mit dem alten Europa-Pathos, das im Verlauf der Eurokrise mit ihren eskalierenden nationalen Konflikten fast in Vergessenheit geriet.Eine "Allianz des Vertrauens" soll zwischen Deutschland und Frankreich errichtet werden deren Staats- und Regierungschefs sich beim letzten EU-Gipfel vor der Sommerpause in demonstrativer Harmonie übten.
Merkel und Macron beschworen auf einer gemeinsamen Pressekonferenz die alte "deutsch-französische Achse" als künftigen Motor europäischer Entwicklung - damit endlich "alles wieder gut" werde (Spiegel-Online).
Kanzlerin Merkel und ihr neuer Juniorpartner aus Paris, der frischgewählte Emmanuel Macron, sollen es also richten und die vom drohenden Brexit gezeichnete EU in eine neue, strahlende Zukunft führen. Die reanimierte Achse Berlin-Paris soll die Erosionsprozesse in der EU revidieren, damit Europa gestärkt aus der Krise hervorgehe. Dabei ist nicht alles Schall und Rauch bei dieser anachronischen Inszenierung europäischer Harmonie. Es gibt partielle Interessensübereinstimmungen zwischen Paris und Berlin, die auf einigen Politikfeldern eine stärkere Kooperation beider Länder wieder wahrscheinlich machen.
Schließlich können Berlin und Paris ihre jeweiligen Interessen besser im Tandem durchsetzen, solange es partielle Übereinstimmungen gibt. "Der deutsch-französische Motor läuft zu gut, es ist nicht immer im besten Interesse der EU", bemerkte ein osteuropäischer Diplomat gegenüber Reuters, "Wir hoffen, sie können ihr Tempo kontrollieren." Vor allem bei den anstehenden Brexit-Verhandlungen dürfte diese Allianz "für Unbehagen" bei Funktionsträgern in London und Washington sorgen, so die Nachrichtenagentur.
Angst vor den Folgen eines Zerfalls der EU
Das Duo Merkel-Macron wird überdies von einer negativen Motivation angetrieben, die auf einer grundlegenden, quasi systemischen Ebene wirkt: Es ist schlicht die Angst vor den Folgen eines Zerfalls der EU, die selbst für das ökonomisch immer stärker dominierende Deutschland kaum absehbar wären. In allen machtpolitisch tonangebenden Staaten in der EU sind somit Kräfte dominant, die Mittel und Wege suchen, die eigenen Interessen möglichst noch im Rahmen der erodierenden EU zu realisieren, da niemand den ungewissen Schritt über den Abgrund wagen will, den die Briten genommen haben.
Gerade die sich überdeutlich abzeichnenden Nachteile, die Großbritannien aus dem Brexit erwachsen, bestärken die Haltung in vielen Eurostaaten, an der erodierenden EU allen Krisentendenzen zum Trotz festzuhalten. Großbritannien scheint als ein abschreckendes Beispiel zu fungieren.
Die Beute des Brexit
Und es ist gerade die Aufteilung der "Beute" des Brexit, die eine weitere, punktuelle Annäherung zwischen Paris und Berlin - zumindest kurzfristig - ermöglicht. Aus Großbritannien werden nun etliche Institutionen der EU mitsamt ihren Arbeitsplätzen abgezogen, um die sich nun die verbliebenen EU-Staaten streiten.
Es gibt also etwas aufzuteilen. Allein die European Banking Authority (EBA) und die European Medicines Agency (EMA), beide bislang in London ansässig, beschäftigen rund 1.000 Menschen. Bis zum Herbst soll die Entscheidung über die künftigen Standort dieser EU-Agenturen fallen, die in einer Art Abstimmungsmarathon gefällt werden soll.
Es werde "ein aufregendes Rennen", witzelte der österreichische Kanzler laut Reuters, "wir wissen aus dem Eurovision Song Contest, wie das funktioniert". Zuvor mussten Berlin und Paris einen Bericht der Wirtschaftswoche dementieren, wonach die Standorte für diese Agenturen bereits zwischen der "Allianz des Vertrauens" ausgehandelt wurden: in Frankfurt solle die EBA, in Lille die EMA angesiedelt werden.
Einige Gemeinsamkeiten zwischen Berlin und Paris gibt es auch bei der angestrebten Militarisierung der EU. Beide Länder hoffen, eventuelle militärische Abenteuer, mit denen nationale Interessen realisiert würden, künftig kostengünstig mittels einer neuen europäischen Militärinfrastruktur absolvieren zu können. Doch auch hierbei - beim "Outsourcing" militärischer Risiken - ist Deutschland weiter vorangeschritten, als der Streit um den angeblich "zu niedrigen" Verteidigungshaushalt erscheinen lässt.
Eine europäische Armee unter deutschem Kommando?
Deutschland baue "leise eine europäische Armee unter seinem Kommando" auf, warnte das US-amerikanische Nachrichtenportal Foreign Policy Ende Mai. Berlin sei bemüht, "Brigaden aus kleineren Staaten in die Bundeswehr zu integrieren".
Tschechien und Rumänien hätten - jenseits jeglicher Schlagzeilen - jeweils eine Brigade unter das Kommando der Interventionsstreitkräfte der Bundeswehr (Rapid Response Forces Division) gestellt, nachdem bereits zwei niederländische Brigaden integriert worden seien. Diese "kleinen Initiativen", die künftig ausgeweitet werden sollen, zeugten von der Bereitschaft der Bundesregierung, "die militärische Integration Europas" zu forcieren - auch wenn andere Eurostaaten dazu noch nicht bereit seien, kommentierte Foreign Policy.
Und tatsächlich: Angesichts des Brexit sollten nun auch "Deutschland und Frankreich zum Motor der europäischen Verteidigungsunion" aufsteigen, betonte Verteidigungsministern von der Leyen anlässlich der Gründung des deutsch-französischen Verteidigungsfonds. Aus dem Fonds sollen gemeinsame militärische Forschungsvorhaben - etwa bei der Entwicklung neuer Drohnensysteme - finanziert werden.
Zudem wollen Berlin und Paris bei der "Stabilisierung" der Sahel-Zone stärker kooperieren, um so die Flüchtlingsabwehr der EU zu perfektionieren. Schließlich kamen Berlin und Paris überein, Airbus mit rund 370 Millionen Euro zu subventionieren, da der europäische Konzern sich bei der Entwicklung eines neuen "schweren Hubschraubers" übernommen hatte.
Fundamentale Gegensätze in der Eurozone
Diese punktuelle Annäherung kann aber die fundamentalen Gegensätze in der Eurozone, die maßgeblich die nationalistischen Zentrifugalkräfte in ihr antreiben, nicht überbrücken. Die gegebenen ökonomischen Ungleichgewichte, die den Staatenbund zu sprengen drohen lassen sich nur oberflächlich mit europäischen Pathos übertünchen.
Schon bei der Flüchtlingsfrage brachen die Gegensätze auf dem Brüssler "Harmoniegipfel" weithin sichtbar auf: Die mittelosteuropäischen EU-Länder, allen voran die von Rechtspopulisten regierten Staaten Ungarn und Polen, weigerten sich weiterhin, im nennenswerten Ausmaß an den europäischen Umverteilungsmechanismen für Flüchtlinge zu partizipieren.
Zudem kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen dem französischen Präsidenten Macron und Vertretern der sogenannten Visegrad-Länder (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn), die sich nicht nur um die europaweite Verteilung von Flüchtlingen, sondern auch um die Streitfrage des europäischen Sozialdumpings entzündeten.
Es ging bei den stürmischen Konsultationen um die sogenannte EU-Entsenderichtlinie für Arbeitnehmer, mit der das große soziale und wirtschaftliche Gefälle in der EU ausgenutzt wird, um vor allem osteuropäische Scheinselbständige in Westeuropa zu osteuropäischen Löhnen arbeiten zu lassen.
Der zentrale machtpolitische Gegensatz der EU, der aus den extremen ökonomischen Ungleichgewichten in dem Währungsraum resultiert, wurde aber im offiziellen Programm des Brüsseler Gipfels ausgeklammert. Im Zentrum der binneneuropäischen Spannungen - auch gerade zwischen Berlin und Paris - steht die wirtschaftspolitische Ausrichtung der Währungsunion.
Politischer Umbau notwendig
Paris muss nach den Bundestagswahlen darauf drängen, einen politischen Umbau in der EU zu initiieren, der die extremen deutschen Handelsüberschüsse abbaut, die den Währungsraum destabilisieren.Die deutschen Handelsüberschüsse die auch Trumps Pöbeleien gegen diese Berliner Beggar-thy-Neighbor-Politik zugrunde lagen, entfalteten auch in Europa ihre verheerende sozioökonomische Wirkung.
Die Kehrseite der Exportüberschüsse der Bundesrepublik, die seit der Euroeinführung regelrecht explodierten, bildet die Deindustrialisierung und Verschuldung vieler EU-Staaten. Letztendlich ist es gerade diese Beggar-thy-Neighbor-Politik, auf der die derzeitige Dominanz der Bundesrepublik im Europäischen Währungsraum fußt. Die französische Diplomatie posaunt es nur nicht so offen in die Welt hinaus wie ein Donald Trump.
Letztendlich müsste Berlin dazu gebracht werden, entweder höhere Ausgaben/Investitionen zu tätigen, die Löhne spürbar anzuheben, und/oder Transfers auf europäischer Ebene zuzustimmen, mit denen die deutschen Handelsüberschüsse ausgeglichen werden könnten. Letztendlich - angesichts der tiefgreifenden Überproduktionskrise des spätkapitalistischen Weltsystems - können die Ungleichgewichte in der EU aber nur durch verstärkte Schuldenaufnahme in Deutschland abgebaut werden.
Die "schwarze Null" Schäubles ist ja nur aufgrund der starken Handelsüberschüsse der Bundesrepublik möglich, die ja einem Schuldenexport gleichkommen. Da dies vor der Bundestagswahl nicht thematisiert werden kann, wurden die entsprechenden Auseinandersetzungen auf den Herbst vertagt. Paris bemüht sich konkret, mittels einer umfassenden Initiative zur "Reform" und zur Vertiefung der EU, die Vorbedingungen zu einem solchen Abbau der europäischen Ungleichgewichte (also deutschen Handelsüberschüsse) zu schaffen.
Die deutsche Dominanz unterminieren
Neue Institutionen wie ein europäisches Finanzministerium und ein europäischer Haushalt, sollen dabei helfen, diese Grundlagen der deutschen Dominanz in Europa zu unterminieren. Deutschland soll hierdurch weiter europäisch eingebunden werden, um so die Dominanz Berlins in der EU zu mindern.
Der Aufbau einer gemeinsamen europäischer Wirtschafts- und Sozialpolitik stelle den einzigen Weg dar, um "mehr Konvergenz in der Eurozone" zu erreichen (also die Ungleichgewichte abzubauen), bekräftige Macron.
Ein "demokratisch kontrolliertes Euroministerium" solle die Akzeptanz der EU erhöhen. Paris hofft somit, durch eine stärkere europäische Integration, die eigenen nationalen Interessen realisieren zu können, die derzeit vor allem in der Durchsetzung einer europäischen Konvergenzpolitik bestehen.
Zuerst gab es rotes Licht hierzu aus Berlin, wo man die Grundlagen der machtpolitischen Dominanz Deutschlands in Europa möglichst lange aufrechterhalten will. Je mehr Schulden Deutschland ins Ausland exportieren kann, desto größer der ökonomische Abstand zwischen Berlin und Resteuropa - und desto größer die machtpolitischen Hebel, die Berlin beim alltäglichen Hauen und Stechen im "gemeinsamen europäischen Haus" zur Verfügung stehen. Schäubles Finanzministerium ließ durchblicken, dass diese französischen Initiativen keine Chancen auf Realisierung hätten.
Kurz vor dem Gipfel folgte dann die scheinbare Kehrtwende Berlins. Vor Vertretern des BDI äußerte die Kanzlerin, dass sie bereit sei, auf einige der Vorschläge Frankreichs - unter gewissen Bedingungen - einzugehen. Dies erklärt auch die scheinbare Harmonie, in der der jüngste EU-Gipfel stattfinden konnte.
Deutsche Bedingungen
Man könne sich einen europäischen Finanzminister unter gewissen Bedingungen durchaus vorstellen, doch seien tiefgreifende Veränderungen der EU nur dann sinnvoll, wenn sie deren Prosperität erhöhten. Zudem schloss Merkel abermals kategorisch jedwede Haftung europäischer Institutionen für die Schulden der Eurostaaten aus, die Deutschlands Exportindustrie alltäglich produziert.
Der Deal zwischen Berlin und Paris zeichnet sich somit klar ab: Eine weitere Integration der EU, samt Euro-Finanzminister und Eurohaushalt, ist nach den Wahlen möglich, solange die "Bedingungen" hierfür erfüllt werden. Damit meint man in Berlin die Durchsetzung neoliberaler Reformen in Frankreich, die im Rahmen der deutschen Spardiktate bereits viele Krisenländer verwüsteten.
Macron stehe vor der großen Herausforderung, seine Pläne zur Reform der französischen Wirtschaft durchzusetzen, bemerkte Reuters. Nur wenn er erfolgreich sei, "kann das gegenseitige Misstrauen zwischen Paris und Berlin beendet werden".
Die konkreten Erfahrungen mit "Reformen" im deutschen Europa verweisen somit auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Ein durch innenpolitische Auseinandersetzungen geschwächter Verhandlungspartner käme Berlin bei der konkreten Ausformung einer stärkeren europäischen Integration gerade recht. Denn die muss ja nicht zum Nachteil Merkels oder Schäubles ausfallen.
Bei der imperialen Konkurrenz Berlins jenseits des Atlantik spricht man diese Zusammenhänge, die auf dem Brüsseler Gipfel mit europäischen Pathos übertüncht werden, inzwischen klar aus (spätestens nach Merkels Bierzeltrede). Die angeblichen "Konzessionen" Merkels an den neugewählten französischen Präsidenten spiegelten nur die Strategie wieder, mit der Deutschland - unter dem "Europäer" Kohl übrigens - die Europäische Union in die deutsche Eurozone lockte, erläuterte das Wirtschaftsportal Marketwatch in einem Kommentar.
Man "weigere sich anfänglich, um dann endlich widerwillig nachzugeben, solange Deutschland die Bedingungen diktiert".
Die Regeln der neuen europäischen Institutionen würden von Deutschland gesetzt, "einem Land, dessen Finanzminister glaubt, ein ausgeglichener Haushalt oder ein Haushaltsüberschuss sei eine gute Sache, selbst wenn jedes andere EU-Land und die ganze Welt Berlin anbetteln, ein Defizit zu erlauben, um Wachstum zu stimulieren und die Arbeitslosigkeit" in der EU zu reduzieren.
Ohne eine echte politische Union, ohne ein echtes Europaparlament, würde eine europäische Finanzpolitik das Schicksal der europäischen Geldpolitik erleiden: "sie wird nur durch Deutschlands interne Interessen geformt".
Die Frage, ob die EU ein europäisches Deutschland eindämmen, oder ob sie zu einem Deutschen Europa verkomme, "ist schon lange beantwortet worden", resümierte Market Watch. "Ein gemeinsamer Haushalt und ein Finanzminister würden nur den nächsten Schritt darstellen." Macron hege eindeutig die Ambitionen, die Ungleichgewichte in der Eurozone zu korrigieren, doch werde es für Merkel ein Leichtes sein, ihn auszuspielen.