Der Aufstieg des deutschen Europa

Seite 3: Deutschlands Exportdampfwalze

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Die Bundesrepublik verfügte 2010 neben den größten Billiglohnsektor Westeuropas auch über ein riesiges Heer an Zeitarbeitskräften: Rund eine Million Lohnabhängige müssen inzwischen in Deutschland als Leiharbeiter über die Runden kommen. Vermittels der Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln und der Drohung mit Leistungsentzug konnten die Arbeitsagenturen diesen extrem ausbeuterischen Niedriglohnsektor genügend Menschenmaterial zuführen, das dort bis zur totalen Erschöpfung verheizt wird.

Denn wir wissen nun: Wer nicht bis zum Umfallen arbeitet und sich wie eine Zitrone von skrupellosen Menschenschindern auspressen lässt, der soll auch nicht essen. Und selbstverständlich schlugen sich diese Maßnahmen auch in einem gigantischen Lohnkahlschlag in der Bundesrepublik nieder, wie die folgende Grafik eindeutig belegt.

Lohnniveau BRD

#Der preisbereinigte durchschnittliche Nettolohn sank dank Hartz IV von rund 1.540 Euro Anfang 2004 auf rund 1.430 Euro im ersten Quartal 2009. Folglich lag trotz kurzer Aufschwungphasen in der angeblich boomenden Deutschland AG der Durchschnittslohn im zweiten Quartal 2013 um 1,16 Prozent unter dem Wert vom ersten Quartal 1991.

Fazit: In diesem Jahrhundert haben Deutschlands Lohnabhängige im Endeffekt einen realen Einkommensschwund hinnehmen müssen. Bezeichnend ist auch, dass das Lohnniveau in der angeblich "boomenden" Bundesrepublik seit dem kurzen Anstieg in 2009/2010 erneut stagniert.

Lohnstückkosten in internationalen Vergleich

Und selbstverständlich hat gerade diese Strategie des Lohnkahlschlags, der Entrechtung und der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen massiv zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Exportindustrie beigetragen, wie die obige Grafik, die die Entwicklung der Lohnstückkosten im europäischen Vergleich darstellt, eindeutig belegt. Die Lohnstückkosten geben den Anteil der Löhne an den Kosten einer Ware wieder.

Das mittels Hartz IV durchgesetzte Lohndumping spiegelt sich somit sehr wohl in dem betriebswirtschaftlichen Kalkül der deutschen Wirtschaft wieder, die im Vergleich zur europäischen und auch internationalen Konkurrenz eine sehr vorteilhafte Kostenentwicklung erfahren konnte. Entscheidend ist hier die Zeitspanne zwischen der Einführung des Euro als Buchgeld und dem Ausbruch der Eurokrise. Deutschland bildet hier - und zwar mit weitem Abstand - das europäische Schlusslicht.

Die Lohnstückkosten stiegen in der Bundesrepublik nur um rund ein Drittel dessen, das in den Ländern mit dem zweit- und drittschwächsten Lohnstückkostenanstieg, Österreich und Schweden, verzeichnet wurde. In den Niederlanden, Frankreich, Belgien oder Irland stiegen die Lohnstückkosten um rund das Fünffache in dem besagten, entscheidenden Zeitraum.

Konsum und Exporte BRD

Die sich aus dieser Politik ergebende massive Diskrepanz zwischen stagnierenden Binnenkonsum und explodierenden Exporten wird anhand dieser Grafik offensichtlich, die die prozentuale Veränderung des Exportvolumens und der Konsumausgaben der deutschen Privathaushalte bis zum dritten Quartal 2013 darstellt. Die Exzesse der einseitigen Ausrichtung der deutschen Wirtschaft auf die Erzielung möglichst hoher Exportüberschüsse sind absolut offensichtlich.

Wie unschwer zu erkennen ist, stagnieren die Konsumausgaben seit über einem Jahrzehnt. Der Exportmotor der deutschen Industrie läuft aber nach dem gewaltigen Kriseneinbruch in 2009 wieder auf Hochtouren. Das Exportvolumen der Industrie, rot eingezeichnet, lag im zweiten Quartal 2013 um 92 Prozent über dem Ausgangswert im Jahr 2000, der Binnenkonsum stieg nur um 9,04 Prozent an.

Nochmals: Deutschlands Exporterfolge sind in dieser exzessiven Dimension nicht auf die Überlegenheit der deutschen Industrie, sondern in erster Linie auf Lohnkahlschlag, gesteigerte Arbeitshetze (Die kränkelnde Arbeitsgesellschaft) und die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in der Bundesrepublik zurückzuführen.

Leistungsbilanz BRD gegenüber Ländern der Eurozone

Wohin ging all das Zeug, dass Deutschlands gehetzte und auf Hungerdiät gesetzte Lohnabhängige produzierten, ohne es selbst konsumieren zu können? Ein genauerer Blick auf Deutschlands Leistungsbilanz löst dieses Rätsel umgehend. Die nach der Euroeinführung einsetzenden deutschen Exportoffensiven konzentrierten sich bis zum offenen Krisenausbruch auf die Eurozone. An der obigen Grafik ist sehr gut erkennbar, dass die Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands gegenüber den Ländern der Eurozone erst seit Euroeinführung regelrecht explodieren.

Die Leistungsbilanz einer Volkswirtschaft stellt eine Art breit gefasster Handelsbilanz dar. Sie misst die Veränderung des Vermögens eines Landes gegenüber dem Rest der Welt. Dieses Vermögen ändert sich durch den Handel mit Waren und Dienstleistungen und durch sonstige Geldüberweisungen. Ein Exportüberschuss führt in der Regel (Ausnahme: Irland) auch zu einem Überschuss in der Leistungsbilanz und bedeutet einen Vermögenszuwachs eines Landes gegen den Rest der Welt.

Bei der Eurozone handelt es sich also längst um eine Transferunion - um eine Transferunion zugunsten der deutschen Exportwirtschaft. Die Deutsche Wirtschaft sanierte sich letztendlich auf Kosten der europäischen Konkurrenz, indem die deutschen Exportüberschüsse zu massiver Deindustrialisierung in der südlichen Peripherie Europas führten.

Die folgende aktuelle Grafik schlüsselt die Entwicklung der deutschen Leistungsbilanz gegenüber verschiedenen Weltregionen auf. Es ist absolut evident, dass die deutschen Handelsüberschüsse erst mit der Euroeinführung auch auf globaler Ebene rasch anstiegen, wobei wiederum der Anstieg der Ausfuhren in die Eurozone bis zum Ausbruch der Krise 2007/2008 mit weitem Abstand am stärksten ausfiel. Nach dem Kriseneinbruch sinken die Ausfuhren in die Eurozone beständig, doch werden diese Einbrüche durch den steilen Exportanstieg in den angelsächsischen Raum und nach Südostasien sowie die Schwellenländer überkompensiert.

Leistungsbilanz BRD gegenüber verschiedenen Regionen der Welt

Entscheidend ist hier aber die langfristige Entwicklung der Leistungsbilanz gegenüber der Südperipherie der Eurozone. Diese verlief langfristig ausgeglichen bis 2003 leicht negativ für Deutschland, worin sich ja die Geldüberweisungen südeuropäischer Arbeitsmigranten in ihre Heimatländer spiegeln. Nochmals: Die südeuropäischen Länder bildeten bis zur Euroeinführung keine Handelsungleichgewichte mit der BRD aus, dieser Prozess setzte erst mit der Euroeinführung ein.

Zudem fällt hier sofort auf, dass es sich bei den exzessiven deutschen Leistungsbilanzüberschüssen (blauer Graf) um eine historisch relativ neuartige Entwicklung handelt. Die hierzulande gern gepflegte Mär, wonach der geniale deutsche Erfindergeist der Bundesrepublik schon immer Exportüberschüsse verschafft habe - es sich hierbei also um eine historische Konstante handele - ist somit empirisch widerlegt. Im Gegenteil: In den gesamten 1990ern wies die Bundesrepublik eine negative Leistungsbilanz auf. Beim Kapitalismus handelt es sich nicht um eine ahistorische Wiederkehr des Immergleichen - auch wenn es uns die Kulturindustrie permanent einzubläuen versucht - sondern konkrete historische Dynamik, die durch eskalierende innere Widersprüche angetrieben wird.

Interessant ist in diesem Zusammenhang der kurzfristige Anstieg der Leistungsbilanz Ende der 1980er Jahre gegenüber den - künftigen - Eurostaaten und den USA. Hierin spiegelt sich der kreditfinanzierte Kriegskeynesianismus der Reagan-Adminstration, mit dem die Sowjetunion totgerüstet wurde, wie auch die frühen Versuche der Europäer, feste Wechselkurse einzuführen.

Im Rahmen des Europäischen Währungssystems(EWS) wurden ab Anfang der 1980er Jahre sehr enge Grenzen für Wechselkursfluktuationen zwischen den europäischen Währungen vereinbart, was erst die deutschen Exportüberschüsse in diesem Zeitraum ermöglichte. Und es waren gerade diese - rückblickend betrachtet noch relativ harmlosen - Ungleichgewichte, die zum Zusammenbruch des EWS führten, der die Wechselkurse im Endeffekt wieder freigeben musste, nachdem spekulative Angriffe auf die britische Währung ihr Ausscheiden erzwangen.

Deswegen erholen sich Deutschlands Exportüberschüsse auch nach dem ökonomischen Abschluss der Wiedervereinigung in den 1990ern nicht mehr - bis zu Einführung des Euro. Rückblickend betrachtet bildete diese wirtschaftshistorische Episode im Rahmen des EWS also ein Vorspiel auf die gegenwärtige Tragödie im Rahmen des Euro, die ja im Gegensatz zu den 1980er noch mittels der oben dargelegten gezielten Politik der aggressiven Exportausrichtung von den deutschen Funktionseliten gezielt forciert wurde.

Deutschlands kumulierte Leistungsbilanz mit diversen Weltregionen

Dieser historisch relativ junge, exzessive Prozess außenwirtschaftlicher Orientierung der BRD, die ja gerade auf die Erzielung möglichst hoher Handelsüberschüsse ausgerichtet wurde, lässt sich auch an dieser Grafik nochmals eindeutig ablesen, die die kumulierte Leistungsbilanz Deutschlands darstellt. Die negative Leistungsbilanz der Bundesrepublik gegenüber der Südperipherie bis 2002 (dunkles Blau) ist eindeutig erkennbar.

Das Ganze lässt sich auch in Zahlen fassen: In der Zeitspanne zwischen Euroeinführung und dem vierten Quartal 2013 erreichte Deutschland gegenüber den südeuropäischen Krisenstaaten einen kumulierten Leistungsbilanzüberschuss von 429,5 Milliarden Euro. Wie gesagt, bis zur Einführung des Euro kamen die südeuropäischen Länder, die ja laut deutscher Stammtischmeinung ohne deutsche Produkte nicht überleben könnten, ganz ohne Leistungsbilanzdefizite gegenüber der BRD aus.

Insgesamt erzielte die BRD seit 1971 gegenüber der restlichen Welt einen kumulierten Leistungsbilanzüberschuss von 1729,2 Milliarden Euro, wobei rund vier Fünftel dieser absurd anmutenden Summe erst nach der Einführung des Euro akkumuliert wurden.

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