Der Aufstieg des deutschen Europa

Seite 4: Deutschland vs Mathematik: Export und Schulden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

An dieser Stelle muss eine mathematisch-logische Selbstverständlichkeit erläutert werden, die im deutschen Krisendiskurs hartnäckig ignoriert wird. Problematisch sind natürlich nicht die Gesamtausfuhren, sondern gerade die Exportüberschüsse. Diese deutschen Exporterfolge sind nur deswegen möglich, weil sich die Zielländer dieser Exportoffensiven verschuldeten. Ein Leistungsbilanzüberschuss der BRD von 429,5 Milliarden Euro gegenüber der südlichen Peripherie der Eurozone bedeutet nun mal auch, dass dies einem korrespondierenden Schuldenberg in eben dieser Höhe in den betroffenen Ländern entspricht. So will es nun mal die Mathematik.

Auf globaler Ebene handelt es sich nämlich schlicht um ein Nullsummenspiel: Werden weltweit alle Exportüberschüsse und Handelsdefizite miteinander verrechnet, dann ergibt dies immer genau Null Euro. Eine einzelne Volkswirtschaft kann somit nur dann Exportüberschüsse erwirtschaften, wenn andere Länder Defizite verzeichnen. Deshalb gilt immer: Deutschland Exportindustrie konnte nur deswegen so erfolgreich sein, weil sich die Zielländer dieser deutschen Exporte verschuldeten. Dies ist eine logisch-arithmetische Gesetzmäßigkeit, die selbst die abenteuerlichsten ideologischen Konstrukte deutscher Politiker und "Ökonomen" nicht hinwegwischen können.

Und das ist der springende, absurde Punkt an der deutschen Wirtschaftspolitik: Das exportfixierte deutsche Wirtschaftsmodell beruht letztendlich auf der Auftürmung eben jener Auslandsschulden, die im deutschen Krisendiskurs so vehement verteufelt werden. Mit den Handelsüberschüssen werden auch Arbeitslosigkeit und Schulden exportiert. Die Waren, die in der BRD im Rahmen der Handelsüberschüsse produziert werden und hier "Arbeitsplätze sichern", führen zum Niedergang der Industrien in den Zielländern dieser Exportoffensiven - und zum Anstieg der dortigen Arbeitslosenquote. Zugespitzt könnte mensch formulieren, dass es gerade die dargelegte deutsche Strategie der totalen Exportausrichtung war, die Europas südliche Peripherie in die gegenwärtige Krise trieb.

Bruttowertschöpfung spanische Industrie im Verhältnis zum BIP

Offensichtlich ist dieser Zusammenhang zwischen am Anstieg der deutschen Exporte nach Südeuropa und der dort einsetzenden Deindustrialisierung am Beispiel Spaniens. Die obige Grafik belegt eindeutig, wie der Anteil der Bruttowertschöpfung der spanischen Industrie am dortigen BIP ab 2001/2002 rasch abnimmt, um mit dem offenen Ausbruch der Krise nochmals kräftig einzubrechen.

PKW Produktion in Italien

Dem mit der Euroeinführung einsetzenden Zusammenbruch der italienischen Autoindustrie belegt die folgende Grafik. Offensichtlich macht der Euro die Produktion von PKW in Italien nahezu unmöglich, sodass die ohnehin kriselnde italienische Fahrzeugbranche die Fertigung ihrer Produkte südlich der Alpen weitgehend einstellen musste. Das Produktionsniveau ist inzwischen auf den Stand der frühen 1950er Jahre gefallen.

Dieser aggressive wirtschaftspolitische Kurs Berlins stellt keinesfalls ein neuartiges wirtschaftliches Phänomen dar. Die Militärdespotien der frühen Neuzeit praktizierten ebenfalls diese nachträglich als Merkantilismus bezeichnete Wirtschaftspolitik, bei der die Handelsüberschüsse gegenüber konkurrierenden Ländern zur Sanierung der durch gigantische Militärausgaben überbeanspruchten Staatshaushalte beitragen sollten. Die Wirtschaftspolitik fungierte damals sozusagen als die Fortsetzung des Krieges mit ökonomischen Mitteln. Heute dient sie Berlin als eine Substitution des Krieges.

Eine ähnliche exportfixierte Politik, die mit massivem Protektionismus einherging, verfolgten die meisten Industriestaaten während der großen Depression der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Hierfür etablierte sich der Begriff "Beggar-thy-neighbour" (Wörtlich; "Schnorre bei deinem Nachbarn". Sinngemäß übersetzt: "Ruiniere deinen Nachbarn") im angelsächsischen Sprachraum während der großen Weltwirtschaftskrise. Er bezeichnet eine aggressive Wirtschaftspolitik, die darauf abzielt, vermittels Handelsüberschüssen die Krisenfolgen auf andere Länder abzuwälzen.

Die europäischen Deindustrialisierungstendenzen stellen somit die logische Kehrseite des durch massive Exportüberschüsse erzeugten, deutschen "Aufschwungs" dar. Nochmals: Ohne diese Exportüberschüsse würde auch die Illusion einer funktionsfähigen kapitalistischen Arbeitsgesellschaft in der BRD verschwinden, die nun nahezu alle deutschen Politiker zu ihrer oberlehrerhaften Arroganz gegenüber den Rest der Eurozone ermuntert.

Damit gewinnt auch die deutsche Krisenideologie eine geradezu beängstigende Absurdität: Mittels der hartnäckigen Ausblendung grundlegender logischer Tatsachen, wie eben der Kausalität von Exportüberschüssen und den korrespondierenden Defiziten, soll die Eurozone nach deutschem Vorbild mittels des europaweiten Spardiktats auf totale Exportausrichtung umgestellt werden. Damit begeben sich Deutschlands Funktionseliten aus dem obig geschilderten Gründen in einen irren Kampf gegen die Mathematik.

Deutschlands Exporterfolge konnten ja nur deswegen realisiert werden, weil andere Länder eben diese Strategie nicht verfolgten - der Kapitalismus kann ja seine Exportüberschüsse nicht auf den Mond verfrachten. Letztendlich kann das deutsche Spardiktat die europäischen Krisenländer nur ins Elend und in den ökonomischen Zusammenbruch treiben.

Dieser deutsche Neo-Merkantilismus, der mit einer rabiaten autoritären Mobilisierung einherging, (vgl. Happy Birthday, Schweinesystem!) ist in dieser extremen Dimension erst durch den Euro ermöglich worden. Generell ist der Euro in Deutschland massiv unterbewertet, in Südeuropa hingegen überbewertet. Dies erleichtert deutsche Ausfuhren und verhindert eine Exportkonjunktur in Südeuropa.

Da der Euro zudem - nicht zuletzt dank der deutschen Krisenpolitik in der Eurozone - immer wieder von Krisenschüben heimgesucht wird, verliert dieser Gegenüber den meisten anderen Währungen immer weider rapide an Wert, wodurch auch deutsche Waren in anderen Weltregionen günstiger wurden. Hieraus erklärt sich die Tatsache, dass deutsche Exportüberschüsse ab 2009 vor allem außerhalb der Eurozone besonders stark zulegen konnten.

Doch vor allem gilt: Die ökonomisch der BRD unterlegenen Volkswirtschaften können seit der Einführung des Euro nicht mehr mit Währungsabwertungen auf die Exportoffensiven des deutschen Kapitals reagieren. Hierdurch würden die südeuropäischen Waren verbilligt und wieder konkurrenzfähig. Historisch betrachtet hat ja insbesondere die italienische Lira sehr oft gegenüber der Deutschen Mark an Wert verloren, um hierdurch zumindest ein Mindestmaß an Wettbewerbsfähigkeit zu behalten.

Da dieser Ausweg den Ländern Südeuropas durch den Euro genommen wurde, mussten die rasch anschwellenden Exportüberschusse Deutschlands durch Schuldenaufnahme beglichen werden. Wie an der Episode um den EWS erkennbar, hätte die avancierte deutsche Industrie ohnehin Exportüberschüsse gegenüber dem Rest der Eurozone erwirtschaftet, doch wurden die Ungleichgewichte durch die besagten Politik Berlins ja bewusst eskaliert. Zugleich wurden in der EU bewusst keine sozialen, arbeitsrechtlichen oder steuerpolitischen Mindeststandards eingeführt, was zu dem uns allen bekannten, europaweiten Wettlauf-Nach-Unten in diesen Bereichen führte.

Durch das Fehlen jeglicher europaweiten rechtlichen Regelung bei der Ausbeutung von Lohnabhängigen und beim Steuerdumping - die eigentlich jeden Währungsraum charakterisieren und zu den Aufgaben des Staates als "ideellen Gesamtkapitalisten" (Marx) zählen - konnte sich die deutsche Strategie der extremen Ausbeutung der Ware Arbeitskraft in einer der produktivsten europäischen Industrien erst voll entfalten.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.