Der Aufstieg des deutschen Europa

Seite 5: "Beggar-thy-neighbour"-Politik und europäische Integration

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Hier lohnt ein kurzer Blick zurück auf die Entstehungsgeschichte des Euro, die ja von massiven Auseinandersetzungen um den Charakter dieser Einheitswährung geprägt war. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hat seinen langjährigen Theo Waigel gerade deswegen ins Amt berufen, weil er "einen durchsetzungsfähigen Finanzminister brauchte", so erinnerte sich der Tagesspiegel, "nicht nur mit Blick auf den Bundesetat, sondern wegen Europa und der geplanten Einheitswährung und der sich nun schon abzeichnenden deutschen Einheit".

Und Theo Waigel setzte sich durch - der Euro wurde zu einem strikt neoliberalen Projekt, das eigentlich nur den monetären Rahmen für den von sozialen Mindeststandards nahezu unbehelligten Konkurrenzkampf der einzelnen, daran beteiligten Nationalökonomien lieferte. Der Verzicht auf jegliche sozialen Grundlagen der neuen Währung und die restriktiven Maastricht-Kriterien, die durch Waigel durchgesetzt wurdenn führten dazu, dass den deutschen Exportoffensiven sichtlich keine rechtlich-institutionellen Grenzen gesetzt werden konnten.

Letztendlich bildete dieses Rahmenwerk des Euro die Vollendung der dominanten neoliberalen Ideologie: Konkurrenz ohne Grenzen. Die Parteistiftung der CDU, die Konrad Adenauer Stiftung (KAS), berichtete im April 2013 über eine Veranstaltung mit dem als "Mr. Euro" titulierten Theo Weigel, der den Zuhörern einige hierzulande gern ignorierte Fakten über den Euro vermittelte:

"7 % Überschuss im Außenhandel" - "mit China zusammen die stärkste Exportnation der Welt" - "einen europäischen Binnenmarkt" - Dr. Waigel ist sich sicher, dass es diese Errungenschaften ohne die damalige Einführung des Euros heute in dieser Form nicht geben würde. Gesprochen werde über diese positiven Dinge derzeit allerdings viel zu selten, denn diese werden "von der ständigen Diskussion um die Krise überlagert." Obgleich der Referent zu Zeiten "der stärksten DM aller Zeiten" (1995) Finanzminister war, so geht Dr. Waigel fest davon aus, dass ein Austritt aus der Währungsunion für Deutschland einen Wachstumsverlust von 15% ausmache. Kurzum: "Wir profitieren wie kein anderes Land von der gemeinsamen Währung!"

KAS

Diesen Tatsachen ist kaum etwas hinzuzufügen, außer dem Umstand, dass mit "Wir" kaum die vielen Lohnabhängigen in Europas größten Niedriglohnsektor gemeint sein können. Fassen wir nun die obig dargelegten, mit empirischen Material reichlich unterlegten Fakten zusammen: Der europäische Währungsraum war bis zum Krisenausbruch charakterisiert durch den Exportüberschussweltmeister Deutschland (Der Exportüberschussweltmeister) im Zentrum und die Defizitkonjunkturen Südeuropas in der Peripherie, die durch stetige Verschuldung die Exportüberschusse Deutschlands aufnahmen.

Die Bundesrepublik praktizierte eindeutig eine Beggar-thy-neighbour-Politik, eine Art spätkapitalistischer Plünderungswirtschaft, mit der die eigene industrielle Basis vermittels Exportüberschüssen - und durch die daraus logisch folgende Verschuldung und Deindustrialisierung der europäischen Konkurrenz - saniert wurde.

Dennoch wurden bis zum Krisenausbruch diese Ungleichgewichte in der Eurozone selbst in Südeuropa kaum öffentlich diskutiert. Viele der derzeitigen Schuldenländer wähnten sich vor Krisenaufbruch auf der wirtschaftlichen Überholspur. Solange diese Schuldenblasen in Südeuropa im Aufsteigen begriffen waren, schienen auch die derzeitigen Pleitestaaten davon zu profitieren. In enger Wechselwirkung mit den deutschen Exportoffensiven entwickelten sich in etlichen europäischen Ländern sogenannte "Defizitkonjunkturen".

Unter diesem Begriff versteht man einen Konjunkturaufschwung, der durch die Ausbildung von Defiziten zustande kommt. Salopp gesagt: Der Aufschwung wird durch Schuldenmacherei ermöglich. Der private Sektor oder der Staat nimmt Kredite auf, gibt dieses Geld aus und schafft so kreditfinanzierte Nachfrage, die stimulierend auf die Wirtschaft wirkt.

Rückblickend betrachtet war die "europäische Integration" selber ein Reflex auf diese Krise des kapitalistischen Weltsystems. Das "Europäische Haus" wurde spätestens seit der Euroeinführung auf einen beständig wachsenden Schuldenberg errichtet, der bis zum Platzen dieser Schuldenblase allen Beteiligten die Illusion verschaffte, an einem allgemein vorteilhaften Integrationsprozess beteiligt zu sein: Deutschlands Industrie erhielt dank des Euro Exportmärkte, während Europas Schuldenstaaten ihre kreditfinanzierte Defizitkonjunktur erfuhren.

Defizitkonjunkturen

Viele der Volkswirtschaften, die nach Krisenausbruch aufgrund einer zusammengebrochenen Defizitkonjunktur eine besonders schwere Rezession erlebten, galten ja zuvor als besonders erfolgreich. Großbritannien, der "keltische Tiger" Irland und auch Spanien konnten so jahrelang hohe jährliche Wachstumsraten erzielen. Dieses Kunststück war nur durch die besagte Defizitkonjunktur möglich, die ja zumeist mit einer spekulativen Blasenbildung auf den Immobilienmärkten einherging. Wir müssen uns nur in Erinnerung rufen, dass in Spanien, Großbritannien, und etwa Irland aufgrund dieser Defizitkonjunkturen sogar Arbeitskräftemangel herrschte, der durch ein Millionenheer osteuropäischer Arbeitsmigranten gedeckt wurde.

Forderungen Deutscher Banken gegen ausländische Schuldner

Dabei waren es nicht zuletzt deutsche Finanzhäuser, die diese Defizitkonjunkturen vermittels großzügiger Kreditvergabe finanzierten, wie diese Grafik aus dem Jahr 2009 belegt. Hier erst schließt sich der Kreis der besagten südeuropäischen Defizitkonjunkuren zu einem Defizitkreislauf. Die ökonomisch überlegenen Volkswirtschaften des nördlichen Zentrums der Eurozone konnten einerseits enorme Handelsüberschüsse mit Südeuropa erwirtschaften.

Doch zusätzlich profitierten ihre Finanzsektoren von der Kreditvergabe an den griechischen Staat oder an spanische Unternehmen und Hypothekennehmer. Ein ungleicher Kreislauf etablierte sich: Während von Deutschland aus die Warenströme in den Süden der Eurozone flossen, strömten in der Gegenrichtung griechische, spanische und portugiesische Wertpapiere in die Banktresore deutscher und französischer Finanzinstitute.

Deswegen bestand übrigens ein so großes Interesse in Berlin daran, den ersten Schuldenschnitt Griechenlands zu unterstützen und durchzusetzen. Es wurden hierbei deutsche und französische Banken "gerettet", während die Verbindlichkeiten der europäischen Öffentlichkeit aufgebürdet worden sind, wie unlängst selbst ein ranghoher Mitarbeiter des Währungsfonds zugab Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren - auch in der Eurokrise wurde an diesem geheiligten Grundsatz der freien Marktwirtschaft nicht gerüttelt.

Generell sind rund 90 Prozent der "Hilfen", die an Athen gezahlt wurden, über den Umweg Griechenlands zurück in die westeuropäischen Zentren geflossen, während Hellas in den sozioökonomischen Zusammenbruch getrieben wurde.

Wer hat nun bei dem ersten Schuldenschnitt Athens geblutet? Dies waren vor allem zypriotische Banken, was wiederum zu dem Ausbruch der Zypernkrise führte und Berlin die Gelegenheit bot, an der kleinen Mittelmeerinsel in übelster deutscher Tradition ein Exempel zu statuieren und Teilenteignungen durchzuführen (Das großgehungerte Deutschland). Da Deutschlands Banken nun aus dem Schneider sind, besteht für Berlin kein Anlass, einen weiteren Schuldenerlass in Erwägung zu ziehen.

Zudem haben die Teilenteignungen in Zypern zu immer stärkeren Kapitalzuflüssen in die Bundesrepublik aus der kriselnden Eurozone geführt, die ja maßgeblich den deutschen Immobilienboom befeuern (Im Bann der Eigentümer-Gesellschaft). Die Angst vor neuen Krisenschüben und etwaigen Enteignungen treibt das restliche Kapital aus der Südperipherie in den "sicheren Hafen" BRD, was eine konjunkturelle Erholung in den Krisenländern erschwert und Deutschlands Konjunktur zusätzlich befeuert.

Output Industrieproduktion Eurozone

Die ungeheure Verschiebung der ökonomischen Machtverhältnisse in Europa, die das Wechselspiel aus systemischer Krise und deutscher Beggar-thy-neighbour-Politik zeitigte, lässt sich sehr gut an der obigen Grafik studieren. Es ist deutlich erkennbar, dass Deutschland den Vorkrisenstand der Industrieproduktion nahezu erreicht hat, während die südlichen Eurostaaten und Frankreich immer noch weniger Waren produzieren als zu Beginn des Jahrhunderts. Die Diskrepanz in der Wirtschaftsleistung der dargestellten Länder, die sich im Zeitraum zwischen Euroeinführung und dem letzten Quartei 2013 einstellte, beträgt zwischen 35 (Frankreich) und 50 (Griechenland) Prozent!

Diese wirtschaftliche Dominanz wandelte die deutsche Regierung in einen politischen Führungsanspruch in Europa um, den sie rücksichtslos durchsetzte. Den Krisenländern drohte mit dem Ausscheiden aus der Eurozone eine massive Abwertung und ein daraus resultierender sozioökonomischer Zusammenbruch, sodass sie sich genötigt sahen, den "Sparauflagen" aus Berlin folge zu leisten. Mitunter ließen Schäuble und Merkel auf den Höhenpunkt der Eurokrise die Lage an den Bondmärkten bewusst eskalieren, um die Zinslast der betroffenen "Schuldenstaaten" absichtlich in die Höhe treiben und diese so zur Kapitulation zu nötigen.

Rücksichtslose Durchsetzung deutscher Interessen

Berlin konnte sich zudem bei der forcierten Änderung der EU-Verträge in nahezu allen Streitpunkten durchsetzen und tatsächlich ein Europa erreichten, in dem weitgehend "deutsch gesprochen" werde, wie es der CDU-Franktionssprecher Volker Kauder formulierte. Der von Berlin vehement geforderte Fiskalpakt trat Anfang 2013 in Kraft - mit ihm wurde die Austeritätspolitik auf europäischer Ebene institutionalisiert.

Die obige Grafik deutet bereits das totale Scheitern des deutschen Spardiktats in der Eurozone an (Näheres hierzu in Teil zwei dieser Artikelserie) - vorausgesetzt, dessen Zeil bestand tatsächlich in der Sanierung der europäischen Schuldenstaaten. Angesichts des verbissenen Festhaltens Berlins an der offensichtlich gescheiterten "Sparpolitik" drängt sich eher der Eindruck auf, als ob dieser desaströse Kurs mit Absicht verfolgt wird.

Im Endeffekt verstärkt das deutsche Spardiktat den sozioökonomischen Abgrund zwischen der Bundesrepublik und der krisengeplagten Eurozone, was zu einer weiteren Festigung der Machtposition Berlins führt. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Letztendlich wurden die südeuropäischen Krisenländer von der BRD vermittels Beggar-thy-neighbour-Politik und Spardiktat in eine Art neufeudaler Schuldknechtschaft getrieben, bei der ein Teil des BIP als eine Art "Zehnten" (derzeit nüchtern Primärüberschuss genannt) an das nördliche Zentrum abzuführen ist.

Im Fall Griechenland sind es derzeit 1,5 Prozent des BIP, was Berlin viel zu wenig ist: Gefordert werden 4,5 Prozent.

In der deutschen Öffentlichkeit hat sich hingegen - neben der üblichen Imaginierung als Opfer und "Zahlmeister" der Eurokrise - die durch mühsam kaschierten Sadismus befeuerte Wahnidee durchgesetzt, wonach ein Mangel an Reformeifer im Süden der Eurozone das evidente Scheitern des deutschen Spardiktats verursachte. Es werde nicht hart genug gekürzt - dies ist die stereotype Antwort der hiesigen Mainstreampresse auf jede Hiobsbotschaft aus den ökonomisch zusammenbrechenden südlichen Volkswirtschaften.

Dabei verhält es sich gerade andersherum: Diejenigen Länder, die besonders eifrig Reformen umsetzten und der deutschen Rosskur folge leisteten, erleben eine besonders schwere Krise. Mehr noch: Je stärker die Reformbereitschaft, je weitgehender der von Berlin oktroyierte Kahlschlag durchgeprügelt wurde, desto verheerender dessen sozioökonomische Folgen.

Zu dieser Schlussfolgerung kam keine "linker Radikalinski", sondern die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in einer Mitte Februar veröffentlichten Studie, die bezeichnenderweise deutschlandweit keinerlei Beachtung fand. Laut der OECD stellt Griechenland das Land dar, dass in den vergangen sieben Jahren die meisten (neoliberalen) Reformen durchgesetzt hat - gefolgt von Portugal, Irland und Spanien.

"Ökonomische Reformen sind schlecht für deine ökonomische Gesundheit", kommentierte das konservative US-Nachrichtenmagazin Forbes. Die Staaten mit den umfassendsten Reformen stellten inzwischen ökonomisch hoffnungslose Fälle dar: "Die Arbeitslosigkeit in Griechenland liegt bei 27 Prozent, in Portugal sind es 15, in Irland 12 und in Spanien 25. Das sind sehr, sehr kranke Ökonomien. Und sie sich zugleich die Top-Reformer der OECD." Das Gerede von den notwendigen harten Reformen, das deutschlandweit Konsenscharakter angenommen hat, bezeichnete Forbes als ein "Märchen".

Die obigen Fakten und Zusammenhänge verdichten sich zu einem Gesamtbild: Berlin betreibt eine strikt nationalistisch-imperiale Politik, die auf rücksichtslose Durchsetzung deutscher Interessen und die Errichtung einer europäischen Hegemonie Deutschlands abzielt. (Wobei mit "Deutschland" natürlich nur diejenigen Schichten und Klassen gemeint sind, die sich eine staatliche Durchsetzung ihrer Interessen auch leisten können - aber das werden die sich mit "Deutschland" identifizierenden Irrlichter, die bei Pegida-Aufmärschen und Mahnwachen von einer Fremdbestimmung der BRD schwadronieren, wohl nie begreifen. Diese Menschen projizieren einfach ihre eigene Fremdbestimmung auf die BRD).

Doch es ist zugleich diese deutsche "harte Hand", die das frisch aufgebaute neoimperiale Projekt zerstört. Berlin wird die angestrebte Hegemonie nicht erringen, da hierzu eine zumindest marginale Berücksichtigung der Interessen der peripheren Staaten durch den Hegemon notwendig wäre. Dieselbe Politik, die zur Ausbildung des deutschen Europas führte, befördert nun dessen Zusammenbruch. Kaum errichtet, ist das "deutsche Europa" schon im Zerfall begriffen, da es an der objektiv sich zuspitzenden Krisendynamik, die durch die "Sparpolitik" noch befeuert wird, zerbricht.

Im zweiten Teil: Der Zerfall des deutschen Europa

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