Ein zweiter Akt der Solidarität

Die sich ankündigende Rezession darf nicht mit weitergehender Privatisierung oder durch Kürzungen im Gesundheits- und Sozialbereich beantwortet werden, sondern erfordert einen zweiten Akt der Solidarität

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Die unnatürliche Situation des Lockdowns im Allgemeinen und des social distancing im Besonderen belastet die Menschen schwer, auch wenn nun leichte Lockerungen erfolgt sind. Kleinkinder finden sich ohne soziale Kontakte und Freundschaften wieder, die so wichtig für die frühkindliche Entwicklung sind. Die Situation der Kinder ist ebenso besorgniserregend. Vermehrt werden sie psychisch krank.

Auch Jugendliche leiden stark unter der aktuellen Situation. In Frankreich zeigen beispielsweise mehr als ein Drittel der Jugendlichen Zeichen psychischer Not. Nicht zuletzt werden sich auch die Ungleichheiten der Schüler stark ausweiten.

Die Situation für alleinerziehende Mütter und Väter ist besonders schwierig und bringt diese oftmals an den Rande der Belastbarkeit. Auch in Familien mit beiden Eltern ist die Lage nicht einfach und die Gewalt gegen Kinder und Frauen steigt.

Isolation und Einsamkeit ist ein massives Problem des Lockdowns. In Deutschland gab es im Jahr 2018 mehr als 17 Millionen Einpersonenhaushalte, wobei die Hälfte dieser Menschen älter als 55 Jahre ist. Bedenkt man, dass die Metaanalyse der Psychologin Julianne Holt-Lunstad (Brigham Young University) ergab, chronische soziale Isolation erhöhe das Sterblichkeitsrisiko um 29%, kann man die Belastung und die Gefahr des Lockdowns gerade auf die allein lebenden Menschen erahnen. Hinzufügen muss man auch generell steigende Depressionen, die Gefahr einer Zunahme an Suiziden und nicht zuletzt auch der Schmerz darüber, geliebte Menschen nicht in den letzten Stunden ihres Lebens begleiten zu können.

Der erste Akt der Solidarität

Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte: "Da sind unsere Solidarität, unsere Vernunft, unser Herz füreinander schon auf eine Probe gestellt, von der ich mir wünsche, dass wir diese Probe auch bestehen."

Tatsächlich kann die Reaktion auf die Covid-19 Pandemie in Deutschland und in zahlreichen anderen Ländern als ein Akt der Solidarität bezeichnet werden. Um die sogenannten Risikogruppen vor einer Infektion zu schützen, begab sich das ganze Land in den Lockdown, wobei die Mehrheit der Menschen, die die Unannehmlichkeiten dieses unbekannten Lebens auf sich nehmen, sich vermutlich kaum vor dem Virus fürchten müssen. Vielmehr ist die Grundidee des Lockdowns, die Infizierungen der Risikogruppen möglichst stark zu reduzieren und so Menschenleben zu schützen und sicherzustellen, dass die Kapazitäten des Gesundheitssektors (Intensiv-Betten, Beatmungsgeräte und speziell ausgebildetes Personal) nicht gesprengt werden. Denn in dem Moment, in dem nicht mehr genug Intensiv-Betten für alle Patienten vorhanden sind (natürlich auch all die Patienten, deren Leben durch eine andere akute Gefahr bedroht ist) würden die Krankenhäuser vor extrem schwierigen Entscheidungen stehen, die es zu Recht zu verhindern gilt.

Ein Boot mit unterschiedlichen Kabinen

Es ist eine wichtige Erkenntnis, dass der Lockdown, der in zahlreichen Ländern stattfindet, eine existentielle Krise ist, die weltweit erlebt und so eine gemeinsame Erfahrung bildet, da alle Menschen im selben Boot leben, dieselben Sorgen, Lasten und Ängste teilen. Eine ebenso wichtige Erkenntnis ist aber auch, dass es auf diesem Boot unterschiedliche Kabinen gibt, genau wie auch die Titanic in eine Drei-Klassen-Gesellschaft eingeteilt war.

Die Lasten des Aktes der Solidarität sind ungleich verteilt. Selbstverständlich lässt sich die Zeit des Lockdowns leichter erleben, wenn man in einem großen Haus mit Garten, Terrasse und ohne Kinder lebt; das Homeoffice im eigenen Büro kein Problem darstellt, sondern nur den nervigen Weg zur Arbeit erspart; keine finanziellen Sorgen plagen, sondern man sich jeden Tag mit einer "Kleinigkeit" belohnen kann, die von unterbezahlten Menschen an die Haustür gebracht werden, die gezwungen sind mit einem erhöhten Risiko weiter zu arbeiten.

Den Lockdown hingegen in einer Sozialwohnung, mit drei Kindern (von einem dreijährigen Energiebündel bis zu hochpubertierenden Jugendlichen) überleben zu müssen, kann Menschen grundsätzlich sehr schnell an ihre Grenzen bringen. Wenn der Beruf nicht über das Homeoffice ausgeübt werden kann, die finanzielle Lage stets so angespannt ist, weil die Familie seit jeher von der Hand in den Mund leben musste, ohne Rücklagen bilden zu können, und auch der 24-Stunden-Unterhaltungsservice Netflix zu teuer ist, wird deutlich, wie belastend das Leben für diese Menschen ist, die die steigenden Lebensmittelkosten besonders zu spüren bekommen.

Vergessen werden darf man hierbei aber auch nicht die Menschen, die in den sogenannten systemrelevanten Berufen arbeiten, um sicherzustellen, dass die gesamte Bevölkerung weiterhin einkaufen kann und beliefert werden. Bei ihrer so wichtigen Arbeit sind sie aber nicht in den heimischen vier Wänden geschützt, sondern müssen ein besonderes Infektionsrisiko eingehen und gehören zumeist zum ärmeren Teil der Bevölkerung.

Zwischenresümee: Bei diesem Akt der Solidarität hat sich die Gesellschaft über den Egoismus des Einzelnen gestellt. Eine egoistische Nach-mir-die-Sintflut-Haltung, die die Infizierung von Menschen in Kauf nimmt, die zu den Risikogruppen gehören, so dass die eigene Infizierung den Tod einer anderen Person bedeuten kann, wird nicht toleriert. Es ist aber offensichtlich und entscheidend festzuhalten, dass die Lasten des Lockdowns, die die Menschen in dieser Krise stemmen müssen, stark ungleich verteilt sind.

Die nahende Rezession

Angesichts der enormen Rettungspakete und der massiven Wirtschaftseinbrüche, die erwartet werden, wird sich in naher Zukunft nicht nur in Deutschland die Frage stellen, auf welche Art und Weise der sprunghaft angestiegene Schuldenberg abgebaut und das Budget an den schwindenden Haushalt angepasst werden kann. Es steht zu erwarten, dass zwei althergebrachte Antworten angeboten werden, die beide eines gemeinsam haben: Sie haben nichts aus der Krise gelernt.

Lösung Nr. 1: Schulden durch Privatisierung abbauen

Milton Friedman erklärte bekannterweise: "Nur eine Krise - eine tatsächliche oder empfundene - führt zu echtem Wandel. Wenn es zu einer solchen Krise kommt, hängt das weitere Vorgehen von den Ideen ab, die im Umlauf sind." Es würde daher sehr verwundern, wenn nicht von einigen politischen Kräften versucht werden würde, die kaum von der Hand zu weisende extreme Krise für eine neoliberale Agenda zu nutzen und die Privatisierung massiv auszudehnen - in Frankreich scheint die Regierung mit diesem Gedanken zu spielen. Kurzfristig würde so eine ansehnliche Summe in die Staatskassen gespült werden. Die langfristigen Folgen wären jedoch katastrophal.

Ein kurzer Ausflug in die Geschichte: Betrachtet man den Gesundheitssektor, der gemäß des neoliberalen Washington Consensus zunehmend privatisiert wurde und auch zunehmend effizienz- und gewinnorientiert ist, lassen sich leicht die Konsequenzen des Primats des Gewinnstrebens für Krankenhäuser ausmachen. Im Durchschnitt wurden pro Jahr etwa 20 Häuser geschlossen. Mit der Zahl der Krankenhäuser reduzierte sich auch die der Krankenbetten. 1991 wurden noch mehr als 665.000 verzeichnet. Im Jahr 2015 waren es schon weniger als 500.000.

Dieser Rückgang geht aber leider nicht mit der positiven Nachricht einher, dass die Deutschen seltener die Hilfe eines Krankenhauses in Anspruch nehmen müssen. 1991 versorgten die Krankenhäuser noch etwa 14,5 Millionen Patienten vollstationär, 2016 waren es ein ganzes Drittel mehr. Die Krankenhäuser müssen also unter dem Effizienzdruck mit weniger mehr leisten. Die dadurch entstehende Gefahr fehlender Pflege wurde detailliert dokumentiert. Nicht überraschend auch: Eine Befragung von Klinikärzten ergab, dass wirtschaftliche Interessen die Behandlung der Patienten beeinflussen. Ein Gutachten kam zum gleichen Schluss.

Ein Höhepunkt des Diktats der unbedingten Effizienzsteigerung dürfte die Bertelsmann-Studie des letzten Jahres gewesen sein. Unter dem vielsagenden Titel "Eine bessere Versorgung ist nur mit halb so vielen Klinken möglich", wird behauptet: "Eine starke Verringerung der Klinikanzahl von aktuell knapp 1.400 auf deutlich unter 600 Häuser, würde die Qualität der Versorgung für Patienten verbessern und bestehende Engpässe bei Ärzten und Pflegepersonal mildern."

Zurück in die Gegenwart: Jeder Politiker, der sich für weitergehende Privatisierung auch und gerade im Gesundheitssektor ausspricht, muss die Frage beantworten, welche Konsequenzen es in der Pandemie gehabt hätte, wenn die Kapazitäten des deutschen Gesundheitssektors deutlich geringer gewesen wären. Es sei daran erinnert: Die begrenzten Krankenhauskapazitäten (Intensiv-Betten, Beatmungsmaschinen und speziell ausgebildetes Personal) waren die entscheidende Grenze, die den Spielraum für ein Land festgelegt hatte, wie es auf die Pandemie reagieren konnte, um einen Kollaps des Gesundheitssektors zu verhindern.

Sollte nicht gerade die Pandemie, die vielen Menschen das Leben gekostet hat, ein Beweis dafür sein, dass der Gesundheitssektor nicht einzig vom Primat der Effizienz und Gewinnmaximierung bestimmt sein darf?

Lektion einer anderen Krise

Eine weitere Privatisierung als Antwort auf die zukünftige Rezession mag daher vielleicht absurd erscheinen, ist aber leider angesichts der historischen Erfahrung keineswegs auszuschließen. Man erinnere sich an die Finanzkrise 2008. Von dem Vorsatz, den Finanzmarkt deutlich stärker zu regulieren, um derartige Auswüchse unmöglich zu machen, wurde fast nichts in die Tat umgesetzt. Stattdessen wurde die Krise im Zuge der Staatsschuldenkrise Schritt für Schritt umgedeutet und den angeblich schlecht wirtschaftenden Staaten in die Schuhe geschoben.

Der Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck erinnert daher zu Recht: "Aus der "Finanzkrise" wurde die "Schuldenkrise". Das war zwar angesichts der Tatsache, dass die staatlichen Schulden eindeutig erst im Gefolge der Krise gestiegen waren, vollkommen absurd, stand aber im Einklang mit dem üblichen Mythos."

Lösung Nr. 2: Sparpolitik

Die zweite zu erwartende Reaktion wird eine massive Sparpolitik sein, die einmal mehr im Sozial-, Kultur-, Bildungs- und Gesundheitssektor massiv Kürzungen vornehmen will. Auch diese Lösung wäre ein Beispiel dafür, dass aus der Krise nichts gelernt wurde.

Ein weiteres Mal hilft ein Blick in die Geschichte: Im Jahr 2000 bewertete die WHO das französische Gesundheitssystem als das beste der Welt, es folgte Italien, Spanien lag auf Platz 7, Deutschland landete hingegen abgeschlagen auf Platz 25. Was hat sich seitdem verändert? Warum ist die aktuelle Pandemie gerade in Italien, Spanien und Frankreich so gravierend?

Ein entscheidender Grund: Insbesondere nach der Finanzkrise mussten diese Länder massiv im Gesundheitssektor Einsparungen vornehmen. Die Konsequenz: Diese Länder haben nun eine deutlich geringere Kapazitäten an Intensiv-Betten, Beatmungsgeräten und speziell ausgebildetem Personal, so dass sie deutlich stärker von der Pandemie getroffen wurden. Spanien hat noch 4.400 Intensiv-Betten, Italien 5.000, Deutschland hingegen 28.000.

Austeritätspolitik im Gesundheitssektor kann kaum eine ernsthafte Lösung sein. Aber auch eine drastische Kürzung im Sozialbereich wäre verheerend. Niemand anderes als das "Handelsblatt" betonte angesichts der grassierenden Pandemie die besondere Bedeutung des Sozialstaates. Eine Kürzung des Sozialetats würde die Lehre aus der Krise ignorieren und tatsächlich den allabendlichen Applaus für die Pflegekräfte und all die systemrelevanten Jobs, ohne die das System zusammenbrechen würde, als hohle Phrase demaskieren. Denn natürlich ist die soziale Absicherung insbesondere auch für Menschen in diesen Berufen von besonderer Bedeutung.

Besonders aber übersieht diese Antwort einen zentralen Punkt: Denn in diesem Fall wird die Rezession vor allem auf dem Rücken derjenigen ausgetragen, die während der Krise besondere Risiken eingegangen sind, um das Leben für alle weiterhin zu ermöglichen und auf dem Rücken derjenigen, die bereits beim ersten Akt der Solidarität die ungleich größere Last getragen haben.

Lösung Nr. 3: Der zweite Akt der Solidarität

Lockdown ist ein Akt der Solidarität mit den Risikogruppen, dessen Lasten aber sehr ungleich verteilt sind, da vor allem ärmere Menschen besonders stark unter der Belastung zu leiden haben. Daher erfordert die Antwort auf die wirtschaftliche Schieflage einen zweiten Akt der Solidarität, wobei nun die ärmeren Menschen eher entlastet und insbesondere reichere Menschen zur Mithilfe aufgefordert werden.

Dieser zweite Akt der Solidarität ist ein Gebot der Ethik. Er ist ein gelebter Ausdruck, dass Solidarität von Politikern nicht nur beschworen wird, wenn es um Opfer vorwiegend der ärmeren Bevölkerung geht, sondern dass Solidarität tatsächlich gelebt wird, indem nun die bisher vorwiegend Belasteten verschont werden und diejenigen, die diese schwierige Zeit vergleichsweise problemlos leben konnten, größere Lasten tragen.

Dieser zweite Akt der Solidarität ist aber auch eine umgesetzte Lehre aus den Zeiten der Pandemie. Anstatt reflexhaft die Medikamentation des Neoliberalismus zu verordnen, die nachgewiesenerweise sehr starke Nebenwirkungen hat, beherzigt diese Lösung die Erkenntnis der Pandemie, dass stabile Sozialsysteme und geringere Ungleichheit sowie eine solidarische Gemeinschaft der beste Schutz sind, um auf eine kommende Krise vorbereitet zu sein.

Dieser zweite Akt der Solidarität ist aber auch nicht zuletzt das Gebot der Stunde, wenn Solidarität keine hohle Phrase war und Gemeinwohl, Zusammenhalt und das Wohlbefinden der gesamten Gesellschaft der Fixpunkt der Politik ist. Eine Politik, die diesen notwendigen zweiten Akt der Solidarität ignoriert, wird sich mit zunehmender Polarisierung (wie sie sich bereits in den sozialen Medien offenbart) und sozialen Unruhen konfrontiert sehen, die sich beispielsweise in Italien und Frankreich schon ankündigen.

Die wirtschaftliche Folgen

Die reicheren Menschen der Gesellschaft um ihren "fair share" an der zu stemmenden Belastung zu bitten, erweckt vermutlich die konsternierte Reaktion, dass die sogenannten Leistungsträger der Gesellschaft geschont werden müssten, damit sie ihr Vermögen investieren und so Arbeitsplätze schaffen könnten. Denn gemäß der vielgerühmten "Trickle-down-Theorie" käme schlussendlich der hinzugewonnene Reichtum der Leistungsträger der gesamten Gesellschaft zu Gute.

Hatte nicht schon Adam Smith geschrieben: "Es ist die große Vermehrung der Produktion in allen möglichen Sparten als Folge der Arbeitsteilung, die in einer gut regierten Gesellschaft jenen universellen Reichtum verursacht, der sich bis zu den niedrigsten Bevölkerungsständen verbreitet"?

"Wir warten auf diesen Trickle-down-Effekt nun seit 30 Jahren - vergeblich", kritisiert der Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften Paul Krugman diesen naiven Mythos, der sich seit den Reagan-Jahren in der Überzeugung vieler Menschen verankert hat. Tatsächlich stellte bereits 2012 ein Bericht des US-Congressional Research Services, der auf Druck der Republikaner zurückgezogen wurde, gerade diesen Trickle-down-Effekt in Frage.

Wenig später konnte aber der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty in seinem monumentalen Werk "Das Kapital des 21. Jahrhundert", das auf 15-jähriger Recherche basiert, durch historische Fakten beweisen, dass kein Nachweis auf die Existenz des Trickle-down-Effekts existiert. Mehr noch: Es gibt im Kapitalismus keinen natürlichen Prozess, der destabilisierende und ungleiche Tendenzen abmildert.

Wirtschaftliches Gebot: Gerechte Umverteilung der Lasten

Die neoliberale Antwort auf die Rezession und die höhere Zinslast wäre - wie üblich - eine Zunahme der Ungleichheit. Die Erklärung hierfür wäre wieder - einmal mehr - die wirtschaftliche Notwendigkeit. Das ist aber erstaunlicherweise gerade aus wirtschaftlicher Sicht schlicht falsch. So berichtete die OECD 2014 eine gerechtere Sozialpolitik in Deutschland, die die Ungleichheit reduziert hätte, hätte ein bis zu 6% höheres Wachstum ermöglicht. Eine IWF-Studie belegte zudem einen Zusammenhang zwischen ungleichem Einkommen und schlechterem Wachstum.

Ebenso falsch ist der neoliberale Mythos, Steuererhöhung senke das Wirtschaftswachstum und sei daher wirtschaftlicher Selbstmord. Einmal mehr zeigt aber die historische Analyse von Thomas Piketty, die er in seinem aktuellen Opus Magnum "Kapital und Ideologie" darstellt: "Eine hohe Steuerprogressivität ist eindeutig kein Hindernis für ein schnelles Produktionswachstum." Piketty erinnert vielmehr daran: "Der stärkste Wirtschaftswachstum herrschte in Europa zwischen 1950-1990, als die Ungleichheit am niedrigsten war und die progressive Besteuerung am höchsten."

Nicht zuletzt erweist sich vielmehr eine Reduzierung der Ungleichheit der Gesellschaft, aber auch in zahlreichen Bereichen als wahres Allheilmittel. Zahlreiche zentrale Probleme der Gesellschaft wie Kriminalität, Analphabetentum, Gesundheit, Einsamkeit etc. hängen direkt mit dem Grad der Ungleichheit zusammen. Daher ist die Reduzierung der Ungleichheit das Gebot der Stunde. Der zweite Akt der Solidarität ist also nicht nur ethisch, sondern auch wirtschaftlich richtig und für die gesamte Gesellschaft wichtig.

Um das Schlimmste zu vermeiden

Thomas Piketty beschreibt in seiner Kolumne die Gefahr eines Lockdowns ohne soliden Sozialstaat: "Ohne Mindesteinkommen werden die Ärmsten bald hinausgehen und Arbeit suchen müssen, was die Epidemie wiederbeleben wird. In Indien bestand die Eindämmung hauptsächlich darin, die Landbevölkerung und Migranten aus den Städten zu vertreiben, was zu Gewalt und Massenvertreibungen führte, auf die Gefahr hin, die Ausbreitung des Virus zu verschlimmern."

Daher schlussfolgert er: "Um Blutvergießen zu vermeiden, brauchen wir den Sozialstaat, nicht den Gefängnisstaat. Die richtige Antwort auf die Krise ist die Wiederbelebung des Aufstiegs des Sozialstaats im Norden und vor allem die Beschleunigung seiner Entwicklung im Süden."

Auch er fordert einen zweiten Akt der Solidarität: "Sehr schnell wird dieser neue Sozialstaat eine gerechte Besteuerung und ein internationales Finanzregister erfordern, so dass die reichsten Menschen und großen Unternehmen so viel wie nötig beitragen können." Piketty ist überzeugt: "In einem können wir sicher sein: Die großen politisch-ideologischen Umwälzungen haben gerade erst begonnen."

Historische Vorläufer

Eine einmalige Steuerlast für Großverdiener und Großunternehmen, um eine außergewöhnliche Notlage eines Landes zu meistern, steht zwar niemals auf der neoliberalen Agenda, hat aber durchaus eine Reihe erwähnenswerter Vorläufer. Piketty stellt diese Beispiele in "Kapital und Ideologie" dar:

Um nach den Weltkriegen die öffentlichen Schulden zu tilgen, wurden insbesondere in Japan, Deutschland, Italien, Frankreich und vielen europäischen Ländern mehrere Sondersteuern auf Immobilien, Geschäfts- und Finanzimmobilien mit Erfolg eingeführt. Sie wurden einmalig erhoben, und die Steuersätze für niedrige und mittlere Vermögen waren null oder niedrig, während die Steuersätze für die höchsten Privatvermögen oft 40% - 50% oder sogar mehr erreichten.

Thomas Piketty

Nicht zu vergessen auch: 1942 führten die USA mit dem Victory Tax Act einen Spitzensteuersatz von 91% ein. Zudem legte der Alliierte Kontrollrat in deutschen Besatzungszonen zwischen 1946-48 einen Spitzensteuersatz von 90% fest.

Generell wird heute folgende historische Tatsache allzu gerne vergessen: Zwischen 1932 und 1980 war der Spitzensteuersatz in den USA im Durchschnitt 81%. In Großbritannien im selben Zeitraum sogar 89%. Eine einmalige Sondersteuer, um einen zweiten Akt der Solidarität zu meistern, ist keineswegs undenkbar. Eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes ebenso.

Krisengewinner zur Kasse

Zu einer möglichst solidarischen und umfassenden Lösung der wirtschaftlichen Lage gehören vier weitere Bausteine. Erstens müssen gerade die Krisengewinner, insbesondere diejenigen, die mit Hilfe ausgeklügelter Steuervermeidungskonzepte grundsätzlich sich um eine faire Beteiligung der Steuern drücken, zur Kasse gebeten werden.

Ein prominentes Beispiel ist Amazon. Die Gewinne, die das Unternehmen während der Krise machen konnte und kann, sind gigantisch, weil die Menschen in ihrer Not das ihnen bekannteste Unternehmen für den Online-Einkauf nutzen, anstatt nach Alternativen zu suchen, die auch Geschäfte vor Ort unterstützen oder zumindest Unternehmen, die grundsätzlich ihre Steuern zahlen und nicht durch Tricks ins Mikroskopische zu minimieren suchen. Auch die fragwürdigen Arbeitsbedingungen von Amazon, dessen Gewinne nicht den Mitarbeitern zu Gute kommen, sollten inzwischen hinlänglich bekannt sein.

So kompliziert dieses Thema auch ist, so dringend müssen jetzt die Regierungen der Länder, die durch die Corona-Pandemie in eine tiefe wirtschaftliche Krise gestürzt werden, auf internationaler Ebene die klassischen Steuervermeidungstricks gemeinsam beseitigen und eine faire Steuerverteilung ermöglichen. Es kann nicht sein, dass diejenigen, die durch die Krise massiv gewonnen und von ihr profitiert haben, wieder nur mit wenigen Prozenten sich davon stehlen, wenn es um steuerliche Verantwortung geht, und die Menschen, die von der Pandemie bereits existentiell bedroht sind, gezwungen seien sollen, diese finanzielle Lücke zu schließen und dadurch noch tiefer in Schwierigkeiten zu geraten. Solidarität, die diesen wirklich Namen verdient, erfordert Steuergerechtigkeit. Gerade bei Krisengewinnern.

Das Ende der Steueroasen

Aus demselben Grunde muss zweitens zwingend die Austrocknung und Beseitigung der Steueroasen angegangen und vollzogen werden. Ein Bericht des IMF betont: Steuerparadiese kosten die Regierungen weltweit zwischen 462 und 555 Milliarden Euro an entgangenen Unternehmenssteuern. Pro Jahr. Allein Deutschland verliert hierbei jedes Jahr 51 Milliarden Euro.

Auch Einzelpersonen haben Vermögen in Steueroasen gebunkert. 8 Billionen Euro schätzt Gabriel Zucman, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Er berechnet, dass dadurch den Regierungen jährlich Einkommenssteuern von rund 185 Milliarden Euro entgehen.

Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang auch die Steuerhinterziehung von Unternehmen und Personen. Dadurch verlieren die Länder der EU jedes Jahr geschätzte 825 Mrd. Euro.

Da fast alle Ländern von der aktuellen Krise betroffen sind, ist es ein passender Augenblick, um Steueroasen, unter deren Auswirkungen so viele Länder leiden müssen, auszutrocknen.

Staatliche Unterstützung nur unter Auflagen

Es ist zweifellos richtig und wichtig, dass der Staat, die angeschlagene Wirtschaft zu stützen versucht und bedrohte Unternehmen Finanzhilfen anbietet. Es sollte aber ebenso selbstverständlich sein, dass mit dem Erhalt dieser Hilfen auch Pflichten einhergehen, um diese Solidarität des Steuerzahlers nicht einseitig auszunutzen. Daher sollten nur Unternehmen staatliche Hilfen erhalten, die keine komplexen Unternehmensstrukturen aufgebaut haben, die einzig der Steuervermeidung dienen, insbesondere Unternehmen, die Ableger in Steueroasen haben.

Prominente Beispiele sind Lufthansa, TUI und auch Adidas. Aber die Liste ließe sich noch lange vervollständigen. Markus Meinzer vom "Netzwerk Steuergerechtigkeit" betont daher zu Recht: "Die wichtigste Auflage, wenn Firmen vom Staat gerettet werden, sollte Transparenz sein."

Leider gibt es einen deutlichen Hinweis, dass trotz der wirtschaftlichen Notlage dieser notwendige Schritt aber nicht unternommen wird. Nachdem das Bundesfinanzministerium endlich im Dezember einen vielversprechenden Anti-Steuervermeidungs-Gesetzesentwurf vorgelegt hatte (beispielsweise hätten Briefkastenfirmen deutscher Konzerne im Ausland ihre Gewinne in Deutschland nachversteuern müssen), scheiterte dieser nun vor wenigen Tagen am Widerstand des Bundeswirtschaftsministeriums. Das "Netzwerk Steuergerechtigkeit" hat hierzu wichtige Hintergrundinformationen.

Aber es gibt auch ein Zeichen der Hoffnung: Nach Dänemark und Polen hat nun auch Deutschland entschieden, dass Unternehmen, die Hilfe in Anspruch nehmen, nicht zugleich großzügig Dividenden ausschütten können.

Und nicht zu vergessen: Eine Bedingung für die staatlichen Hilfen sollte es sein, dass sich die Unternehmen stärker um den Klimaschutz bemühen müssen. Die drohende Klimakatastrophe stellt die nächste globale Herausforderung an die Menschheit.

Börse

Als letzter Punkt gehört sicherlich die Regulierung des Finanzmarktes auf die To-do-Liste. Nach der Finanzkrise 2008 ist von dem festen Vorsatz der Regulierung kaum etwas realisiert worden. Gerade jetzt aber bedarf es umso mehr einer Regulierung des Finanzmarktes, damit das Risiko einer erneuten Finanzkrise verringert werden kann, die zu einem extrem schwierigen Zeitpunkt eintreten würde. Dies ist eine Frage der Verantwortung.

Gerade die sogenannten Leerverkäufe (Spekulationen auf einen Verlust von Aktien) gehören unterbunden. In gesamtwirtschaftlicher Hinsicht machen sie überhaupt keinen Sinn, schenken aber in Zeiten der Krisen einigen Gewinnern eine goldene Nase, während die Unternehmen, gegen die spekuliert wird, noch zusätzlich in die Knie gezwungen werden. Wenn man den Begriff der Solidarität nur ein wenig ernst nimmt und nicht als Worthülse für politische Sonntagsreden, dann kann die Gegenwart nicht die Zeit für einen ungezügelten Spielcasinokapitalismus sein.

In der Krise wachsen

Ist es naiv auf einen zweiten Akt der Solidarität zu hoffen, zu drängen? Vielleicht. Die ersten Anzeichen sehen ganz nach den üblichen neoliberalen Werkzeugen zur Krisenbekämpfung aus. So berichtete die FAZ:

Die Kanzlerin forderte demnach auch, in Deutschland bei allen Hilfen die Rückwirkung auf die EU-Debatte zu berücksichtigen. Deshalb solle sich die Bundesregierung auf zentrale Bereiche der Wirtschaft konzentrieren, statt immer neue Versprechen zu machen. Wenn etwa auch Künstler mit Steuergeld gerettet werden sollten, werde man dies in Spanien und Italien vermerken und darauf verweisen, dass Deutschland offensichtlich über genug Geld verfüge.

Faz

Die Konzentration auf "zentrale Bereiche der Wirtschaft" grenzt implizit viele Menschen aus, u. a. auch Menschen deren Existenz bedroht ist, da sie während des ersten Aktes der Solidarität nicht arbeiten können. Diese implizite Ausgrenzung ist alles, aber keine Solidarität. Solidarität sieht anders aus.

Naomi Klein schrieb in Anlehnung an Milton Friedman: "Wir reagieren auf einen Schock nicht immer mit Regression. Manchmal wachsen wir auch angesichts einer Krise - und zwar schnell." Es ist jetzt dringend Zeit zu wachsen und den in jeder Hinsicht notwendigen und nicht zuletzt auch wirtschaftlich sinnvollen zweiten Akt der Solidarität zu fordern und Wirklichkeit werden zu lassen.

Benutzte Bücher:
Flassbeck, Heiner: Zehn Mythen der Krise.
Klein, Naomi: Schock-Strategie.
Piketty, Thomas: Dss Kapital des 21. Jahrhunderts. Piketty, Thomas: Kapital und Ideologie. (Übersetzungen aus dem Französischen jeweils von A. v. W.)

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen".