Ein zweiter Feldzug gen Osten - Der "russische Untermensch" wehrt sich

Seite 2: Russlandgefühle im Krieg auf der deutschen Seite

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Zu Beginn des Ostfeldzuges trat Begeisterung an der Basis der "deutschen Volksgemeinschaft" offenbar nicht auf, auch nicht bei deren systemloyaler Mehrheit. Zuzuschreiben ist das nicht kriegsgegnerischen Einstellungen, sondern der Befürchtung, das militärische Engagement Deutschland könne überdehnt werden.

Noch war der Misserfolg des "Zweifrontenkrieges" 1914-1918 nicht vergessen. Und das Scheitern Napoleons in der "russischen Weite" rumorte im Hinterkopf. Die Gefühle wandelten sich, als die deutsche Wehrmacht auch hier zunächst große Siege verkünden konnte. Nun schien der Zugriff auf Leningrad und Moskau kurz bevor zu stehen. Diese Euphorie war im Winter 1941 gebrochen, die Todesanzeigen für deutsche Soldaten expandierten, die Bevölkerung stellte sich auf einen längeren Krieg ein.

Eine emotionale Wende brachte die deutsche Niederlage in Stalingrad, im Winter 1942/43. Deutsche Truppen geschlagen und im Rückzug - wie war damit umzugehen? Folgebereitschaft für das NS-System und den Krieg ergab sich von da an immer mehr aus Angststimmungen heraus - "bolschewistische Horden" könnten bis nach Deutschland vorrücken, Rache nehmen für die hitlerdeutsche Art der Kriegsführung, deren Grausamkeiten auch an der "Heimatfront" nicht ganz unbekannt geblieben waren. Solche "Durchhalte"- Gefühle wurden noch bestärkt, als die Rote Armee der deutschen Grenze näher rückte.

Allerdings bildeten sich in Deutschland auch vermehrt illegale widerständige Aktivitäten heraus, in kleinen, meist radikal linken Gruppen, ohne die Chance, das "Schluss mit dem Krieg" zur Parole einer Volksbewegung zu machen. Der Putschversuch vom 20. Juli 1944 war Sache eines elitären, eher konservativen Oppositionskreises. Hier spürte man, dass der Krieg für Deutschland nicht mehr zu gewinnen war und suchte nach einem Ausweg, vielleicht durch einen separaten Waffenstillstand im Westen.

Mit welchen Gefühlen die im Osten eingesetzten Soldaten auf ihr Russlanderlebnis reagierten, lässt sich verallgemeinernd nicht sagen, auch sind die Quellen dazu nicht hinreichend. Feldpostbriefe in die Heimat waren nicht unbedingt "echte" Äußerungen. Und die Unterschiede im Kriegsverlauf und in den persönlichen Situationen sind zu bedenken. Auf der "Siegesstraße" empfand man anders als bei den Rückzügen, Soldaten im Fronteinsatz hatten andere Erlebnisse als die in der Etappe oder - entgegengesetzt - in der russischen Gefangenschaft. Für die Mehrheit der deutschen Teilnehmer am Ostfeldzug war wohl am eindrucksvollsten, wie standhaft die meisten Soldaten auf der sowjetischen Seite die Härten des Krieges hinnahmen; mit einer solchen Widerstandsfähigkeit hatten die meisten Deutschen nicht gerechnet. Erfahrbar wurde aber auch, dass die Lebensverhältnisse in der Sowjetunion schon in Friedenszeiten alles andere als paradiesisch gewesen waren.

Hilfswillige aus der Sowjetunion auf deutscher, deutsche Antinazis auf sowjetischer Seite

Als die militärische Lage im Osten sich zu Ungunsten Deutschlands wandelte, kam in Führungsgruppen von Wehrmacht und SS mühsam das Konzept auf, nicht systemtreue sowjetische Soldaten oder Kriegsgefangene für den Einsatz auf der deutschen Seite zu gewinnen. Die Waffen-SS richtete Divisionen aus ethnischen Minderheiten der Sowjetunion ein, und die Wehrmacht machte sich daran, unter dem Kommando des Generals Wlassow eine nationalrussische antisowjetische Armee aufzubauen. Auch Kosakeneinheiten kämpften auf der deutschen Seite. Das Bild vom russischen oder sowjetischen "Untermenschen" kam damit freilich ins Wanken.

Auf der sowjetischen Seite bildeten sich das "Nationalkomitee Freies Deutschland" und der "Bund deutscher Offiziere" als Organisationen, die propagandistisch und auch mit Fronteinsätzen gegen den hitlerdeutschen Krieg aktiv wurden. Deutsche kommunistische Emigranten arbeiteten hier mit Landsleuten zusammen, die sich in der sowjetischen Gefangenschaft und in Antifa-Lagern vom Glauben an das Hitler-Regime abgewandt hatten. Die Symbolik des "Nationalkomitees" war schwarz-weiß-rot; es sollten deutsche Patrioten für eine antinazistische Politik gewonnen werden. Auch damit war ein Stereotyp, das vom "bösen deutschen Nationalcharakter", durch die Eigendynamik der Kriegsführung durchbrochen.

Sieger und Verlierer 1945 - und dann "Erbfeindschaften"?

Im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges war auch der zweite Eroberungsfeldzug des Deutschen Reiches gen Osten auf katastrophale Weise gescheitert. In der Sowjetunion hatte er Millionen von Opfern und riesige Zerstörungen hinterlassen, im Ausmaß singulär in der Zeitgeschichte. Für die deutsche Seite hatte er neben den Kriegsopfern eine massenhafte Vertreibung oder Flucht zur Folge, langjährige Gefangenschaft, auch Erleiden von Brutalitäten beim Einrücken der Roten Armee in deutsches Terrain.

Was die sowjetischen Sieger angeht, so entstand aus der Erfahrung des Zweiten Weltkriege nicht das Bild vom Deutschen als dem "ewigem Feind". Stalins Ausspruch: "Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk bleibt bestehen", mag politstrategisch gedacht gewesen sein, aber er gab offenbar auch den mehrheitlichen Gefühlen der Bevölkerung in der Sowjetunion Ausdruck. In "Großrussland" kam es keineswegs zu einer rassistischen Deutung des "deutschen Charakters".

Die deutsche Mentalitätslage am Ende des Zweiten Weltkrieges: Spekulationen, im Bündnis mit den Westmächten könne ein Deutschland ohne Hitler den Krieg gegen die Sowjetunion fortsetzen und in die Offensive wenden, brachen rasch wieder in sich zusammen. Das nationalsozialistische, rassistische Bild vom "russischen Untermenschen", den man auf kriegerische sich Weise unterwerfen könne, war nun als todbringendes und zugleich realitätsfernes ideologisches Konstrukt erkennbar. Es hatte, auf den Antikommunismus beschränkt und "abendländisch" gewendet, einige Fortwirkungen im politischen Bewusstsein von Deutschen oder im deutschen propagandistischen Reservoir, bis heute hin, aber mehrheitsfähig war es als ewige Feinderklärung nicht mehr. Eine totale militärische und politische Niederlage kann zu Lernprozessen führen. Anders als 1918 war sie 1945 nicht zu leugnen, die Legende "Im Felde unbesiegt" hatte ausgedient.

Teil 4: Im geteilten Deutschland: Die Russen als "Freunde", als Gegner im Kalten Krieg, als Koexistierende