"Eine Lieferung ist nicht möglich"
Seite 6: Film als Psychotherapie
Bei der Gaumont traf es Léonce Perret, damals den neben Feuillade wohl bedeutendsten Regisseur des Unternehmens (als Feuillade 1915 an die Front musste übernahm er dessen Aufgaben als künstlerischer Direktor). In Perrets Les Dents de fer wird Dr. Pain zur kleinen Germaine gerufen, die ohne seine ärztliche Hilfe sterben wird. Unterwegs hat sein Auto eine Panne. Dr. Pain beschließt, einen Abschneider durch den Wald zu nehmen. Er stolpert und verfängt sich mit der rechten Hand in den "eisernen Zähnen" (daher der Titel) einer Wolfsfalle.
Da sich der Doktor nicht aus der Falle befreien kann, amputiert er sich die eingeklemmten Finger. Er kommt gerade noch rechtzeitig zu seiner Patientin, um diese retten zu können. Die verbundene Hand erklärt er mit einem Sturz, der nicht der Rede wert sei. Erst dann verlassen ihn die Kräfte. Germaines Eltern wohnen in einem Herrenhaus und nicht in den Slums von Paris, das Kind ist am Ende wieder ganz gesund, der Doktor ist ein echter Held, der Akt der Selbstamputation bleibt taktvoll ausgespart, Perret enthält sich aller von der Geschichte angebotenen Schockeffekte und ersetzt sie durch eine sehr subtile Inszenierung. So eine Amputation allerdings geht sicher nicht ganz ohne Blutvergießen ab, das Blut oder der Gedanke daran hätte die ohnehin zu blutrünstigem Verhalten neigende Unterschicht zu Gewaltexzessen anreizen können oder was auch immer. Jedenfalls wurde dieser wirklich schöne Film verboten. Eine detaillierte Begründung ist nicht überliefert. Wahrscheinlich gab es nie eine. Damals musste so viel verboten werden, dass für Einzelheiten keine Zeit blieb.
Perrets Reaktion auf das harte Durchgreifen der Zensur in diesem Sommer war ein Film, den er für den Herbst- und Winterkatalog 1913/14 der Gaumont drehte, mit Außenaufnahmen an der Bretagneküste: Le Mystère des roches de Kador. Der verstorbene Marquis de Kéranic hat sein gesamtes Vermögen seiner Nichte Suzanne de Lormel vermacht. Das Erbe kann sie jedoch erst antreten, wenn sie volljährig ist. Sollte sie vorher sterben, verrückt werden oder in ein Kloster gehen fällt alles an ihren Cousin, den Grafen Fernand de Kéranic. Der verschuldete Graf hofft, seine Cousine eines Tages heiraten zu können. Als ihm ein Gläubiger mit Schande und Ruin droht ist er gezwungen, seine Avancen zu intensivieren. Bei einem Ausflug zu den Klippen von Kador macht er der schönen Cousine einen Antrag. Suzanne weist ihn zurück. Damit nicht genug. Fernand erfährt durch einen von Suzanne verlorenen Brief, dass sie den jungen Offizier Jean D’Erquy liebt. Jetzt muss er auf andere Weise zu dem Geld kommen.
Fernand schlägt Suzanne vor, zum Strand bei den Felsen von Kador zu gehen, um Jagd auf Möwen zu machen. Vorher gießt er ihr ein Schlafmittel in den Kaffee. Auch den Rivalen hat er zum Strand gelockt. Er schießt aus dem Hinterhalt auf ihn und lässt die ohnmächtige Suzanne am Fuße der Klippen zurück, wo sie beim Einsetzen der Flut ertrinken soll. Hinterher, so der Plan, wird es aussehen, als habe Suzanne ihren Geliebten erschossen und sich dann selbst umgebracht. Jean jedoch überlebt den Anschlag. Schwer verletzt gelingt es ihm, Suzanne zu retten. Perrets Partnerin in vielen der Léonce-Komödien, Suzanne Grandais, spielt die Heldin (wie auch in Feuillades L’Erreur tragique, der für eine Imagekampagne zugunsten des Mediums Film ebenfalls gut geeignet wäre). Perret selbst ist als ihr Cousin zu sehen, was dem Ganzen eine selbstreflexive Note gibt. Als Léonce Perret ist er der Regisseur des Films und als Fernand de Kéranic inszeniert er das als Liebesdrama getarnte Mordkomplott.
Suzanne überlebt äußerlich unverletzt, fällt aber in einen katatonischen Zustand. Die Ärzte sind ratlos. Jean kontaktiert Professor Williams, der eine neue Behandlungsmethode entwickelt hat - eine Art Hypnose, sagt er, mit dem Kinematographen als Mittel der Psychotherapie. Jetzt ist der Professor der Regisseur. Wir erleben mit, wie er am Schauplatz des Verbrechens die Ereignisse so genau wie möglich nachstellt. Jean tritt als er selbst auf, eine Schauspielerin übernimmt die Rolle von Suzanne, ein Kameramann hält das Dokudrama auf Film fest. Das fertige Werk führt Williams der Patientin vor. Suzanne erwacht aus der Katatonie, verliert das Bewusstsein, ist danach wieder sie selbst. "Sie weint", sagt der Professor. "Sie ist gerettet." Damit kann der dritte und letzte Akt beginnen, in dem Suzanne ihrem Cousin bei einem Ball als maskierte Dame erscheint, um ihren Beitrag zur Überführung des Verbrechers zu leisten.
Wenn das keine schöne Idee ist. Das Kino einmal nicht als das Medium des Teufels, das die Unschuldigen korrumpiert und sie zu Gewalt und Verbrechen anreizt, nicht als Werkzeug der Unmoral, vor dem man die Kinder, die Frauen und andere Leute generell schützen muss (damals wurden Kinogänger ganz allgemein als Kinder diffamiert, und heute ist das manchmal auch noch so), sondern als Mittel zur geistigen Gesundung und zur Schaffung einer Welt, in der die wirklichen Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden, nicht die Filmemacher, die das Verbrechen abbilden.
Jugendschutzbefreiter Epilog für alle Altersgruppen
Nachdem die Chefin mein Paket mit den französischen Stummfilmen als "unzustellbar" an den Versandhändler zurückgeschickt hatte, überlegte ich, ob ich "Le cinéma premier" noch einmal dort bestellen sollte, nur jetzt mit Johann Michael als Empfänger und nicht mit Hans. Ich entschied mich dann dagegen. Mir war es zu blöd, meinen Namen zu ändern, um die Identitäts- und Altersprüfung beim Postident-Verfahren bestehen zu können, das man hierzulande mit Jugendschutz verwechselt. Blödheit wird durch Wiederholung zum Normalfall. Daran möchte ich mich nicht beteiligen. Ich sehe auch nicht ein, warum ich meinen Ausweis vorzeigen und dabei die Nummer registrieren lassen muss, damit ich Filme sehen darf, die ein wesentlicher Bestandteil unseres kulturellen Erbes sind. Meine Daten, nehme ich an, sind bei diesem Verfahren so wenig sicher wie die Jugend dadurch geschützt wird. Um es mit Herman Melvilles Bartleby zu sagen, einem Vorgänger der Figuren von Franz Kafka: I prefer not to. Übrigens teilt uns der Erzähler von "Bartleby the Scrivener" am Ende mit, dass der Schreiber früher im Dead Letter Office der Post gearbeitet haben soll, in der Abteilung für unzustellbare Sendungen. Das bestätigt mich in dem Verdacht, dass dort der Eingang zu Kafkas Welt zu finden ist. Meistens merkt man gar nicht, wenn man hindurchgeht, und dann ist man drin.
"Le cinéma premier" habe ich schließlich über ein Internetportal in Frankreich gekauft. Die Identitäts- und Altersprüfung fällt da weg, was bei Unsinn nicht verkehrt ist. Weil es doch noch eine Gerechtigkeit gibt, kam das Paket schneller bei mir an als manche Sendung aus Deutschland. Der Umschlag war mit vielen schönen Briefmarken frankiert, auf denen Werke europäischer Künstler zu sehen sind. Bei Annick, der Absenderin aus Tours, möchte ich mich hier noch einmal herzlich dafür bedanken. Der berühmteste Sohn der Stadt Tours ist Honoré de Balzac, dessen Roman Die Geschichte der Dreizehn Colin, den Verschwörungstheoretiker in Out 1, auf die Spur eines - vielleicht nur in Colins Kopf existierenden - Komplotts bringt. Balzac war für Jacques Rivette eine wichtige Inspirationsquelle. Der Weg zwischen ihm und dem Autor der Göttlichen Komödie führt über die in "Le cinéma premier" versammelten Pioniere. Rivette war sich sehr bewusst, dass seine Filme auf Fundamenten entstanden, die Alice Guy, Louis Feuillade und Léonce Perret einst legten. So fügte sich also am Ende alles harmonisch zusammen, ohne Postident-Verfahren und sonstige Gängeleien, mit denen man im Land der selbstzweckhaften Regelwut Erwachsene daran hindert, französische Stummfilme zu sehen.
Mit dieser harmonischen Note könnte ich einen Punkt machen und meinen Streifzug durch den ganz normalen Wahnsinn des real existierenden Jugendschutzes beenden. Irgendetwas aber fehlt da noch. Vier in den letzten Monaten gestorbenen Vertretern des europäischen Geisteslebens wolle ich in der letzten Folge die Referenz erweisen, hieß es am Anfang. Jacques Rivette, Roger Willemsen, Umberto Eco - das sind erst drei. Der Vierte ist Michel Tournier, der Autor von Le Roi des Aulnes (Der Erlkönig), verstorben am 18. Januar. In seinen Büchern erforschte Tournier die innere Wahrheit der Mythen und Legenden, um Geschichten daraus zu machen, die Kontinuitäten in unserer Erfahrung der Welt aufzeigen und durch den Rückgriff auf die Vergangenheit einen Beitrag zum besseren Verständnis der Gegenwart leisten. Sein besonderes Augenmerk galt dem Verhältnis von Deutschland und Frankreich, wo ihn die Kinder in der Schule lesen.
Man kann aus allem etwas lernen, sogar aus der Zensurkampagne, mit der die Behörden die Filmemacher überzogen, während Europa dem Ersten Weltkrieg entgegentaumelte, die Nationalisten Zulauf hatten und niemand etwas gegen das Treiben der Waffenhändler unternahm. Wer die Jugend schützen will, muss die Europäische Union stärken, weil sie sich tatsächlich als Friedensprojekt bewährt hat, auch wenn man gelegentlich den Eindruck gewinnt, dass das nur noch eine Phrase in den Sonntagsreden von Politikern ist. Die Geschichte zeigt, dass in der EU wenig voranging, wenn Deutschland und Frankreich nicht an einem Strang zogen. Die Kultur schlug schon immer Brücken, über welche die Politik dann gehen konnte. Der deutsch-französische Kulturaustausch sollte deshalb auch für Leute interessant sein, die nie einen Film von Rivette anschauen oder einen Roman von Tournier lesen würden. Für die Öffentlich-Rechtlichen müsste das eine Selbstverständlichkeit sein, falls ich die Rechtfertigung für das Eintreiben von Rundfunkgebühren richtig verstanden habe.
Wie also kamen ARD und ZDF anlässlich des Todes von Michel Tournier ihrem Programmauftrag nach? Wie viele Sendeminuten war ihnen ein französischer Schriftsteller wert, den Außenminister Steinmeier als einen "großen Freund Deutschlands" würdigte, als "einen überzeugten Europäer und großen Fürsprecher der deutsch-französischen Freundschaft, der die tiefe Verbindung unserer Länder als Teil unseres geeinten Europas im Herzen trug"? Wie viele Minuten in den Hauptnachrichtensendungen, die bisher noch mehr Zuschauer haben als die AfD-Website Nutzer, nicht versteckt in einer Nische unterhalb der Bemessungsgrenze zur Berechnung der Einschaltquote? Zumindest waren die Anstalten mit dem Bildungsauftrag konsequent. Tournier erfuhr die gleiche Missachtung wie Rivette. Er war nur einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für das ZDF war das zu wenig. Ich wollte ihn in der Videothek finden und wurde aufgefordert, meinen Suchbegriff zu ändern. Wie bei Rivette.
Die Hauptausgabe der Tagesschau gewährte, wie bei Rivette, ein Photo und ein paar dürre Sätze. "Seinen internationalen Durchbruch feierte Tournier 1970 mit dem Erlkönig, einem Roman über eine Reise durch Ostpreußen während des Zweiten Weltkriegs", sagte der Sprecher. So kann man ein Buch auch zusammenfassen, das vom Rassenwahn handelt, von den Napolas, in denen Kinder als Kanonenfutter herangezogen wurden und von der ästhetischen Verführungskraft der Nazi-Barbarei, der sich der Autor über die Menschenfresser annähert, über die Doppelgänger und die Serienmörder. In den Tagesthemen kam Tournier nicht mehr vor. Den Platz zwischen zweitem Nachrichtenblock und dem Wetter nahm ein Bericht über den Brauch des Eisbadens am russisch-orthodoxen Dreikönigstag ein. Darüber freute sich Anchorman Thomas Roth, der dieses Ritual am Bakailsee selbst miterlebt hatte, als er noch Korrespondent in Russland war. Wahrscheinlich gab es in der Redaktion schlicht keinen, der schon mal ein Buch von Michel Tournier gelesen hatte.
Was das mit Jugendschutz, FSK und Postident-Verfahren zu tun hat? Der Verstorbene, sagte der Tagesschau-Sprecher, "galt auch als Deutschlandkenner". Fürwahr. Michel Tourniers Eltern waren Germanisten, er selbst ging 1946 zum Philosophiestudium nach Tübingen (so bald nach dem Krieg war das für einen Franzosen extrem ungewöhnlich), später übersetzte er deutsche Literatur ins Französische, zu seinen Lieblingsautoren gehörten Goethe, Thomas Mann, Ernst Jünger und Günter Grass, er machte sich einen Namen als Vermittler zwischen der deutschen und der französischen Kultur, und so war es wohl auch kein Zufall, dass er den Prix Goncourt, den wichtigsten Literaturpreis unseres Nachbarlandes, für den Roman über die Reise durch Ostpreußen erhielt, in dem er "den Zweiten Weltkrieg als gemeinsame deutsch-französische Geschichte" beschrieb, wie Steinmeier sagte, als die Nachricht von seinem Tod bekannt wurde.
Seine Sicht auf Deutschland schildert Tournier in einem 2004 erschienenen Buch mit dem Titel Le bonheur en Allemagne? (man beachte das Fragezeichen hinter dem Glück). Die Geschichte dieses Landes, schreibt er, vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Fall der Berliner Mauer, sei von einem beständigen Chaos bestimmt. Jedes Volk träume aber von den Tugenden, die ihm am meisten fehlen. Darum behaupte Deutschland von sich, ein Hort der Ordnung und der Effizienz zu sein, obwohl das eine Chimäre sei. Ich persönlich kann ihm da nur zustimmen. Das, was hierzulande als Ordnung gilt, ist allzu oft nur eine Travestie. Mir ist das wieder einmal klargeworden, als ich von der Chefin einer deutschen Postfiliale erfuhr, dass ich meine Identität nicht nachweisen konnte, obwohl ich direkt vor ihr stand und im Besitz eines gültigen Personalausweises war, in dem mir die Bundesrepublik Deutschland bestätigt, wer ich bin. Die Regelungen zum Schutz der Jugend sagten etwas anderes, und wer den Jugendschutz auf seiner Seite hat gewinnt, mag der Unsinn noch so groß sein.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.