"Eine Lieferung ist nicht möglich"
Seite 4: Michael Kohlhaas des Postident-Verfahrens
- "Eine Lieferung ist nicht möglich"
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"Die Ware ist bereits wieder in unser Shopsystem aufgenommen worden. Wir erstatten Ihnen umgehend den Kaufpreis", stand in der Mail des Versandhändlers. "Gern können Sie die Bestellung anschließend erneut auslösen." Eine Bestellung kann man offenbar auslösen wie eine Explosion. In Verbindung damit, dass man es hier mit automatisierten Abläufen zu tun hat, eröffnete mir das die Möglichkeit, zum Michael Kohlhaas des Postident-Verfahrens zu werden. Dafür musste ich nicht brandschatzend durchs Land ziehen wie Kleists Gerechtigkeitsfanatiker. Es würde mich nichts kosten (mit "Le cinéma premier" hatte ich den Mindestbestellwert für eine portofreie Lieferung überschritten) und ich konnte es bequem von zuhause aus erledigen, mit einem Spaziergang zur Postfiliale zwischendurch. Das Szenario wäre wie folgt:
In meiner Identität als Hans Schmid bestelle ich im Versandhandel DVDs mit französischen Stummfilmen (Kulturgut, keine Schmuddelware), die keine FSK-Freigabe haben, weil sie in Frankreich erschienen sind und dem Empfänger dank der Bestimmungen zum Jugendschutz nur eigenhändig übergeben werden dürfen, nach vorheriger Identitäts- und Altersprüfung. Wenn der Zusteller dieses Mal klingelt, mache ich nicht auf. Ich hole die Benachrichtigung aus dem Briefkasten und gehe in meiner Identität als Johann Michael Schmid zur Post, wo ich meinen Personalausweis vorlege. "Sie konnten Ihre Identität nicht nachweisen", sagt die Chefin und schickt das Paket wegen Unzustellbarkeit an den Absender. Ich gehe nach Hause und warte auf die Information des Händlers, dass die Ware zurück im "Shopsystem" ist. Dann löse ich erneut die Bestellung aus. Das Ganze geht von vorne los.
Ich wiederhole das so lange, bis die Chefin und ihre Angestellte schreiend davonlaufen, wenn sie mich kommen sehen. In meiner nun dritten Identität, als Johann Michael Kohlhaas, mache ich immer weiter, bis das System zum Schutz der Jugend, des Postident-Verfahrens und der selbstzweckhaften Regelwut heißzulaufen beginnt. Am Ende implodiert es, es stirbt den Wärmetod (Details sind in jedem guten Lexikon unter dem Stichwort "Entropie" nachzulesen, und bei Thomas Pynchon) oder es wird so heiß, dass es die Erdkruste zum Schmelzen bringt. Dann passiert, was kein Film je schaffen würde: Die Welt geht unter. Unter Umständen ist das weniger absurd als manche von den Maßnahmen, die wir hier ergreifen, um den Angriff gefährlicher visueller Medien abzuwehren, oder von Medien überhaupt, die nicht in Form gedruckter Buchstaben auf uns zukommen. So gesehen hat es auch eine symbolische Bedeutung, wenn der Jugendschutz darin kulminiert, dass ein Identitätsabgleich zwischen den Buchstaben auf einem Personalausweis und denen auf einem Postpaket stattfindet.
Einer, der sich sehr für zum Kollaps verurteilte, mehr Rückschritt als Fortschritt bringende Systeme interessierte war Umberto Eco (gestorben am 19. Februar). "Projekt einer Apokalypse" steht über einem Text, in dem er ein vom italienischen Mathematiker und Computerexperten Roberto Vacca (Ehrenpräsident von Best Ideas and Projects) entworfenes Szenario für den Weltuntergang skizziert. Weil der Verkehr zusammengebrochen ist kommen die Fluglotsen zu spät zum Schichtwechsel. Die nicht abgelösten Kollegen sind überlastet und verursachen den Zusammenstoß zweier Jumbos, die auf eine Hochspannungsleitung stürzen und einen mehrere Tage dauernden Blackout bewirken. Leute wärmen sich an offenen Feuern. Es kommt zu Bränden. Die Feuerwehr kann nicht löschen, weil der Verkehrsstau weiter andauert. Die Lebensmittel werden knapp. Die Sicherheitskräfte sind paralysiert. Wandernde Horden nehmen sich mit Gewalt, was sie sonst nicht kriegen würden. Tote liegen am Wegesrand. Epidemien brechen aus. Es entstehen Angstpsychosen und Bürgerwehren …
Mein Szenario ist viel einfacher. Der Kollaps des Systems verursacht den großen Knall oder es zerfällt, worauf die Welt sich weiter dreht. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass das christliche Abendland am Abgrund steht, wenn 100 oder auch nur 50 Jahre alte Filme, die von der FSK nicht freigegeben wurden, weil es niemand beantragt (und dafür bezahlt) hat, ohne Alters- und Identitätsprüfung zugestellt werden dürfen und wenn ein System verschwindet, das sicherstellt, dass Johann die Herausgabe des Pakets für Hans verweigert wird, weil Hans der minderjährige Bruder von Johann sein könnte? Und Achtung: Falls ich das Regelwerk richtig verstanden habe reicht als Grund für die Unzustellbarkeit schon aus, wenn der Käufer beim Bestellvorgang nicht alle im Ausweis aufgeführten Vornamen korrekt angibt. Amazon.de warnt nicht aus Jux und Dollerei: "Exakte Eingabe Ihres Namens wie auf Ihrem Ausweis/Reisepass: Bitte geben Sie unbedingt den Namen des Empfängers genauso an, wie er in dessen Ausweis aufgeführt ist (auch weitere Vornamen!)."
Wer die Problematik erkannt hat und nun unsicher geworden ist, dem wird bei Amazon geholfen. Eine Lieferung an Markus Mustermann ist möglich, wenn im Personalausweis Markus Mustermann steht. Wenn Markus Werner Mustermann als Markus W. Mustermann bestellt, kann er sich den Gang zur Postfiliale schenken. Soldaten aufgepasst: Der Hauptgefreite Markus Mustermann hat keine Chance, wenn Hauptgefreiter kein im Pass eingetragener Vorname ist; da hilft es auch nicht, wenn er zum General aufsteigt. Herr Mustermann sollte auf die Anrede verzichten. Eine Lieferung ist nur möglich, wenn der Heilige Herr sein Namenspatron ist. Da Stummfilme ohne FSK-Freigabe dem Empfänger nur eigenhändig übergeben werden dürfen, ihm und sonst keinem, könnte jemand auf den Gedanken kommen, das Paket an ihn "persönlich" schicken zu lassen. Bitte nicht! Das Denken ist beim Schutz der Kinder unerwünscht. Eine Lieferung an "Markus Mustermann persönlich" oder "Z. Hd. Markus Mustermann" ist nicht möglich. Wer bei meinem Weltuntergangsexperiment mitspielen will hat nur eine Regel zu beachten: Die Bestellung ist beim in Deutschland ansässigen Versandhandel auszulösen. Wer im Ausland ordert kriegt die brisante Ware mit der normalen Brief- oder Paketpost. Keiner will da wissen, wer oder wie alt man ist.
Aus tiefer Bildung schöpfen
Am 7. Februar, während ich noch über das weitere Vorgehen grübelte, starb Roger Willemsen. Roger kannte ich persönlich. Wir hatten gemeinsame Freunde und waren eine Weile lang an derselben Uni, wo wir uns häufig über den Weg liefen. Vor der Einführung der DVD, als er nach London gezogen war, schickte er mir von dort VHS-Kassetten mit Filmen, die in Deutschland zu Wucherpreisen gehandelt wurden, weil die BPjM sie indiziert hatte. Von diesen Kassetten kann ich mich aus Nostalgie schwer trennen, obwohl ich sie längst durch DVDs ersetzt habe. Das Upgrade empfiehlt sich schon allein deshalb, weil die meisten DVDs das originale Bildformat eines Films respektieren, bei Kassetten aber gern verstümmelt wurde, weil das 4:3-Format als wünschenswert galt. Da passierte es nicht selten, dass von einem Film, den man im Kino gesehen hatte (in anderen Ländern, wo er nicht verboten war), nur noch zwei Drittel oder weniger übrig waren - nicht, weil man ihn gekürzt, sondern weil man etwas entfernt hatte, um bei breiteren Formaten als 4:3 die schwarzen Streifen zu vermeiden. Je besser Regie und Kameraarbeit, desto größer der Verlust.
Man könnte auf die Idee kommen, dass bei einem visuellen Medium wie dem Film ein direkter Zusammenhang zwischen dem Inhalt und der Bildinformation besteht, also dem, was zu sehen ist und somit drin ist im Film. Diese Erkenntnis scheint sich bei der "Pharisäervereinigung der Kolle-Jahre" (Willemsen über die BPjM) noch nicht herumgesprochen zu haben. 25 Jahre nach der Indizierung holt Frau Monssen-Engberding die alte Videokassette aus dem Schrank, weil sie und ihre Mitstreiter dann entscheiden müssen, ob der Film vom Index genommen werden kann oder nicht. Bei einer "Folgeindizierung" ist auch die DVD - weil "inhaltsgleich" - verboten. Man stelle sich vor, ein Verein zum Schutz vor Schmutz und Schund würde das mit der Literatur so treiben. Der Aufschrei wäre groß. Die BPjM darf sich "Bundesoberbehörde" nennen und weitermachen wie gehabt.
Der Bundesinnenminister fordert jetzt eine "Wohnsitzauflage" für Flüchtlinge, um der Ghettobildung vorzubeugen. Vielleicht könnte er sich mal mit dem Justizminister und der Familienministerin treffen und gemeinsam überlegen, mit welcher Auflage man der Ghettobildung beim Jugendschutz begegnet. Frau Monssen-Engberding schaut in ihrer Parallelwelt alte Videokassetten. Ob da auch noch ein Röhrenfernseher steht? Der Filmliebhaber jedenfalls besitzt inzwischen einen Flachbildschirm, hat Zugang zum Internet, bestellt das Folgeindizierte beim ausländischen Versandhandel und sieht es sich im richtigen Format an, mit Bildinformationen, von denen Frau Monssen-Engberding nicht die geringste Ahnung hat. Bloß nicht weitersagen: In England, bei Arrow, ist Mario Bavas Bay of Blood mittlerweile auf BluRay erschienen. Verantwortungslose Jugendverderber bekunden öffentlich, dass das ein toller Film ist, was sie hier nicht dürften, weil es verbotene Werbung für eine von der BPjM indizierte Schmuddelware wäre. Und weil hier bei uns niemand die Integrität der Bilder schützt hat uns die moderne Technik eine neue Variante des alten 4:3-Problems beschert, das Frau Monssen-Engberding so tapfer ignoriert.
Der tote Roger Willemsen wurde vom deutschen Fernsehen ausführlicher gewürdigt als Jacques Rivette (viel weniger als ein Photo und ein paar belanglose Sätze in der Tagesschau war kaum möglich). Das heute journal knappste von seinen 30 Minuten zwei für einen Nachruf ab. Willemsen sei einer der wenigen gewesen, las Klaus Kleber einleitend vom Teleprompter ab, die "aus tiefer Bildung schöpfen und überlegenen Intellekt einsetzen können, ohne das eine oder das andere fordernd vor sich herzutragen". Schöne Worte, die am Ende des Kommentars zum Filmbeitrag so klangen: "Seine Kritik, seine Gedanken, seine Stimme wird fehlen." Weil TV-Moderatoren stets nach der gelungenen Überleitung suchen nahm Anchorman Kleber das dankend auf: "Und streng genommen fehlt er schon jetzt." Mir fehlte Roger und mir fehlte seine Schädeldecke, die ihm zwischen An- und Abmoderation abhanden gekommen war. Das ZDF hatte sie im abgesägt.
Als Roger Willemsen seine eigene Sendung moderierte regierte noch das 4:3-Format. Jetzt denken die TV-Anstalten offenbar, dass die Besitzer eines 16:9-Geräts für ihr Geld einen komplett ausgefüllten Bildschirm haben wollen, keine schwarzen Streifen rechts und links (bei der für die Röhrenfernseher konzipierten Videokassette waren es die Streifen oben und unten, die verschwinden mussten). Bilder aus der alten 4:3-Welt werden gelegentlich zusammengestaucht, meistens aber zugeschnitten und so passend gemacht. Auf die Umstände, unter denen das historische Bildmaterial entstanden ist, mit dem die Geschichtsdokus des 16:9-Fernsehens ein Gefühl von Authentizität vermitteln, wird keine Rücksicht genommen. Das kann man doch eigentlich nur machen, wenn man die Leistung der Leute, die uns diese Filmaufnahmen hinterlassen haben, nicht im Geringsten anerkennt und vielmehr so tut, als hätten sie wahllos die Kamera irgendwo hingestellt und eingefangen, was da so vorbeikam. Je gekonnter das Ausgangsbild gestaltet war, desto schlimmer die Zuschneiderei. Wo bleibt der Respekt dem wichtigsten Ausdrucksmittel des eigenen Mediums gegenüber? Gern würde ich am Ende des heute journals eine von Matthias Fornoff präsentierte Statistik dazu sehen, wie viele Leiter von Archiven, in denen unser visuelles Gedächtnis aufbewahrt wird, zugleich mit dem Senderecht die Genehmigung zur Verstümmelung historischer Bilddokumente verkauft haben, und wie viele sich diesem Ansinnen widersetzen.
Beim Zweiten sah man nicht besser, sondern weniger, als Roger Willemsen gestorben war. Wer 4:3 auf 16:9 umformatiert wirft ein Viertel der Bildinformation in den Müll. Im ZDF-Nachruf ging Willemsen im Gespräch mit Peter Ustinov ein Stück vom Kopf verloren, weil er sich zu aufrecht hingesetzt hatte. Was würde Klaus Kleber sagen, wenn man das mit ihm machen würde? Wenn schon, dann bitte in einem Krimi oder in einem Horrorfilm, weil sich die Brutalität da zumindest in die Geschichte einbauen lässt, die zu erzählen ist. Der Serienmörder in der dritten Staffel von Die Brücke stellt Kunstwerke nach. Saga Norén von der Kripo Malmö und ihr dänischer Kollege Henrik Sabroe wissen nur nicht genau, was er damit zum Ausdruck bringen will. Eines der Opfer trägt die Mütze des Weihnachtsmanns, darunter fehlt die Schädeldecke. "Das Gehirn wurde entfernt", sagt Saga. "Was kann das symbolisieren?" "Hirntod, ein Idiot, Superhirn …?", spekuliert Henrik.
Auch wir wollen "aus tiefer Bildung schöpfen" und also sagen, dass der Locus classicus der geöffneten Schädeldecke im Film in Ridley Scotts Hannibal zu finden ist. Dr. Lecter verpasst Paul Krendler, einem Beamten im Justizministerium, eine ordentliche Dosis Beruhigungsmittel und bittet Clarice Starling zu einem Festmahl, bei dem er die Schädeldecke Krendlers lüftet, ein Stück von dessen Hirn entnimmt und dieses brät, um es dem noch lebenden Beamten als Leckerbissen zu servieren. Was kann das symbolisieren? Hirntod, ein Idiot, Superhirn? Ich würde meinen: Nicht die schlechteste Metapher für das, was die Öffentlich-Rechtlichen ab und an mit ihren sedierten Zuschauern veranstalten, die dafür auch noch bezahlen müssen, und das doppelt, mit ihrem Rundfunkbeitrag und mit ihrem Hirn. Wer, bitte, schützt uns vor der 16:9-Barbarei? Wer verhindert, dass desorientierte Kinder einmal fragen werden, warum die Menschen früher einen Kopf hatten, der oben offen ist?
Mit der Fee im Kindergarten
Zwischen der routinierten Gleichgültigkeit dem eigenen Medium gegenüber, mit der im Fernsehen abgeschnitten und umformatiert wird, weil es technisch leicht machbar ist und der Bildschirm voll sein muss, und der Begeisterung, mit der die Filmpioniere die Möglichkeiten einer neuen, im Werden begriffenen Kunstform ausloteten, liegen Welten. 1902 drehte Alice Guy ein Remake der Blumenkohlfee, den vierminütigen Sage-femme de première classe (Hebamme der Oberschicht). Die Fee spielt wieder ihre Freundin und Sekretärin, Yvonne Mugnier-Serrand. An der Gartenmauer ist ein Verkaufsstand mit Babypuppen aufgebaut. Ein Mann (Alice Guy in einem Pierrot-Kostüm) überredet seine Frau (Yvonnes Schwester Germaine), eine davon zu kaufen, oder vielleicht ist es auch umgekehrt: der Mann will den Kinderwunsch der Frau nicht erfüllen, die Frau ist sauer, der Mann kann die Ehekrise abwenden, indem er einlenkt und die Gemahlin bekniet, nun doch ein Baby zu kaufen, obwohl sie eingeschnappt ist und keines mehr haben will. Ohne erläuternde Zwischentitel bleibt die Interpretation der Bilder dem Publikum überlassen.
Die Fee jedenfalls zeigt ihr Angebot, doch die Kunden sind unzufrieden. Sie wollen wieder gehen, als die Fee ihnen sagt, dass es noch mehr zu sehen gibt. Mich erinnert das an früher, in der Videothek, als der Verkäufer einem zuraunte, dass er noch VHS-Kassetten habe, die nur unter dem Ladentisch gehandelt werden durften, weil bei einer Prüfung herausgekommen war, dass ein Film als jugendgefährdend zu gelten hatte, zu indizieren war und dergleichen mehr. Über die fachliche Qualifikation der anonym bleibenden Mitglieder von Prüfgremien, die darüber zu befinden haben, erfährt man nichts. Dieses intransparente System wird eher selten in Frage gestellt, weil wir brave Untertanen sind und also davon ausgehen, dass die Verantwortlichen schon wissen werden, was sie tun. Ausweislich der von solchen Gremien getroffenen Entscheidungen (und der zugehörigen "Begründungen") sind daran Zweifel angebracht, aber egal.
Wenn man nur so die Jugend schützen kann, dann muss es eben sein. Wer das nicht glaubt ist ein schlechter Mensch und sollte sich was schämen, weil ihm das Wohl der Kinder nicht am Herzen liegt. Ich für mein Teil möchte deshalb dazu aufrufen, den lieben Kleinen keinesfalls die Märchenfilme von Alice Guy zu zeigen (keine FSK-Freigabe!), sondern vielmehr - da wir gerade bei Mutterfreuden sind - Annelie, den Nazifilm zum vom Führer verliehenen Mutterkreuz. Die Prüfung hat ergeben, dass dieses Paradebeispiel für NS-Propaganda ohne Altersbeschränkung freigeben werden kann. Das bestätigt der Ständige Vertreter der Obersten Landesjugendbehörden bei der FSK mit Stempel und Unterschrift. Und die Blumenkohlfee, was macht sie? Die Fee führt das Paar in den nur eingeschränkt zugänglichen Garten, wo sie aus den Kohlpflanzen echte Babys holt und diese zum Aussuchen auf ein paar Decken legt (wie im Remake des Originals von 1900 ist eine Puppe mit dabei, als Säugling, der noch nicht ganz fertig ist). Die Wahl fällt schwer. Nur eines der Kinder, das etwas dunkel geraten ist, will das Paar auf keinen Fall. Die Fee muss acht Babys zeigen, ehe sich die Käufer für eines entscheiden können. Der Ehemann bezahlt den verlangten Preis, dann verlässt die junge Familie den Garten (den Laden).
Was Alice Guy uns mit dem Film sagen wollte weiß ich nicht genau. Auf diese Unbestimmtheit kommt es an. Von heute aus gesehen ist das Faszinierende daran, dass damals oft ein Kinoerzähler neben der Leinwand stand und die Bilder kommentierte. Anhand der vier Minuten lässt sich eine märchenhafte und affirmative Geschichte über den erfüllten Kinderwunsch eines jungen Paares aus der Oberschicht erzählen oder eine über die Reichen, die sich kaufen, was sie haben wollen und denen ein schwarzes Kind höchstens als Dienstbote ins Haus kommt, nicht als Erbe des Vermögens. Man könnte an den Rassismus eines weißen Publikums appellieren und das schwarze Kind als Sündenbock anbieten, um von den Mängeln einer Gesellschaft abzulenken, in welcher der Reichtum ungerecht verteilt ist. Anhand der Hebamme für die Oberschicht kann man aber auch - ganz aktuell - über Gentechnik und Leihmutterschaft sprechen oder über eine kapitalistische Welt, in der das Kindeswohl eine Frage des Preises ist, und gekoppelt an das Geld der Eltern.
Bei Alice Guy darf man ein geschärftes Bewusstsein für soziale Gegensätze voraussetzen, weil sie diese jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit sah. Léon Gaumont errichtete die ersten Filmateliers seiner Firma am Rande des als Hort für linke Agitatoren verrufenen Arbeiter- und Einwandererviertels Belleville, in der rue des Alouettes (Nr. 12), später umbenannt in rue Carducci. Das Studio, das Gaumont in Belleville baute, war das größte der Welt, bis sich mit dem Krieg von 1914/18 die Gewichte zugunsten der Konkurrenz aus Amerika verschoben. Leider hat man in den 1990ern alles abgerissen, was damals von Léon Gaumonts Filmstadt - mit Haupteingang in der rue de la Villette - noch übrig war.
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