"Eine Lieferung ist nicht möglich"

Seite 2: Tragischer Irrtum

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Die Geschichte der Paranoia im Kino, könnte man mit einiger Berechtigung sagen (und ohne Anspruch auf die Wahrheit), beginnt mit Feuillades Erreur tragique (1912). René de Romiguières (René Navarre, der zukünftige Fantômas) hat die schöne Suzanne (Suzanne Grandais) geheiratet. Das Paar verbringt die Flitterwochen in einem Schloss in den Cevennen. Der Geschäfte wegen wird René nach Paris gerufen. Dort geht er ins Kino, wo ein Film mit dem Titel "Onésime Vagabond" läuft. Der Vagabund gerät in eine Auseinandersetzung mit der Polizei, und René entdeckt plötzlich eine Frau auf der Leinwand, die aussieht wie Suzanne. Die Dame ist in Begleitung eines fremden Mannes und verbirgt ihr Gesicht, als sie die Kamera bemerkt.

Der Film im Film fragt nach dem Zusammenhang zwischen Fiktion und Wirklichkeit, indem er - um in Feuillades Diktion zu bleiben - das Leben, so wie es ist und das Kino vermischt. Neugierig, verwundert oder erschrocken in Richtung Kamera schauende Passanten gab es damals oft, weil die Filmteams bei guten Lichtbedingungen gern das Atelier verließen und weder eine Genehmigung einholten noch den Schauplatz absperrten, wenn sie auf den Straßen von Paris drehten. In diesen Momenten brach das Unerwartete und schwer zu Kontrollierende in die dem Drehbuch folgende Filmhandlung ein. Feuillade macht daraus einen Teil der Inszenierung, eingebettet in einem von ihm nachgestellten Film der Onésime-Reihe, mit dem Komiker Ernest Bourbon als Darsteller seiner selbst - oder genauer: seiner Leinwand-Persona in den Slapstick-Filmen von Jean Durand (siehe Folge 1)-, in einer vom damaligen Publikum im Kino gesehenen Kinoszene und mit dem Filmstar Suzanne Grandais in der Rolle einer unfreiwilligen Statistin. Ein so komplexes Spiel mit Sein und Schein, mit der Wirklichkeit und deren Abbild kennt man vor allem von der Postmoderne. Feuillade war schon vorher da.

René de Romiguières will es jetzt wissen. Er kauft eine Kopie des Films, nimmt die Einzelbilder mit der darauf zu sehenden Passantin unter die Lupe, und tatsächlich: es ist Suzanne mit einem unbekannten Mann. Für René ist das der kinematographische Beweis, dass seine Frau eine dunkle, vor ihm geheimgehaltene Vergangenheit hat. Mit Mord im Herzen fährt er zurück in die Cevennen. Im Schloss werden wir ihn erneut beim Betrachten des Filmstücks sehen, auf dem Suzanne gegen ihren Willen festgehalten wurde. Das Stück hat er herausgeschnitten (aus dem Zusammenhang gerissen), um es in eine Eifersuchtsgeschichte mit zwei Autoren einzubauen. Der eine ist Feuillade als Verfasser des Drehbuchs. Der andere ist de Romiguières selbst, dessen Phantasie die Version einer mutmaßlichen Wirklichkeit erschafft, in der er die Rollen der handelnden Personen vergibt.

Erreur tragique

Suzanne ist die untreue Ehefrau, der Unbekannte ihr Liebhaber, und de Romiguières ist der gehörnte Ehemann, der sich für die ihm angetane Schmach rächen will, indem er die Ehebrecherin ermordet. Wir haben also ein Stück vom echten Leben (Suzanne und der Unbekannte, die in die Filmaufnahme geraten) innerhalb einer erfundenen Filmhandlung mit dem Komiker Onésime, die der vermeintlich Betrogene herausschneidet und mit dem Auge des eifersüchtigen Gatten betrachtet, um sodann ein Ehebruchsdrama daraus zu konstruieren, das beinahe mit dem echten Tod der Gattin enden würde (den von René herbeigeführten bzw. inszenierten Unfall bei einer Kutschfahrt überlebt Suzanne nur knapp), obwohl ihr vermeintliches Verbrechen, die Affäre mit dem Unbekannten, ein Produkt der Phantasie ist (der Mann im Film erweist sich als Suzannes Bruder).

Ich kenne keinen anderen Regisseur aus den Anfangsjahren der Kinematographie, der auf eine so intelligente Weise über das Wesen des neuen Mediums reflektiert hätte wie Louis Feuillade. Zum Verwirrspiel rund um Sein und Schein, um die Realität und deren fiktive Reproduktion (oder ist es doch umgekehrt?) gehört mit dazu, dass die Hauptfiguren dieselben Vornamen haben wie ihre Darsteller. In einem Text wie diesem, der darin seinen Ausgang nimmt, dass zwei Varianten eines Namens zur Aberkennung der Identität ihres Trägers führen, kann das nicht unerwähnt bleiben. Acht Jahre nach Erreur tragique und dem Unfall mit der Kutsche, der um ein Haar tragisch enden würde, setzte die Wirklichkeit eine böse, in der Rückschau ein wenig unheimlich wirkende Schlusspointe. 1920 kam Suzanne Grandais bei einem Autounfall ums Leben, während der Dreharbeiten zu einem Episodenfilm.

What’s Next?

Inzwischen hatte mir der Kundenservice der DHL eine Antwort auf meine Mail geschickt. Was würde da wohl drinstehen? Etwas in der Art vielleicht: "Sehr geehrter Kunde, der Jugendschutz ist uns sowas von piepegal. In Deutschland ist die Demokratie eine vergleichsweise neue Erfindung, mit der wir uns noch immer schwer tun. Davor gab es eine jahrhundertelange Untertanengeschichte. Das prägt und wirkt weiter fort. Wir leben hier in einem Land mit einer langen autoritären Tradition, dessen Bewohner Regeln und Verbote mögen auch wenn sie Unsinn sind und sich nur zu gern die Illusion von Ordnung und Sicherheit vorgaukeln lassen, weil sie dann gut schlafen können. Eine dieser Regeln exekutieren wir mit penibler Genauigkeit und ohne Rücksicht auf Verluste, damit uns keiner vorwerfen kann, dass wir gegen sie verstoßen haben und wir aus dem Schneider sind, wenn es Ärger geben sollte. Der Rest geht uns nichts an."

Nein, selbstverständlich nicht. Niemals würde sich ein deutsches Großunternehmen einer so verluderten Sprache bedienen, das Nachdenken über die deutsche Liebe zum Verbot gehört nicht ins Ressort der DHL, und Regeln muss es für ein geordnetes Zusammenleben nun mal geben. Allerdings will ich schon sagen, dass vom Schutz der Jugend nicht die Rede war. Wie üblich ging es um Regeln, nicht um Inhalte oder um die Resultate dieser Regeln. Das Wort "Jugendschutz" oder einen anderen Begriff aus diesem Themenfeld hörte ich nicht ein einziges Mal, als ich um mein Paket kämpfte. Die Protagonisten des Regelvollzugs hatten entweder vergessen, was ursprünglich Sinn und Zweck der Maßnahme gewesen war, oder Fragen nach dem tieferen Sinn waren schlicht nicht vorgesehen, weshalb sie auch keine Antwort darauf gaben.

"Sehr geehrter Herr Schmid", schrieb mein freundlicher Kundenbetreuer (die eigenwillige Kommasetzung ist von ihm und nicht von mir), "bei einer Ident-Sendung werden nur die Angaben die sie bei Ihrer Bestellung eingegeben haben mit Ihrem Personalausweis verglichen. Diese müssen übereinstimmen. Das heißt auch wenn Sie zusätzlich eine Heiratsurkunde, zur Bestätigung Ihres Familiennamens vorlegen, darf die Filiale dies nicht anerkennen. Der Absender hat mit uns einen Vertrag geschlossen, dass die Sendung nur mit kompletter Übereinstimmung vom Ident-Blatt und Personalausweis, herausgegeben werden darf."

Die Bestätigung meines Familiennamens war unstrittig. Schmid ist Schmid ist Schmid. Das hatte nicht einmal die Chefin der Postfiliale in Zweifel gezogen. Ich hatte wissen wollen, warum man mir mein Paket nicht geben kann, wenn der Empfänger Hans heißt und im Ausweis Johann steht, bei identischer Adresse und unter Vorlage der vom Zusteller hinterlassenen Benachrichtigung. Mit etwas Abstand frage ich mich, ob mich mein Betreuer wirklich missverstanden hatte, oder ob er trickreich das Problem umschiffte. Im Zeitalter der politischen Korrektheit kann man nie sicher sein. Am Ende heißt es, man diskriminiere die Träger alter deutscher Namen, die das Pech haben, dass es - anders als bei Importen wie Kevin oder Chantal - mehrere Varianten davon gibt. Wenn es dumm läuft ist sonst nichts los, mit dem man ins Fernsehen kommt, und ein Rechtspopulist fordert wegen undeutscher Umtriebe zum Boykott der DHL auf. Ich möchte hinzufügen, dass der Kundenbetreuer, der hier anonym bleiben soll, einen abkürzungsfähigen Vornamen hat. Somit ist auch er in Gefahr, dass man ihm die Identität abspricht. Das kann er nur verhindern, indem er sich genauestens an die Regeln hält, wenn er mal einen importierten Kinderfilm ohne FSK-Freigabe bestellen will.

Angesichts der ganzen Erbsenzählerei möchte auch ich auf Genauigkeit bestehen. Es ist nicht so, dass ich meine Identität nicht nachweisen konnte, wie von der Chefin behauptet. Ich konnte die Regeln des Verfahrens nicht einhalten, mit dem Post und DHL die Identität überprüfen. Meinem Kundenbetreuer muss ich sagen, dass das Verb "übereinstimmen" schwammig und ungenau ist. So geht das nicht, wenn man die Jugend schützt. "Übereinstimmen" ist durch "identisch sein" zu ersetzen. Hans kriegt das Paket für Hans und Johann das für Johann, aber kein Hans das für Johann, auch nicht wenn er ein und derselbe ist. Darauf, wer ich bin, kam es bei dieser Maßnahme zum Schutz der Jugend so wenig an wie auf den Inhalt des Pakets. Nicht Hans muss mit Johann identisch sein (da würde man sich mit dem vor einem stehenden Menschen beschäftigen müssen, und so etwas ist lästig), der Name des Empfängers muss mit dem Namen im Ausweis des Empfängers identisch sein.

Alle Hans-Jürgens, Hans-Dieters usw. aufgemerkt: Der Bindestrich kann über sein und Nicht-Sein entscheiden, wenn man in der Postfiliale beweisen soll, dass man der ist, der man ist. Ich hatte Feuillade, Alice Guy und Léonce Perret nicht mit den Vornamen in meinem Personalausweis (Johann Michael) bestellt, sondern unter dem Namen (Hans), den ich mein Leben lang getragen habe und mit dem sich darum wohl oder übel meine Identität verknüpft. Indem ich an dieser meiner Identität festgehalten hatte kam ich in eine Lage, in der mir die Chefin sagen durfte, in Übereinstimmung (um das Betreuer-Wort zu verwenden) mit den Regeln des von Deutscher Post und DHL praktizierten "Ident-Verfahrens", dass ich meine Identität nicht nachweisen konnte. Wer zu sehr an seiner Identität hängt fällt bei dieser Identitätsprüfung glatt durch.

Bei "auch wenn Sie zusätzlich eine Heiratsurkunde, zur Bestätigung Ihres Familiennamens vorlegen", nehme ich an, vergriff sich der Herr vom Kundendienst im Textbaustein, als er die Antwort bastelte. Die überraschende Information zeigt mir jedoch, welch unverdientes Glück ich hatte. Man stelle sich vor, ich wäre eine Blitzehe eingegangen, in der irrigen Annahme, dadurch an mein Paket zu kommen. Kann so eine Verbindung glücklich sein? Ich glaube nicht. Am meisten leiden die Kinder, wenn Mama und Papa dauernd streiten, weil sie unter falschen Voraussetzungen geheiratet haben. Ein Trauschein hilft demnach nicht, wenn die FSK keine Freigabe erteilt hat. Wie wäre es mit einem ADAC-Ausweis, im Land der freien Fahrt für freie Bürger? Oder eine Promotionsurkunde, kann die beim Identitätsnachweis helfen? Wobei: Da lauert schon die nächste Klippe. Dr. Johann (aka Hans) ist nicht identisch mit Johann (aka Hans). Ich habe es versäumt, den Dr. in meinen Personalausweis eintragen zu lassen. Wenn die DHL ihre Regel zur Identitätsprüfung ernst nimmt kann ich mir unter Angabe meines rechtmäßig erworbenen Doktortitels vom deutschen Versandhandel keine DVD ohne FSK-Freigabe schicken lassen - nicht Disneys Dschungelbuch, nicht die Blumenkohlfee von Alice Guy und keine Rammelfilme. Unterschiede werden nicht gemacht, da es um den Schutz der Jugend geht (aktuelle Empfehlungen des in Folge 2 erwähnten Porno-Portals mit der Filmkunstnische: My Sister Likes It Rough, My Sister Let Me Cum On Her Face und What’s Next? II).

Monotonie

Ich will nicht unbedingt darauf bestehen, dass ich mich nun in Kafkas Welt befand, denn über Nacht in einen Käfer verwandelt wie Gregor Samsa hatte ich mich nicht. In der unübersichtlichen, nach Verschwörungstheorien dürstenden Welt von Louis Feuillade und Jacques Rivette aber, in der war ich mittlerweile weit vorgedrungen. Mein Paket hatte ich nicht bekommen. Doch wer war schuld daran? Am einfachsten ist es, auf die Schwächsten loszugehen. So machen es die besorgten Bürger, die mit der Regierung unzufrieden sind, mit ihrem Leben oder mit der Hütte, in der sie wohnen und das zum Anlass nehmen, Flüchtlingsunterkünfte anzuzünden und kleine Kinder in einem Bus zu terrorisieren. Der Schwächste wäre in meinem Fall der unterbezahlte Paketzusteller, der das Verfahren zur Identitätsprüfung umgangen und die Benachrichtigungskarte in meinen Briefkasten geworfen hatte, weil ihm in einem auf Tempo und Effizienz getrimmten System für klingeln, kurz warten und sich den Ausweis zeigen lassen keine Zeit blieb. Ihn zur Rechenschaft zu ziehen und somit den sprichwörtlichen Sack zu schlagen, obwohl der Esel gemeint ist, kommt nicht in Frage. Ein besorgter Bürger will ich nicht werden.

Doch wer ist der Esel? Ich räume ein, dass mir die Chefin der Postfiliale herzlich unsympathisch ist, weil ich Leute generell nicht leiden kann, die mir unsinnig erscheinende Regeln exekutieren und nachvollziehbare Erläuterungen zur Sinnhaftigkeit der Maßnahme durch den Verweis auf das Regelwerk ersetzen. Die Chefin böte sich also an. Noch besser wäre die Angestellte mit dem Migrationshintergrund. Nehmen wir doch die. Ausländer verweigern deutschen Bürgern ihr Postpaket, weil sie einen alten deutschen Namen tragen! Deutsche Arbeitgeber schauen zu! Wieder nicht so einfach. Ich habe die Chefin nicht gefragt (das dauernde "Sie konnten Ihre Identität nicht nachweisen!" war nicht gesprächsfördernd), gehe aber davon aus, dass auch sie einen dieser in der Kundendienst-Mail erwähnten Verträge unterschreiben musste, ehe sie im Auftrag der DHL zur Identitäts- und Altersprüfung schreiten durfte. Wenn in dem Vertrag steht, dass der Name im "Ident-Blatt" und der im Personalausweis identisch sein müssen, riskiert die Chefin im schlimmsten Fall den Lizenzentzug durch die DHL und damit ihre berufliche Existenz, wenn sie mir das Paket aushändigt, obwohl der Empfänger Hans heißt und nicht Johann wie im Ausweis. Guten Gewissens kann ich das nicht von ihr verlangen. Der schlimmste Fall tritt selten ein und bestimmt doch oft das Handeln.

Weit sind wir nicht gekommen, seit Alice Guy den Film mit der zur Ableckmaschine degradierten Zofe drehte, auch wenn es jetzt selbstklebende Briefmarken gibt. Wer möchte in einem Laden arbeiten, in dem man stupide Tätigkeiten ausüben muss wie die, die Buchstaben auf einem Ausweis mit denen auf einem Paket zu vergleichen, solange noch keine Software installiert ist, die es erledigt? Arbeitsforscher haben das Bore-out-Syndrom längst als ernst zu nehmendes Problem erkannt: Ermüdungserscheinungen bei Erwerbstätigen (bis hin zur Krankheit) durch Unterforderung, Überregulierung sowie einen Mangel an Entscheidungskompetenz und die daraus resultierende Langeweile. Experten zufolge ist Deutschland für das Bore-out besonders prädestiniert, weil hier der Hang zu strengen Vorgaben und zur Einschränkung des Handlungsspielraums der Angestellten größer ist als in anderen Ländern.

Die Konsequenzen reichen von der zunehmenden Unaufmerksamkeit über einen Anstieg krankheitsbedingter Fehlzeiten bis hin zum Landesverrat. Der Archivar des Bundesnachrichtendienstes, der 2014 aufflog, weil er Staatsgeheimnisse an die Amerikaner weitergereicht hatte, gab als Tatmotiv Langeweile an. Beim BND musste er trotz seiner in jahrelanger Ausbildung erworbenen Qualifikationen monotone Arbeiten erledigen, er kam sich vor wie ein Trottel; bei der CIA fühlte er sich und seine Fähigkeiten gewürdigt. Die Film-Spione, die ich so kenne, deponieren ihre Dossiers in toten Briefkästen und verschicken sie nicht mit der Post. Aber was ist, wenn jemand tagaus tagein überprüfen muss, ob Schmid und Schmid identisch geschrieben sind, oder ob sich ein Schmidt eingeschlichen hat? Dann steht plötzlich einer in der Schlange, der laut Ausweis Johann heißt und ein Paket für Hans abholen will.

Das könnte die ersehnte Abwechslung sein, zu der die Forschung rät, um dem Bore-out vorzubeugen. Dafür müssten die Chefin und ihre Angestellte selbständig entscheiden dürfen, ob ein Johann auch mal ein Hans sein kann. Offenbar hat das die DHL verboten, weil hier zwar nicht die Jugend, aber doch das Postident-Verfahren geschützt wird und nicht die körperliche und geistige Gesundheit der armen Leute in der Postfiliale. Idiotensicher muss es sein und idiotensicher heißt monoton und monoton heißt nachlassende Aufmerksamkeit und angegriffene Gesundheit. Eines Tages wird die Angestellte krank und es kommt zu Tumulten unter den Hausfrauen und Rentnern in der Warteschlange, weil die Chefin den Andrang allein bewältigen muss. Oder die Angestellte händigt einem 17-jährigen die Flipper-DVDs ohne FSK-Freigabe aus, weil sie vergessen hat, neben der korrekten Schreibung des Namens auch das Alter zu überprüfen. Im Worst-Case-Szenario ist ein Pornofilm im Paket. Was dann?

Die Chefin und ihre Angestellte sind also auch nur Opfer. Als Bösewichte scheiden sie aus. Wer bleibt übrig? Der Versandhändler muss die Regel zur "kompletten Übereinstimmung" per Vertrag akzeptieren, weil er sonst mit Post und DHL nichts verschicken kann. Der Herr im Callcenter der DHL konnte mir nur vorlesen, wo ich wohne. Der Verfasser der Mail beantwortet Fragen mit Hilfe eines Textbaukastens. Den Mitarbeiter von der obersten Landesjugendbehörde, der nebst sechs anderen Damen und Herren in einer der Siebenergruppen sitzt, die darüber entscheiden, wer was ab welchem Alter sehen darf, weil das mit staatlicher Zensur rein gar nichts zu tun hat, kann man vergessen. Die Freiwillige Selbstkontrolle prüft nur auf Antrag und kann nichts dafür, wenn im Ausland erschienene DVDs keinen ihrer Freigabe-Aufkleber haben. Wahrscheinlich wäre das anders gar nicht möglich. Hollande würde sich bei seiner Freundin Angela schön bedanken, wenn so eine doch sehr deutsche Organisation wie die FSK bestimmen würde, für welche Altersgruppe eine in seinem Land gepresste DVD geeignet ist. Marine Le Pen würde ihn am Nasenring durch die Manege führen.

So funktionieren sich selbst abdichtende Systeme. Alle sind irgendwie beteiligt und keiner ist verantwortlich, weil sein Zuständigkeitsbereich woanders liegt. Auf diese Weise kann es immer weitergehen wie bisher. So ist man es gewohnt, Gewohnheit schafft ein Gefühl von Sicherheit, so soll es bleiben. Und der Jugendschutz ist sowieso das Totschlagargument, mit dem man jede Diskussion im Keim erstickt, weil man da die Alternativlosigkeit schon zum obersten Gebot erklärt hatte, als Angela Merkel noch FDJ-Sekretärin für Kultur oder was auch immer war. Im besten Fall richten sich selbst abdichtende Systeme keinen wirklichen Schaden an. Wen genau sie schützen weiß ich nicht. Und überhaupt: Was können die Bestimmungen zum Jugendschutz dafür, wenn sich die Wirklichkeit nicht an die Regeln hält und die Kinder einfach runterladen, was wir den Erwachsenen verwehren, wenn sie an der Identitäts- und Altersprüfung durch die Post AG gescheitert sind?

Hier noch schnell mein User-Tipp: Viele von den Filmen in der DVD-Box, die ich nicht haben durfte, kann man bei YouTube finden. Wer sich jetzt fragt, was die Aufregung dann soll: Diese Filme konnten nur hochgeladen werden, weil sie auf DVD erschienen waren. Der Markt für Stummfilme ist klein. Mit jeder verkauften DVD, auch nach Deutschland, steigt die Chance, dass es weitere Nischenprodukte aus diesem Segment geben wird (und in der Folge wieder bei YouTube). Die Hürden, die hier errichtet werden, schrecken deutsche Käufer eher ab. Wie gut, dass es den ausländischen Versandhandel gibt, und das Ausland überhaupt. So lassen sich die Regeln für die digitalen Analphabeten unter den Kindern und für infantilisierte Erwachsene elegant umsurfen und man ist nicht gezwungen, in der vordigitalen Parallelwelt zu leben, die der Jugendschutz für uns verteidigt bis zum letzten Buchstaben im Namen des Empfängers.

Kein Platz für Jacques Rivette

"Die reale Welt", schrieb Jacques Rivette 1963 in den Cahiers du cinéma, "ist eher wuchernd, eine Mischung unzusammenhängender, partieller und bisweilen widersprüchlichster Informationen, deren unablässige Überschneidungen eine immer wieder erneuerte und geschwürartige Entropie absondern, und außer einigen erleuchteten Augenblicken (wie die Offenbarung einer Liebe, oder des Kunstwerks, bestimmter Landschaften) ein ziemliches Durcheinander." Kunstwerk, Offenbarung einer Liebe als Lichtblick und Schutz gegen die Entropie (gemeint ist der Zerfall eines Systems durch eine sich abdichtende Überorganisation): Nach Blockbuster klingt das nicht. Der Text hat den Titel "Notiz zum kommerziellen Misserfolg". Der Regisseur für die großen Publikumsrenner war Rivette eher nicht. Doch bei der Kunst kommt es auf die Qualität an, nicht auf die Quote. Darum hat man - mit wenigen Ausnahmen - schnell vergessen, wer im letzten Monat oder im letzten Jahr den Oscar gewonnen hat. In Erinnerung bleiben andere Filme, Schauspieler und Regisseure.

In Frankreich gilt Jacques Rivette als der zugleich intellektuellste und verspielteste Regisseur der Nouvelle Vague, als ein Freigeist, dem es mit vielen seiner Filme gelang, das Kino ein Stück weit neu zu erfinden (was nur möglich war, weil er sich der chaotischen, vom Entdeckergeist einer Alice Guy oder eines Louis Feuillade getragenen Ursprünge der Kinematographie bewusst war und er auf diesen aufbauen konnte). Nach seinem Tod meldeten sich Filmschaffende und Persönlichkeiten aus ganz unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft zu Wort. Über einen kleinen Kreis von Cineasten ging das weit hinaus. Die Kulturministerin pries Rivette als einen Meister des Liebesfilms (nicht zu verwechseln mit deutschen TV-Schmonzetten), der Kino nicht nur gemacht, sondern es gelebt und uns auf die andere Seite des Spiegels mitgenommen habe, in eine Welt des Phantastischen und der Phantome, wo das Übernatürliche die Realität hinterfrage. François Hollande würdigte ihn als einen der größten Filmemacher überhaupt.

Damit sind wir zurück bei Mario Fortunato und seinem Gedanken, dass ein kriselndes, vom Weg abgekommenes Europa nur zurück zu seiner Identität finden wird, indem es sich mit seinen Künstlern beschäftigt, die diese Identität erst geschaffen haben. Das mag eine romantische Idee sein, aber einen Versuch wäre es doch wert. Kultur kann eine Brücke bauen. Wir bauen das gemeinsame Haus Europa. Tun wir kurz so, als ob das nicht nur Phrasen wären, die man gern für Sonntagsreden nimmt, um sich am Montag wieder der Börse, dem Zäunebauen und dem Schutz der Automobilindustrie vor allzu strengen Abgasregeln zuzuwenden. Wie reagieren wir, wenn in der Nachbarwohnung, bei den von Erzfeinden zu Freunden und zu unserem wichtigsten Partner in der EU gewordenen Franzosen, jemand stirbt, den man dort für einen der größten Filmemacher überhaupt hält? Interessiert uns das?

Da hier dauernd von der mancherorts bereits für tot erklärten DVD die Rede ist will ich mich bei meiner Stichprobe auf etwas noch Altmodischeres konzentrieren: auf das öffentlich-rechtliche Fernsehen, das für einen signifikanten Teil der Deutschen nach wie vor das Leitmedium ist. Die Intendanten und Programmchefs sind in ihrem Bemühen, alles in die diversen Spartenkanäle auszulagern, was nicht Krimi, Talkshow oder Sport ist, weit vorangekommen. Da es bisher kein Gesetz gibt, das einen zwingt, bei so etwas mitzumachen, will ich nur wissen, wie die Hauptprogramme von ARD und ZDF reagierten, als mit Jacques Rivette ein bedeutender europäischer Künstler starb. Zwischen den vielen Tiersendungen, Boulevard-Magazinen, Kochsendungen, Sokos, Schmunzelkrimis und Quiz-Shows ist für so etwas kein Platz. Das versteht sich ganz von selbst. Aber was ist mit den wichtigsten Nachrichtensendungen von ARD und ZDF? Wie berichteten sie über den Tod von Jacques Rivette am 29. Januar 2016?

Für die regulär um 19 Uhr beginnende heute-Sendung starb er am falschen Tag, weil die verkürzte Ausgabe in die Halbzeitpause eines Handballspiels gepresst war und Wichtigeres zu vermelden hatte. Die Tagesschau um 20 Uhr schlug sich besser. Es gab ein Photo von Rivette. Der Mann, sagte die Sprecherin, war ein Mitbegründer der Nouvelle Vague, was auf Deutsch "Neue Welle" heißt. Der Filmbeitrag zum Totengedenken war für Artur Fischer reserviert, den Erfinder des Plastikdübels. Herrn Fischer gönne ich die Sendezeit durchaus. Ihm verdanken wir den Fischer-Baukasten und ein im richtigen Moment auszulösendes Blitzlicht, seine Erfindungen machte er am liebsten unter der Dusche, und wahrscheinlich hätten wir den Spreizdübel noch immer nicht, wenn Fischer vorher angefragt hätte, welche Regeln beim korrekten Erfinden zu beachten sind.

ARD-Tagesthemen. Screenshots: Hans Schmid

Aber in den Tagesthemen der ARD, denkt sich der bange Filmliebhaber, da wird Rivette ausführlicher gewürdigt werden, auch wenn er ein Franzose war, niemals einen Tatort gedreht hat und wahrscheinlich gar nicht wusste, wer Rosamunde Pilcher und Helene Fischer sind. Leider Fehlanzeige. Die Redaktion der Sendung hat das Fachpersonal für europäische Kultur längst eingespart, oder die bei der ARD beschäftigten Cineasten, so es sie geben sollte, konnten sich nicht durchsetzen. Wiederholt wurde eine leicht modifizierte Version des Beitrags zum Tod des Dübel-Königs. Die USA-Korrespondentin berichtete über Donald Trump, der sich geweigert hatte, an einer vom Sender Fox veranstalteten Befragung der republikanischen Präsidentschaftsbewerber teilzunehmen und stattdessen seine private Pressekonferenz gab, die ein Konkurrenzsender live übertrug. "Über seine Medienpräsenz, so scheint es", sagte die Korrespondentin, "bestimmt Donald Trump ganz allein." Und bei der ARD? Wer bestimmt da, welche Leute in den Medien präsent sind und welche nicht? Wer hat den Zaun gebaut, der verhindert, dass die Fernsehzuschauer Künstlern wie Jacques Rivette begegnen? Rivette kam nicht mehr vor.

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