Eine Person ohne Weiteres verschwinden lassen

Der Fall al-Marri und der Marty-Bericht

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Ginge es nach den Vorstellungen der Regierung, so könnte die Exekutive ohne Weiteres eine beliebige Person ohne amerikanischen Pass herausgreifen, sie ohne großen Aufwand in einem Militärgefängnis verschwinden lassen und „die Schlüssel zum Gericht einbehalten“, so ein namhafter Jurist aus dem Verteidigungsstab von Ali al-Marri gegenüber der New York Times.

Am 12. Dezember 2001 war der Mann aus Qatar, der mit seiner Familie in Illinois lebte und studierte, verhaftet worden. Ihm wurde Scheckkartenbetrug und falsche Angaben gegenüber Bundesbeamten vorgeworfen, zu einer Verhandlung kam es aber nie. Der wahre Grund für seine Festnahme liegt auch woanders: Er sei eine Gefahr für die Vereinigten Staaten, so das Justizministerium, das al-Marri verdächtigt, ein Schläfer der al-Qaida zu sein. Von 2003 bis heute verbrachte al-Marri deswegen in „military detention“ als „enemy combatant“. Gestern nun entschied ein Berufungsgericht, dass die Verwahrung unter diesem Titel ungesetzlich sei.

Der Fall al-Marri erzählt die x-te Variation einer Geschichte, die früher vor allem in Drehbüchern zu finden war: Ein Mann wird verhaftet, weil gegen ihn ein schwerwiegender Verdacht vorliegt. Ohne Gerichtsverhandlung, welche die Beweise für die tatsächliche Schuld des Mannes überprüft, wird er festgehalten, Aussichten auf Freilassung: ungewiß. Ganz offensichtlich steht eine solche Praxis im Widerspruch zu den Grundlagen eines Rechtsstaates, wie auch das Gericht in Richmond in seinem Urteil wieder betonte:

Würde man solche Macht des Präsidenten, der das Militär dazu autorisiert, Zivilisten festzunehmen und sie unbefristet festzuhalten, absegnen, würde das verheerende Konsequenzen für die Verfassung und das Land haben, selbst wenn der Präsident die Zivilisten als „enemy combatants“ bezeichnet.

Dass das Urteil auch ein politisches ist, zeigt allein schon, dass zwei der drei Richter aus dem Kollegium des Berufungsgericht, die gegen die Gesetzlichkeit der militärische Inhaftierung von al-Marri stimmten, noch von Clinton nominiert wurden - der Mann, der dagegen stimmte, wurde von Bush nominiert. Es geht darum, wie wichtig und verbindlich ein Rechtsstaat seine Rechtsstaatlichkeit nimmt. Immerhin wird mit diesem Begriff auch nach außen kräftig Politik gemacht und zum Teil auch das militärische Eingreifen in andere Länder begründet (Stichwort Demokratisierung in Afghanistan und Irak).

Die Freiheit, die Präsident Bush in jeder seiner Reden hervorhebt, die auch in den Namen von Feldzügen („Operation Enduring Freedom“) auftaucht, ist der komplementäre Begriff dazu. Was passiert, wenn die konstitutionellen Begriffe Rechtstaatlichkeit und Freiheit ausgehöhlt werden, opportun nach den Anforderungen der politischen Situation benutzt, ist noch nicht abzusehen. Dass dies seit Ausrufung des Global War on Terror im September 2001 auch in Europa geschieht, daran läßt der jüngste Bericht des Europarat-Sonderermittlers Dick Marty keinen Zweifel mehr.

Schwere Vorwürfe erhebt der Schweizer Marty darin gegenüber europäischen Ländern, insbesondere gegenüber Deutschland, Italien, England, Polen und Rumänien, die bei unrechtmäßigen Praktiken des amerikanischen Geheimdienstes CIA mehr oder weniger stark mitarbeiteten.

Die Enthüllung der Washington Post im Jahre 2005 (vgl. Geheimgefängnis der CIA in Polen oder Rumänien?) haben die Verschleppungen von Verdächtigen und die Existenz von Geheimgefängnissen zum ersten Mal in größerem Maß publik gemacht. Seither weiß man, wovon die Rede ist, wenn es um das Rendition-Programm der CIA geht: Entführungen von Personen, die des Terrorismus verdächtigt werden, deren Transport mit Flugzeugen über z.T. Tausende von Kilometern in ein Land, das den rechtsfreien Raum eines Geheimgefängnisses zur Verfügung stellt, fragwürdige, folterähnliche Verhörmethoden (“enhanced interrogation techniques”), unbefristete Inhaftierung unter sehr harten Bedingungen.

Untergegangen im G-8-Radau: der Marty-Bericht

Wie das konkret aussehen könnte, bis hin zum Frühstück in der engen, kalten, finsteren Isolationszelle beschreibt Dick Marty in seinem Bericht, der sich teilweise so spannend liest wie das Skript zu einem Thriller. Publik gemacht wurde der Marty-Bericht am 8.Mai. Wegen des G8-Gipfels hatte er leider nicht die Aufmerksamkeit, die er verdient hätte. Ohnehin, so der Eindruck, schweigt man über diese Angelegenheiten lieber. Das Schweigen ist aber ein großer Skandal, so Marty, der europäischen Regierungen vorwirft, dass sie ihre Mitwirkung bei verfassungswidrigen Aktionen hinter dem Deckmantel „Staatsgeheimnis“ verschleiern.

This export of illegal activities overseas is all the more shocking in that it shows fundamental contempt for the countries on whose territories it was decided to commit the relevant acts. The fact that the measures only apply to non-American citizens is just as disturbing: it reflects a kind of “legal apartheid” and an exaggerated sense of superiority. Once again, the blame does not lie solely with the Americans but also, above all, with European political leaders who have knowingly acquiesced in this state of affairs.

Er habe gearbeitet und recherchiert wie ein Geheimagent, schreibt Marty, der schon mit dem ersten Satz für einen Paukenschlag sorgt: „Was bisher nur Vorwürfe waren, ist jetzt bewiesen...“ Wie, das steht dann auf den nächsten 72 Seiten. Es lohnt sich, sie durchzulesen, denn die Beweiskraft erwächst aus der Stringenz der Abläufe und Zusammenhänge, die Marty im Detail aufdeckt. Die Beweise bauen auf Daten von Fluglisten, Aussagen von unzähligen Quellen aus dem Geheimdienst-und Regierungsmilieu, anderer Beteiligter und der Kombination verschiedener Aussagen. Namentlich genannt werden nur die politisch Verantwortlichen, die anderen Quellen bleiben anonym. Weswegen es die beschuldigten Regierungen bzw. Skeptiker vorziehen, von „fehlenden Beweisen“ im Bericht des Schweizer Sonderermittlers zu sprechen. Das Ass, das Marty noch im Ärmel hält, ist, dass sich einige seiner Informanten noch entscheiden könnten, doch noch offiziell mit Namen auszusagen.

...the analysis of thousands of international flight records – and a network of sources established in numerous countries. With very modest means, we had to do real “intelligence” work. We were able to establish contacts with people who had worked or still work for the relevant authorities, in particular intelligence agencies. We have never based our conclusions on single statements and we have only used information that is confirmed by other, totally independent sources. Where possible we have cross-checked our information both in the European countries concerned and on the other side of the Atlantic or through objective documents or data. Clearly, our individual sources were only willing to talk to us on the condition of absolute anonymity. At the start of our investigations, the Committee on Legal Affairs and Human Rights authorised us to guarantee our contacts strict confidentiality where necessary.

In seinem zweiten Bericht zum “High-Value Detainee” Programm schildert Marty sehr konkret, wie die CIA und verschiedene Institutionen der Länder, die mit dem Programm in Berührung kamen, zusammenarbeiteten. Bis hin zur genauen Ortsangabe der geheimen Gefängnisse, die in Polen und Rumänien existiert haben.

The vans then drove less than two kilometres along a simple tarmac road, lined by thick pine forest on both sides, through an area which was entirely out of bounds to private or commercial vehicles during these procedures, having been cordoned off for “military operations”; at the end of the tarmac road, the vans travelled north-east beyond Szczytno for approximately 15 to 20 minutes before joining an unpaved access road next to a lake; at the end of this access road they reached an entrance of the Stare Kiejkuty intelligence training base, where multiple sources have confirmed to me that the CIA held High-Value Detainees (HVDs) in Poland.

Die geheimen Straflager, das stellt der Marty-Bericht klar, wurden ausschließlich und direkt von der CIA betrieben. Lokale Angestellte wußten nur notwendige Teile der Wahrheit. Doch, so der Vorwurf Martys, die höchsten Amtsträger der jeweiligen Länder wussten genau Bescheid über die Aktivitäten der CIA, die in keiner Weise den rechtsstaatlichen Grundlagen der Länder entsprachen.