Eine Vergangenheit zum Wohlfühlen

Zum 60ten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs

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Zum 60ten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs überkreuzen sich die Diskurse. Verschiedenen Aktualisierungen des Kriegsende steht ein neuer, vielleicht unbefangener, aber keineswegs "normaler" Umgang der Deutschen mit ihrer jüngeren Geschichte gegenüber. Der deutschen Sehnsucht, auch Opfer zu sein, einer neuen Weinerlichkeit im öffentlichen Umgang mit der eigenen Rolle als Volk der Menschheitsverbrecher, steht Götz Alys kühle These von der "Wohlfühl-Diktatur" gegenüber. Kommende Woche wird das Berliner Holocaust-Mahnmal offiziell eingeweiht. Ein "Schlussstrich" bleibt weit entfernt. Aber ein neuer Abschnitt der deutschen Geschichtspolitik hat längst begonnen.

Befreit wurden am 8. Mai 1945 alle Deutschen - vom Terror der Nazis, vom Krieg, aus Konzentrationslagern, vielleicht sogar "vom Bösen", vor allem aber von sich selbst. Befreit wurden die Deutschen von einem Deutschland, das moralisch, politisch und ästhetisch bankrott war. Am 8. Mai ging Deutschland unter. Ein Deutschland, das von seinem Selbstverständnis her ein tausendjähriges Reich hätte sein wollen, ein Imperium, welches die Welt sich Untertan machen wollte; ein Deutschland, das sich selbst, allen modernen Charakterzügen seines Staatsapparats zum Trotz, als Gegenentwurf zur Moderne begriffen hatte.

20 Uhr und 3 Minuten. Reichssender Flensburg und die angeschlossenen Sender. Aus dem Hauptquartier des Großadmirals, den 9. Mai 1945: Seit Mitternacht schweigen an allen Fronten die Waffen. Die deutsche Wehrmacht ist am Ende einer gewaltigen Übermacht ehrenvoll unterlegen.

Letzter Wehrmachtsbericht

Ein anderes Deutschland war schon viel früher untergegangen. Das Deutschland der Dichter und Denker hatte sich als nicht resistent erwiesen gegen die reaktionäre Revolte. Sein materielles Ebenbild, das Deutschland der vormodernen romantischen Idylle, der Fachwerkhäuser und Kulturschätze, ging in den Bombennächten in Flammen auf oder wurde von den Nazis selbst zerstört. Befreit wurde aber natürlich auch – vor allem – Europa von den Deutschen.

Heinrich Heine

Die Diskussion darüber, ob der 8.5.1945 nun ein "Tag der Befreiung" war oder doch nur ein Tag des "Zusammenbruchs", der Niederlage, allenfalls die "Stunde Null" ist daher so müßig, wie notwendig. Denn selbstverständlich ist diese Diskussion eine politische.

"Ich wüsste nicht, in welcher Zeit Deutsche wirklich getrauert hätten."

Am 8.Mai 1945 öffnete sich ein Hoffnungshorizont der Geschichte. Die bedingungslose Kapitulation setzte in Deutschland Raum frei für das Unbedingte. Die Realität wurde flüssig. In der "Zusammenbruchsgesellschaft" der folgenden Jahre gab es Platz für das Imaginäre, die Utopie wurde wirklich. Durch die Löcher der Trümmerlandschaften war Himmel sichtbar. Vieles, was zunächst als Unglück erschien, erwies sich auf lange Sicht als Chance: Die Besatzung durch die Westalliierten zivilisierte ein Deutschland, das zuvor das Raubtier in der Staatengemeinschaft gewesen war. Die Reeducation, die erzwungene Modernisierung und Verwestlichung war das Beste, was Deutschland passieren konnte. Der Jazz im Radio vertrieb die Marschmusik auch aus den Köpfen, und obwohl die Deutschen noch lange ein verkrampftes Volk waren, drückte sich der Gezeitenwechsel, die "Stunde Null" vielleicht nirgendwo deutlicher aus, als in dem atmosphärischen Wandel, der in fast allen Erinnerungen an den Mai '45 präsent ist.

Zugleich gehört es zu den Stereotypen, die jetzt wiederholt werden, daran zu erinnern, dass "ja die Ostdeutschen gar nicht befreit wurden." Neben der Infamie, die in dieser Aussage liegt - zum Teil aus Naivität, zum Teil aber auch aus Berechnung, versucht man hier einmal mehr, NS-Staat und DDR, "braune" und "rote" Diktatur, Bautzen und Auschwitz miteinander gleichzusetzen -, übersieht man da auch die Tatsache, dass die Amerikaner bis zu Elbe vorstießen. Stattdessen werden die Deutschen zunehmend wieder mehr als leidendes Kollektiv präsent. Geschichtsschreibung interessiert sich für deutsche Opfer und ein Geruch von Entschuldung und Entlastung dringt in die Debatte. Doch indem die Erfahrung von Flucht und Vertreibung, von Bombenkrieg thematisiert wird, ohne die entsprechenden Ursachen zu benennen, droht ein schiefes Bild. Es geht darum, Verantwortungen und Unterschiede deutlich zu machen, die zwischen nationalsozialistischer Verfolgungspolitik und diesem Rückschlag des Pendels der Gewalt bestehen, das von den Deutschen selbst in Gang gesetzt worden ist. So muss man kategorisch unterscheiden zwischen tatsächlichen Opfern und Verfolgten des NS-Staates und denen, die durch diese Verbrechen dann am Ende des Krieges auch zu Opfern geworden sind. Die Klügeren immerhin können das. Bemerkenswert klare Worte stammen von der – geflohenen – Schriftstellerin Leonie Ossowski:

Wenn man die Vertreibung sieht - es ist eine ausgleichende Gerechtigkeit für mich. Ich bezeichne mich unter anderem auch als Opfer des Krieges. Nur eines Krieges, den die Deutschen angezettelt haben. Und dafür habe ich bezahlen müssen. Und dadurch halte ich es auch für eine Art Ausgleich, dass Polen das Land bekommen haben. Das ist eine Verschiebung. ... Die Trauer der Deutschen über ihre Geschichte war für mich sehr selten erkennbar. Ich wüsste nicht, in welcher Zeit Deutsche wirklich getrauert hätten. Sicherlich in Familien und in einzelnen Personen, aber als Volk?

In der Wohlfühl-Erinnerung

Es gibt in diesen Tagen sehr viel Erinnerung: 60-Jahre Ausschwitz-Befreiung, 60-Jahre-Eroberungen einzelner Städte, 60-Jahre-Kriegsende und "Stunde Null" werden begangen, kommende Woche wird in Berlin das Holocaust-Mahnmal offiziell eingeweiht. Die daraus erwachsenden Veränderungen der Erinnerungskultur sind unklar. Blickt man auf einige neuere Entwicklungen, stellt sich die Frage, ob wir auf dem Weg zu einer Wohlfühl-Erinnerungskultur sind? Jedenfalls gibt es eine neue Wohligkeit in der Betrachtung der Vergangenheit. Die Deutschen richten sich in ihr ein, wie in einer Wohnlandschaft. Hitler, Goebbels, Speer u. a. werden vertraute Mitglieder dieser Wohnlandschaft; wie die Stars einer Telenovela flimmern ihre Gesichter tagtäglich von den Bildschirmen, gemeinsam mit denen ihrer Opfer. Zunehmend wirken sie entrückt, verschmelzen mit den Gesichtern der Schauspieler, die sie darstellen; zunehmend lösen sich die Fakten in der Fiktion auf.

Bild aus "Speer und Er"

Ähnlich auf privater Ebene: Erinnerungen an die NS-Zeit, ob literarisch oder als Sachbuch, finden gegenwärtig ein großes Publikum. Das Neue daran ist das Phänomen, dass die Autoren ihre eigene Familiengeschichte zum Thema machen. Die Generationenkonflikte um das Verdrängen und Beschweigen des Nationalsozialismus scheinen sich gleichsam aufgelöst zu haben, die politische Aufgeladenheit der Debatten scheint zunehmend zu verschwinden. Die Generation der 68er ist der alten Kämpfe müde, und blickt sehr verständnisinnig auf die eigenen Eltern. Und die dritte Generation, die Kinder der 68er, hat sich vollends mit den Großeltern ausgesöhnt - "Opa war kein Nazi", soviel scheint klar. "Dort finden wir ja zum Teil ganz abenteuerliche Versionen", so der Jenaer Zeithistoriker Norbert Frei, der jetzt seinen Aufsatzband "1945 und wir" veröffentlicht hat, "Stille-Post-Versionen von familiärem Geschichtsbewusstsein, wo aus Mitläufer-Opa und Oma dann in der Erzählung so etwas wie ein "kleiner Widerständler" wird. Weil man natürlich gerne die eigene Familie aus diesem Schreckensregime des Dritten Reiches heraus eskamottieren will."

Zudem bleiben dies immer die Perspektiven von Einzelnen. Die Ansammlung und Addition von persönlichen Erinnerungen ergibt noch kein Geschichtsbewusstsein. Geschweige denn, dass sich dadurch schon historisches Wissen an die Gesellschaft und die nachfolgenden Generationen vermittelt. Die Geschichtswissenschaft unterscheidet zwischen historischem Bewusstsein und persönlicher Erinnerung. Beides ist unverzichtbar, geht aber nicht ineinander auf.

Das "Dritte Reich" als Konsensdiktatur

Wie beides auseinander fallen kann, zeigt der Streit um die Thesen von Götz Aly. Der Historiker betrachtet das "Dritte Reich" aus einem Blickwinkel, der es als Gefälligkeitsdiktatur zeigt. Die Nazis agieren plötzlich wie "klassische Stimmungspolitiker". Auf der Basis von Geben und Nehmen erkauften sie sich Zustimmung oder wenigstens Gleichgültigkeit durch eine Fülle von Steuerprivilegien, mit Millionen Tonnen geraubter Lebensmittel und mit der Umverteilung des "arisierten" Eigentums von verfolgten und ermordeten Juden aus ganz Europa. "Den Deutschen", so Aly, "ging es im Zweiten Weltkrieg besser als je zuvor, sie sahen im nationalen Sozialismus die Lebensform der Zukunft - begründet auf Raub, Rassenkrieg und Mord."

Gestützt auf glänzend ausgebildete Experten, transformierte die Regierung Hitler den Staat im Großen in eine Raubmaschinerie ohnegleichen. Im Kleinen verwandelte sie die Masse der Deutschen in eine gedankenlose, mit sich selbst beschäftigte Horde von Vorteilsnehmern und Bestochenen. Diese Politik des gemeinnützigen Ausraubens fremder Länder, so genannter minderwertiger Rassen und Zwangsarbeiter, bildet den empirischen Kern meiner Studie über Hitlers Volksstaat.

Programmatisch verband die Nazi-Bewegung die soziale mit der nationalen Homogenisierung. Den bekannten Satz Max Horkheimers - "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte vom Faschismus schweigen" – setzt Aly entgegen: "Wer von den vielen Vorteilen für die Millionen einfacher Deutscher nicht reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen.

Spannende Thesen. Vieles spricht für Alys Argumente: Über lange Zeiträume gab es eine Übereinstimmung von Volk und Führerschaft. Das "Dritte Reich" war eine Konsensdiktatur. Nur zu Beginn und am Ende war es von Terror gegen breitere Kreise der eigenen Bevölkerung geprägt. Und die Demokratisierung der Bundesrepublik und ihre Einbindung in das westliche Wertesystem war von Beginn an verknüpft mit dem Sozialstaatsprinzip, und moralisch grundiert durch das mörderische Scheitern des Modells "Tausendjähriges Reich".

Vergangenheit blockiert Zukunft

Was ist zu erwarten? Kanzler Schröder hat einmal über das Holocaust-Mahnmal gesagt, er wünsche sich ein Holocaust-Mahnmal, "zu dem die Menschen gerne hingehen". Kann es das überhaupt geben? Oder ist dies nicht eine gar zu idyllische Wunschprojektion? Vielleicht ist der Wunsch nach einer Vergangenheit zum Wohlfühlen nur eine Realitätsflucht. Vielleicht ist diese Unfähigkeit hinzuschauen eigentlich das Gleiche, wie die Unfähigkeit zum Handeln, die Schröders Regierung plagt: Harald Welzer, Sozialpsychologe in Witten/Herdecke spricht von einer "kollektiven Fixierung":

Es gibt Gründe zu vermuten, dass sich die Erfahrung des "Dritten Reichs" und des Krieges in den nachkommenden Generationen so auswirkt, dass sie Zukunftsentwürfe blockiert. ... Die eklatante Entscheidungsunfähigkeit, mit der wir es heute zu tun haben, auch die tiefe normative Verunsicherung könnte damit zu tun haben, dass bis 1945 rigide Normen gegolten haben, die keine Ambivalenz zugelassen haben. Zu große Entschiedenheit kann in die Katastrophe führen: Das hat man offenbar gelernt, und sei es in unbewusster Tradierung.

Welzer fürchtet heute das andere Extrem: "die unterschiedslose Toleranz. Dass man sich nicht entscheiden will, welche Minderheiten vordringlich zu schützen sind, welche Politik zu bevorzugen ist."

Literatur

Götz Aly: "Hitlers Volksstaat - Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus"; Fischer Vlg, Frankfurt 2005, 22,90 Euro

Norbert Frei: "1945 und Wir - Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen"; C.H. Beck-Verlag, München 2005, 19.90 Euro

John Keegan: "Der Zweite Weltkrieg"; Rowohlt, Hamburg 2004; 34,90 Euro

Harald Welzer: "Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung"; Beck Vlg., München 2002; 19.90 Euro

Harald Welzer/Sabine Moller/ Karoline Tschuggnall: "Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis"; Fischer Vlg, Frankfurt, 2002; 10,90 Euro

Wolfram Wette: "Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden."; Fischer Vlg., Frankfurt 2005