Eine deutsche Justizposse
Die Verhandlung über den Forumsbeitrag eines Telepolis-Lesers, der der Billigung einer Straftat beschuldigt wurde, stimmt bedenklich, hatte aber für den Angeklagten einen glücklichen Ausgang
Die Verhandlung über den Beitrag im Telepolis-Forum am Amtsgericht Münster hatte bereits im Vorfeld großes Interesse geweckt. Der Angeklagte wurde beschuldigt, in seiner Reaktion auf einen anderen Beitrag die Terroranschläge vom 11.9. befürwortet zu haben, was der Billigung einer Straftat entspräche (Engine of Justice). Der kleine Saal 185 des Amtsgerichts Münster war am heutigen Morgen schnell überfüllt, die Richterin mochte nicht in einen größeren Saal umziehen, freundlicherweise durften einige Pressevertreter aber noch Steh- respektive Hockplätze einnehmen. Am Ende stand der Freispruch. Zur Verhandlung siehe auch: Freispruch für Telepolis-Forenteilnehmer Holger Voss.
Die Anklageverlesung durch den Staatsanwalt nannte noch einmal, was Holger Voss vorgeworfen wurde: Billigung von Mord durch ein Posting im Telepolis-Forum in Verbindung mit einem Artikel, der sich mit dem ungeklärten Massaker in Masar-i-Scharif beschäftigte. Bei diesem sollen nach Recherchen des britischen Dokumentarfilmers Jamie Doran mehrere Tausend Taliban-Kämpfer, die sich ergeben hatten, möglicherweise unter Beisein oder mit Wissen von US-Soldaten erschossen worden sein (Vorwürfe gegen US-Armee weiter ungeprüft). Doch bereits die Nachfrage durch den Verteidiger brachte zu Tage, dass die Staatsanwaltschaft offenbar unsauber gearbeitet hat: Denn plötzlich wollte der Staatsanwalt die Aussagen von 'Engine of Aggression' dem Angeklagten zuschreiben, und nicht seine Erwiderung.
Der Forumsbeitrag, auf den hin Voss seine Reaktion geschrieben hatte:
"Da trifft es mal die Richtigen !
Engine_of_Aggression 21. Juni 2002 4:52
Warum sollen Massaker immer nur an den Guten angerichtet werden und der Bodycount des Abschaums kommt unterm Strich besser weg!
Gratulation, dass es in der heutigen überkritischen Zeit noch Menschen gibt, die sich trauen das Böse mit der Wurzel auszureissen und vom Antlitz des Planeten restlos zu vertilgen!"
Diese Unklarheit wurde allerdings schnell beseitigt, als Voss seine siebenseitige(!) Erklärung verlas. Er prangerte an, dass auf dem Weg eines Strafbefehls eine Verurteilung ohne Anhörung versucht worden sei, und stellte noch einmal klar seine Meinung dar. Sein Sarkasmus sei missverstanden worden, möglicherweise versuche hier eine politische Justiz eine Tabuisierung solcher Aussagen zu erreichen. Er habe hingegen durch eine verbal ähnliche Antwort 'Engine of Aggression' dessen eigene Sprache vorführen und ihn so ad absurdum führen wollen. Im übrigen habe er auf den Sarkasmus deutlich hingewiesen und sich auch noch von der Volksverhetzung des 'EoA' deutlich distanziert.
Aus der Erklärung von Holger Voss vor dem Gericht:
"Mehrere Aspekte dieses Verfahrens sind ziemlich ungewöhnlich und haben zumindest mit meinem Verständnis von Menschenrechten, von freier Meinungsäußerung, von künstlerischer Freiheit, von Datenschutz und Unschuldsvermutung wenig zu tun. Statt dessen zeigen sich Aspekte einer politischen Justiz, die bestimmte Themen zu tabuisieren versucht: Bezogen auf den 11. September 2001 soll schon eine Äußerung bestraft werden, die möglicherweise so missverstanden werden könnte, als wären diese Angriffe gutgeheißen worden. - Und auf der anderen Seite finden alltäglich Diskussionen statt, in denen über Krieg, somit also über Massenmord, als Mittel der politischen Auseinandersetzung offen nachgedacht wird. Massenmord in Afghanistan, im Kosovo, in Kurdistan, in den von Israel besetzten Gebieten oder im Irak darf scheinbar öffentlich gebilligt werden, so lange er sich als Krieg oder als Aufstandsbekämpfung maskiert."
Auch sei die ganze Ermittlung unklar gewesen, so seien rechtlich unzulässig gespeicherte Daten bei T-Online angefordert worden, es seien Behörden in fünf Bundesländern daran beteiligt gewesen, seine Akte auf mittlerweile weit über 100 Seiten Umfang zu bringen. Warum denn kein Löschungsbegehren stattgefunden habe, wenn der Beitrag doch strafrechtlich so relevant sei, blieb als Frage im Raum. Auch wurde darauf hingewiesen, dass im Strafbefehl falsche Paragraphen genannt worden seien.
Die Staatsanwaltschaft konnte denn hier auch kein glückliches Bild abgeben. Der anwesende Staatsanwalt wurde offenbar durch eine Kollegin in eine unglückliche Posse hineingebracht - er selber hatte nicht die Ermittlung geführt -, und bat nach der Verlesung der Erklärung von Voss erst einmal um die Akte, um sich den fraglichen Forumsbeitrag noch einmal durchzulesen. Jetzt erst fiel ihm auch auf, dass der Ausdruck noch eine zweite Seite beinhaltet - und ausgerechnet auf dieser zweiten Seite die doch recht deutliche Distanzierung von dieser Volksverhetzung zu finden war. Sein zwischenzeitliches Resümee: "Ich glaube, wir haben hier das Ende der Fahnenstange erreicht".
Die Vorsitzende Richterin Schach war allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht überzeugt, und stellte darauf ab, dass sich viele unbeteiligte Leser doch nicht die Mühe machen würden, den Beitrag komplett bis zum Ende zu lesen, so dass ein bedingter Vorsatz - nämlich die Billigung eines solchen Missverständnisses - noch weiter in Frage käme. Als Reaktion darauf ging der Verteidiger noch einmal das fragliche Posting durch und machte deutlich, durch welche Stilmittel Sarkasmus auch bereits nach Lesen weniger Zeilen erkennbar hätte sein müssen. Schließlich habe auch der zuständige Administrator des Heise-Verlages weniger als 19 Minuten gebraucht, um eine Anfrage aus Münster so zu beantworten, dass er den Beitrag zwar als geschmacklos empfinde, aber sich ihm doch recht deutlich eine sarkastische Überspitzung aufgedrängt habe. Auch verwies der Verteidiger auf BGH-Urteile aus der Zeit der RAF, in denen deutlich gesagt wurde, dass immer nur die Gesamtaussage zu würdigen und eine Herausstellung einzelner Teile unzulässig sei.
Der Staatsanwalt brachte es dann auf den Punkt, als er sich zu der gewagten Aussage wagte: "Ich kann mich des Eindrucks nicht verwehren, dass die Verteidigung soweit recht haben könnte." Im gegenseitigen Einvernehmen wurde auf eine Zeugenvernehmung verzichtet. Sowohl Staatsanwalt wie Verteidiger plädierten auf Freispruch. Völlig ohne größere Beratung schrieb die Richterin Schach ihr Urteil von Hand nieder und verkündete schließlich den Freispruch. Sie verteidigte den Vorgang damit, dass im Vorfeld eine falsche Einschätzung stattgefunden habe, die sich nun aufgeklärt habe.
Eine Provinzposse in Deutschland. Eine Staatsanwaltschaft, die offenbar Postings nicht korrekt durchliest, eine Richterin, der grundlegende Entscheidungen nicht bekannt sind. Ein Glück für den Angeklagten, dass er dennoch freigesprochen wurde.