Einfach wieder aufbauen - darf und soll man das?

Seite 3: Berlin, die Hauptstadt der Debatte

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Warum soll man bestreiten, dass eine Replik des Stadtschlosses unter denkmalpflegerischen Gesichtspunkten ein Falsifikat wäre? Das Original lässt sich niemals wieder gewinnen, und wenn man tausend Einzelteile findet, die man in den Neubau einfügt. Aber es gibt keine andere Möglichkeit, die Stadt als Stadt zu retten, und deshalb wird man nicht triumphierend, sondern resignierend das Verlorene mit Abschiedsschmerz wiederherstellen müssen.

Wolf Jobst Siedler, Publizist und Verleger, Berlin

Exemplarisch für die aktuelle Rekonstruktionsdebatte ist die über Jahre erbittert geführte Diskussion um den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. Anders als bei der auch in Fachkreisen viel gelobten Teilrekonstruktion des Neuen Museums durch den britischen Architekten David Chipperfield ist von dem 1950 auf Geheiß des damaligen SED-Generalsekretärs Walter Ulbricht gesprengten Schlossbau kaum noch Originalsubstanz vorhanden (lediglich Kellergewölbe sowie einige eingelagerte Fassadenteile, so genannte Spolien). Zudem musste für den Wiederaufbau bereits ein Nachfolgebau (der Palast der Republik) weichen, der – ohne über dessen architektonische Qualität spekulieren zu wollen – zumindest eine historische Bedeutung hatte. Auch die Nutzung des jetzt als "Humboldt-Forum" bezeichneten Schlossneubaus ist noch nicht endgültig geklärt.

Wegen seiner mangelnden materiellen Authentizität und der Nichtübereinstimmung von "Sein und Schein", also zwischen Fassade und intendierter Nutzung, stehen die meisten Architekten und Denkmalpfleger dem Vorhaben ablehnend gegenüber; die überwiegend aus dem (Bildungs-) Bürgertum stammenden Befürworter betonen dagegen die historische und städtebauliche Bedeutung für Berlin und halten deshalb eine Wiederkehr des Schlosses an seinen alten Platz, und sei es auch nur in seiner äußeren Form, für unverzichtbar. Befürworter und Gegner argumentieren also auf verschiedenen Ebenen, was für die Rekonstruktionsdebatten auch andernorts typisch ist.

Inzwischen hat die Berliner Diskussion weitere Kreise gezogen: Nun, da die Wiederherstellung von drei Außenfassaden und einer Hoffassade des Schlosses beschlossene Sache ist, streitet man um das Schicksal der in DDR-Zeiten leergeräumten Altstadtflächen in der Nachbarschaft. Ein historisierender Wiederaufbau der ehemaligen Altstadtkerne Berlin und Cölln steht zwar nicht zur Debatte, aber eine am historischen Stadtgrundriss orientierte, kleinteilige Bebauung des Freiraums zwischen Schloss und Fernsehturm können sich manche durchaus vorstellen – allen voran der als streitbar bekannte frühere Berliner Senatsbaudirektor Hans Stimmann, der mit einer Buchveröffentlichung für dieses Konzept wirbt. Andere hingegen möchten die großzügigen Weiten der DDR-Moderne erhalten. Auch hier lassen sich beide Sichtweisen historisch rechtfertigen, je nachdem, welcher Zeitschicht man den Vorzug gibt.

Unter dem Pflaster die Altstadt: Ausgrabungen vor dem Roten Rathaus in Berlin im Herbst 2010. Foto: Reinhard Huschke

In diesem Zusammenhang stieß die Ausstellung "Berlins vergessene Mitte", die noch bis Ende März 2011 im Ephraim-Palais – übrigens selbst eine Rekonstruktion von 1987 – zu sehen war, auf großes Interesse; dasselbe gilt für die zeitgleich im Rahmen des U-Bahnbaus stattfindenden Ausgrabungen vor dem Roten Rathaus, bei denen die Kellermauern der hier einst dicht an dicht stehenden Gebäude ans Tageslicht kommen. Im Oktober 2010 konnten hier sogar mehrere gut erhaltene Skulpturen von in der Nazizeit als "entartet" geltenden Künstlern geborgen werden. Spätestens durch dieses Ereignis dürfte der "Altstadt-Virus" auch bei vielen Berlinern geweckt worden sein, die von der Existenz einer Altstadt bisher nichts wussten oder gar das 1987 rekonstruierte Nicolai-Viertel für selbige hielten.

Frankfurt, mehr als schöne Fassaden

Es soll gezeigt werden, wie man im 21. Jahrhundert an die Frage des Weiterbauens herangehen kann. Das ist ein Experiment, das Frankfurt auszeichnen könnte.

Arno Lederer, Architekt, in einem Interview mit der FAZ

Von diesem Virus sind die Frankfurter längst infiziert. Nachdem die städtischen Planer vorgeschlagen hatten, den bisher vom Technischen Rathaus, einem Waschbetonkoloss aus den 1970er Jahren, dominierten Römerberg im Stadtzentrum neu zu bebauen, liefen viele Frankfurter überraschend Sturm gegen den in einem Architektenwettbewerb ermittelten Entwurf des Architekturbüros KSP und forderten anstelle der vorgeschlagenen modernen Blockbebauung die Rekonstruktion der dort bis 1944 stehenden Fachwerkhäuser.

Nach mehrjähriger Diskussion folgte die Politik weitgehend diesen Wünschen: Mindestens acht so genannte Leitbauten werden historisch exakt rekonstruiert und die weiteren Gebäude unter Zugrundelegung der historischen Parzellenstruktur sowie einer strengen Gestaltungssatzung an diese angepasst. Im eigens eingerichteten Gestaltungsbeirat sollen renommierte Architekten wie Christoph Mäckler (Frankfurt) und Arno Lederer (Stuttgart) für die architektonische und städtebauliche Qualität der Ergebnisse bürgen, die "zum Vorbild in Deutschland" werden könnten (Mäckler in der FAZ).

Das Vorhaben ist zwar prinzipiell mit dem Dresdner Neumarktprojekt vergleichbar, geht allerdings einen entscheidenden Schritt weiter: In Frankfurt soll es keine Fassadenarchitekturen geben, vielmehr werden alle zu rekonstruierenden Gebäude außen wie innen nach alten Plänen und auf den alten Parzellen gebaut. Durch eine ausgewogene Mischung von Wohnen und Gewerbe will man zudem "ein wenig von dem früheren Leben und Treiben zurückbekommen" (DomRömer GmbH).

Platz für die neue Altstadt: Der Abriss des 1972 errichteten Technischen Rathauses in Frankfurt am Main ist inzwischen abgeschlossen. Foto: DomRömer GmbH

Die Chance, dass sich genügend Investoren für die vorgesehenen Komplettrekonstruktionen finden, stehen in der Finanzmetropole Frankfurt zweifellos besser als andernorts, wo es meist nur für nachempfundene Fassaden reicht. Auch beim Aufbau des Dresdner Neumarktes wagte man nicht, den Investoren strengere Verpflichtungen aufzuerlegen (z.B. Erhaltung von Kellerresten, Wiederherstellung der alten, für heutige Nutzungsansprüche zu kleinteiligen Grundrisse), sodass hier bis heute nur ein einziges Bürgerhaus weitgehend nach alten Plänen rekonstruiert wurde.

Ulm, Weiterbauen statt Rekonstruieren

Die Entwicklung und Veränderungen der historischen Stadt im Laufe der Jahrhunderte haben Stadtbilder voller Gegensätze und Brüche geschaffen. In den erhaltenen historischen Städten nehmen wir die Brüche als solche nicht mehr wahr.

Jürgen Paul, Kunsthistoriker, Dresden

Während sich die Frankfurter ihre neue Altstadt nicht ohne die Rekonstruktion historischer Gebäude vorstellen konnten, setzte man in Ulm bei der Ende 2007 fertig gestellten Neuen Mitte konsequent auf zeitgenössische Architektur. Mit drei auf einer ehemaligen Verkehrsschneise aus den 1960er Jahren platzierten Gebäuden wurde der in der Nachkriegszeit unterbrochene städtische Zusammenhang wieder hergestellt. Dieses Beispiel macht deutlich, dass die heute wieder geschätzten Qualitäten der alten Städte vor allem von deren kleinteiliger Struktur und Nutzungsmischung und weniger von der Architektur der einzelnen Gebäude herrühren, solange sich diese in den Bestand einfügen.

Dass auch Neues identitätsstiftend sein kann, zeigen nicht nur aktuelle Stadtreparaturprojekte wie in Ulm, sondern auch die Erfahrung in Städten mit "konservativer" Nachkriegs-Aufbauplanung wie Münster oder Freiburg. Dort wurden die historischen Stadtstrukturen weitgehend bewahrt, sodass diese Städte heute von Bewohnern wie Touristen trotz ihrer in großen Teilen modernen Bebauung als "historisch" oder zumindest "charakteristisch" empfunden werden.

Für die meisten deutschen Städte, die ihren Nachkriegsaufbau weniger an ihrer Geschichte als an den Bedürfnissen des Autoverkehrs ausgerichtet haben, kommt diese Erkenntnis freilich zu spät. In wohlbegründeten Einzelfällen mögen hier rekonstruierte "Leitbauten" dazu beitragen, ein Stück verlorene Identität und historische Kontinuität wiederzugewinnen. Wie das Beispiel von Ulm zeigt, liegt die eigentliche Herausforderung aber darin, das Vorhandene im Stil unserer Zeit weiterzubauen; auf diese Weise, Zeitschicht für Zeitschicht, sind letztlich auch die vielfältigen, schönen alten Städte entstanden, nach denen sich heute viele sehnen.

Eine ausführliche Darstellung des Themas bietet die vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung herausgegebene Studie Positionen zum Wiederaufbau verlorener Bauten und Räume. Darüber hinaus gibt es zahlreiche einschlägige Buchveröffentlichungen, viele davon aus den letzten Jahren.

Einfach wieder aufbauen - darf und soll man das? (9 Bilder)

Frühe Rekonstruktionsprojekte in West und Ost: der Fachwerk-Marktplatz in Hildesheim (1989) und das Ost-Berliner Nicolai-Viertel (1987). Fotos: Reinhard Huschke