Eingangsverbote statt Ausgangssperre
Die Konservativen in Madrid proben eine neue Art angeblicher Prostitutionsbekämpfung: Niemand darf nachts mehr in einen Teil des Stadtteils Villaverde, der dort nicht wohnt oder arbeitet
Reichlich wird über Ausgangssperren für Jugendliche zur Gewaltbekämpfung diskutiert, nachgedacht wird auch über neue Formen, wie die Abriegelung ganzer Gebiete für bestimmte Gruppen. Madrid setzt dies in der „Colonia Marconi de Villaverde“ seit letzten Dienstag um. Nachts haben mit einer speziellen Berechtigungskarte nur die Personen Zutritt, die dort wohnen oder arbeiten. Diese Akzeptanzforschung für eine weitgehende Überwachung wird mit der angeblichen Bekämpfung der Prostitution gerechtfertigt.
Der arme Problemstadtteil Villaverde macht erneut von sich reden. Die ultrakonservative Volkspartei (PP), die Madrid noch regiert, hat den Stadtteil für ein Modellprojekt ausgewählt. Erstmals wird der Zugang zwischen 23 und 6 Uhr zur „Colonia Marconi de Villaverde“ nicht mehr allen gewährt. Angeblich soll mit der Maßnahme die Prostitution in diesem Teil des Viertels unterbunden werden. Diese bisher einzigartige Maßnahme hat vorgeblich zum Ziel, den Freiern den Zugang zu versagen. Damit würde die Prostitution ausgetrocknet und die Sicherheit erhöht, weil es neben der Prostitution auch eine starke Drogenkriminalität gäbe.
Einst war Marconi ein Industriegebiet. Dort, so sagen wie die Bewohner von Villaverde, habe es schon immer Prostitution gegeben, die mit der starken Einwanderung in den letzten Jahren zugenommen haben soll. Die Zahl der Einwanderer in Villaverde ist im letzten Jahr um 35 Prozent gestiegen, weil die Mieten in dem vernachlässigten Viertel niedrig sind, wo das Schulsystem und die Krankenversorgung kollabieren. In dem Stadtteil mit 150.000 Einwohnern ist die Arbeitslosigkeit hoch und das Pro-Kopf-Einkommen beträgt jährlich 8.100 Euro.
Bewohner der Wohnblocks, die vor fünf Jahren mitten in dem Industriegebiet hochgezogen wurden, hatten sich über die Prostituierten beschwert. „Ich akzeptiere die Einschränkungen weitgehend, wenn sie zu etwas führen“, sagte der Bewohner Juan Antonio del Castillo. „Wir werden nun eine nächtliche Überwachung genießen, wie sie in Luxusvierteln üblich ist“, erklärte er stolz.
Dass man „Überwachung“ genießt, spricht für sich. Einige Anwohner fordern sogar, das Gebiet den gesamten Tag über zu sperren. Sie stört nicht, dass die Bewegungsfreiheit allgemein eingeschränkt wird und niemand mehr nach Marconi kommen kann, der keine der 3.000 ausgegebenen Zugangskarten hat.
Es ist unwahrscheinlich, dass die Konservativen daran glauben, mit ihrer Maßnahme die Prostitution bekämpfen zu können. Der gewünschte Effekt dürfte die Ausweitung der Akzeptanz von Kontrolle sein. Denn bisher hat sich wenig verändert. Die Präsidentin des Nachbarschaftsvereins Mabel Díaz hat festgestellt, dass die Prostitution nun verstärkt tagsüber ausgeübt wird. Ihr Kollege Daniel Vela erklärt: „Das ist eine provisorische Maßnahme, die langfristig das Problem nicht löst.“
Die Prostitution wird genauso wenig verschwinden wie die Drogenkriminalität, solange nicht die dahinter liegenden Probleme gelöst werden, also etwa Einwanderer keine legale Lebensgrundlage haben und illegale Drogen von Abhängigen nur zu extrem hohen Preisen bezogen werden können. Beide Phänomene werden bei Zunahme des Kontrolldrucks nur in andere Gebiete ausweichen. Das kritisiert zum Beispiel in Madrid die Vereinte Linke (IU). „Ausnahmezustand“ nennt sie die Absperrung von Marconi. Sie verstoße gegen die spanische Verfassung, sagte der IU-Chef Gaspar Llamazares. Die IU forderte das Eingreifen der Justiz, „um die Freizügigkeit zu sichern“. Die Madrider IU-Stadträtin Concha Denche, die selbst in Villaverde lebt, kündigte rechtliche Schritte im September an.
Vielleicht ist es Zufall, aber am Samstag wurden in den weniger kontrollierten Gebieten von Villaverde bei zwei Raubüberfällen zwei Menschen niedergestochen, zwei Einwanderer aus Lateinamerika. Die Verlagerung schürt auch in anderen Gebieten Angst und führt wieder zum Ruf nach mehr Überwachung. Ob die etwas nutzt, wird wenig hinterfragt. Das kann auch gut an den Sicherheitsgesetzen beobachtet werden, die seit den islamistischen Terroranschlägen wie Pilze aus dem Boden schießen und demokratische Rechte aushöhlen (Sicherheitsphantasien und das allmähliche Verschwinden des Rechtsstaats). Was hat es genutzt, dass der Imam von Villaverde ein Polizeispitzel war, der frühzeitig auf die Attentäter von Madrid hinwies ("Polizei kontrollierte Chefs der Madrider Anschläge“), die im März letztes Jahr ein Blutbad mit 192 Toten anrichteten?
Einschränkungen der Bewegungsfreiheit auch in Frankreich und Großbritannien
Die Aktion des PP-Bürgermeisters Alberto Ruiz-Gallardón dient vermutlich einem anderen Ziel. Die PP hat in ihren acht Jahren an der Regierung daran gearbeitet, eine Verknüpfung von Einwanderung und Kriminalität zu etablieren und auf Abschottung sowie der Abschiebung von Einwanderern zu setzen. Trotzdem hatte sich die PP, unterstützt vom Bundesinnenminister Otto Schily, gegen die Maßnahme der sozialistischen Regierung gewendet, im Frühjahr Hunderttausende mit gültigen Papieren auszustatten (Aufenthaltsgenehmigung, Abschiebung und Abschottung). Dieser Maßnahme, die an die Wurzel des Problems geht, wird seit heute eine Legalisierung auf Basis einer "Verwurzelung nach Arbeitstätigkeit" nachgeschoben. Nun können alle Papiere beantragen, die zwei Jahre im Land leben und davon ein Jahr gearbeitet haben. Dafür müssen sie ihre Arbeitgeber anzeigen. Offenbar sind auch den Sozialisten (PSOE) zu viele Einwanderer durch die weiten Maschen der letzten Regulierung gefallen. Viele Unternehmer hatten ihre illegalen Beschäftigten eher entlassen, als ihnen einen Arbeitsvertrag auszustellen. Damit erspart sich die Regierung nun den mühsamen Weg, Unternehmer aufzuspüren, die sich weiter an der Ausbeutung bereichern.
Die in der Hauptstadt regierende PP macht statt dessen weiter Druck auf die Einwanderer. Es ist kein Zufall, dass sie ihr Projekt gerade jetzt beginnt, wenn viele Madrider im Urlaub sind. Mögliche Proteste werden minimiert und der Kreis der Betroffenen verengt sich auf die Zielgruppe: auf die Einwanderer. Obwohl es Prostitution in vielen Madrider Bezirken gibt, knüpft die PP an eine rassistische Grundstimmung in Villaverde an, die sich im Mai mit pogromartigen Übergriffen auf Nichtspanier Luft gemacht hatte (Spanische Polizei warnt vor Nazi-Front).
Allgemein scheinen Ideen für Einschränkungen der Freizügigkeit kaum mehr Grenzen gesetzt zu sein. Spaniens Konservative hatten 2002 die Jugend als Problemgruppe ausgemacht und sie von den zentralen Plätzen verbannt (Madrider Polizei verhindert Macrobotellón). Viele Gemeinden in Frankreich hatten 2001 begonnen, eine nächtliche Ausgangssperre für Jugendliche unter 13 Jahren zu verhängen (Französische Städte verhängen nächtliche Ausgangssperren für Minderjährige). Begründet wurde dies mit der steigenden Kriminalität und der Unsicherheit, die vor allem in den Vorstädten ausgemacht wurde (Die Zahlen, die Angst machen).
Geändert hat sich in Frankreich wenig. Dafür reicht es, sich die Bilanz vom französischen Nationalfeiertag vom 14. Juli anzuschauen. Mehr als 200 Autos wurden allein im Großraum von Paris abgebrannt. In etlichen der 130 Trabantenstädte, wo die soziale Lage wegen hoher Arbeitslosigkeit und prekärer Lebensbedingungen verzweifelt ist, meldete die Polizei die schlimmsten Ausschreitungen seit vier Jahren.
Mit mehr als 100 Polizeieinsätzen verzeichnete das Departement Oise einen neuen Rekord. Auch im Departement Hauts-de-Seine, dem der französische Innenminister Nicolas Sarkozy vorsteht, kam es dieses Jahr wieder zu Krawallen und Fahrzeuge wurden in Brand gesetzt. Die anrückende Polizei wurde mit Steinhageln empfangen. Kurz zuvor hatte Sarkozy angekündigt, er werde die Gegend von kriminellen Elementen säubern. Diese vorstädtische Gewalt vor Feiertagen und an Neujahr hat sich in Frankreich seit Jahren zu einer Art Ventil für aufgestauten Frust entwickelt.
In der britischen Stadt Sheffield läuft bis zum 1. September ein Modellversuch der linken Stadtregierung. Der Polizei wurden für sieben markierte Viertel besondere Vollmachten übertragen. Ab 21 Uhr gilt dort eine Ausgangssperre für Jugendliche unter 16 Jahren. Wer später angetroffen wird, den begleitet die Polizei nach Hause und hält den Eltern eine Standpauke.
Mit der Violent Crime Reduction Bill wird für ganz Großbritannien an Einschränkungen gebastelt (Prävention ist auch in der Verbrechensbekämpfung angesagt). Das Gesetz zur Verminderung von Gewaltverbrechen verschärft die Strafen für das Tragen von Waffen oder Waffenimitationen. Ihr Verkauf an Jugendliche wird unter Strafe gestellt. Für den Erwerb eines Messers soll man künftig 18 Jahre alt sein. Schulleiter könnten dann anordnen, ihre Schüler auf Waffen durchsuchen zu lassen.
So sollen auch Alcohol Disorder Zones (ADZs) eingeführt werden. Dort ansässige Pubs sollen an den Kosten von Polizeieinsätzen beteiligt werden. Mit den „Drinking Banning Orders" können Personen, die für Störungen der öffentlichen Ordnung im Zusammenhang mit Alkoholkonsum verantwortlich sind, bis zu zwei Jahre aus bestimmten Gebieten verbannt werden. Personen die möglicherweise eine mit Alkoholkonsum verbundene Störung an einem bestimmten Ort begehen könnten, dürften das Gebiet bis zu 48 Stunden lang nicht betreten. Wer Alkohol an Minderjährige verkauft, dem droht ein Verkaufsverbot für bis zu 48 Stunden. Um all dies umzusetzen, bedarf es wiederum umfangreicher Kontrollmaßnahmen.