Eingriff in redaktionelle Freiheit: Jeff Bezos kuscht vor Donald Trump und bricht mit Tradition

Eingang zum Gebäude der Washington Post

Bild: DCStockPhotography / Shutterstock

Washington Post zieht auf Druck ihres Eigentümers Wahlempfehlung zurück – über 200.000 Abonnenten reagieren mit Kündigung. Das stellt Fragen zum Journalismusverständnis.

Es ist kein Sturm im Wasserglas einer Hauptstadtjournalistenblase, sondern ein Medientornado, der sich gerade in den USA ereignet.

Der Grund ist die massive Einflussnahme von Amazon-Gründer und Multimilliardär Jeff Bezos, der auch Eigentümer der traditionsreichen Washington Post ist, auf seine Redaktion.

Die hatte sich vor einigen Wochen traditionsgemäß für ein "Endorsement", also die redaktionelle Empfehlung eines Kandidaten für die diesjährige US-Präsidentschaftswahl entschieden – und zwar zugunsten der demokratischen Kandidatin Kamala Harris.

"Verzicht auf unsere Verantwortung"?

Der Text war kurz und schnörkellos: Am Freitag, dem 25. Oktober, elf Tage vor der Präsidentschaftswahl, gab der Geschäftsführer der Washington Post, William Lewis, bekannt, dass die Tageszeitung keinen Kandidaten unterstützen werde – eine Premiere seit den Siebzigerjahren.

Dies sei lediglich eine "Rückkehr zu den Wurzeln", behauptet der Verfasser, indem er sich auf frühere Leitartikel stützt, die 1960 und 1972 die gleiche Zurückhaltung gezeigt hatten.

"Wir räumen ein, dass dies auf verschiedene Weise interpretiert wird, als stillschweigende Unterstützung eines Kandidaten oder als Verurteilung eines anderen, oder als Verzicht auf unsere Verantwortung", erklärt der Text. "Das ist unvermeidlich."

William Lewis versichert, dass die Aufgabe der Washington Post darin bestehe, "unparteiische Informationen" bereitzustellen und "unabhängig" zu sein.

Aber so einfach ist es nicht: Zwei Mitglieder der Redaktion hatten mehrere Wochen lang an einem Leitartikel gearbeitet, der Kamala Harris unterstützen sollte. Die Absage dieses Artikels und die Annahme einer angeblichen Neutralität wurden in der Redaktion, die vor vollendete Tatsachen gestellt wurde, sehr schlecht aufgenommen.

"Was gerade passiert ist, ist für uns als Institution demütigend und zutiefst beunruhigend", wurde "ein erfahrener Journalist" in Le Monde zitiert.

Bezos’ "schrecklicher Fehler"

Die Veröffentlichung dieser Entscheidung war von Eigentümer Jeff Bezos verhindert worden.

In der Folge dieser Entscheidung hatten, wie der Sender NPR berichtet, mehr als 200.000 Leser der traditionsreichen Zeitung ihre Abos gekündigt.

Hinzu kommt ein Aufstand innerhalb der Redaktion gegen den auch intern umstrittenenen Eigentümer. Ein Drittel der Herausgeber der Zeitung trat nach der Entscheidung zurück, auch der politische leitende Redakteur Robert Kagan verließ das Blatt unter Protest, und begründete dies auf CNN mit einem "schrecklichen Fehler" des Eigentümers.

Feigheit und Charakterlosigkeit

Laut Bezos handelt es sich bei dem Verzicht auf eine Wahlempfehlung um eine "prinzipielle Entscheidung".

Diese begründete er mit gesunkenem Vertrauen der amerikanischen Öffentlichkeit in die Medien. Beim Kauf der Washington Post hatte Bezos noch öffentlich versprochen, er mische sich nicht in redaktionelle Angelegenheiten ein.

Bezos versicherte, er verfolge keine persönlichen Interessen. Genau solche Interessen werden ihm jetzt aber unterstellt: Marty Baron, der ehemalige leitende Herausgeber der Washington Post, unter allein dessen Führung diese Zeitung elf Pulitzer-Preise gewonnen hatte, erklärte auf MSNBC, Bezos sei von Donald Trump für den Fall seiner mit massiven wirtschaftlichen Nachteilen bedroht worden.

Bezos habe vor Trump "gekuscht", es handle sich um "einen Verrat", um "Feigheit" des Eigentümers: "die Demokratie wird dadurch beschädigt", "eine bedenkliche Charakterlosigkeit in einer Institution, die für ihren Mut bekannt ist."

Unbeabsichtigte Konsequenz

Gegenstimmen gibt es nur wenige: Die Redakteurin Carol Lening flehte die Post-Leser auf X an, ihre Abonnements nicht zu canceln, das würde nur die Unabhängigkeit der Redaktion weiter beschädigen, "die meine Kollegen und ich versuchen, für Sie jeden Tag zu erreichen."

Die unbeabsichtigte Konsequenz ist nun allerdings, dass viel deutlicher über diese Medien und ihre Einseitigkeiten, über Eingriffe von Eigentümern und über die Entscheidung der Redaktion gesprochen wird, Harris zu unterstützen.

Parteinahmen sind Journalismus

Wer jetzt in Deutschland argumentiert, Wahlempfehlungen seien kein Journalismus, macht es sich zu einfach.

Denn selbstverständlich gehören Meinungskommentare und klare subjektive Parteinahmen und Kommentare auch in Europa zum festen Bestandteil journalistischer Tradition. Eine Wahlempfehlung ist ein selbstverständlicher redaktioneller Inhalt – genau wie Leit- oder andere Meinungsartikel.

Die sind natürlich weniger neutral gehalten als etwa Nachrichtenbeiträge, aber dennoch anerkannte journalistische Darstellungsformen. Redaktionelle Beiträge und namentlich gekennzeichnete Texte sind keineswegs zwingend neutral, zumal völlige "Neutralität" im Journalismus wie im Leben ohnehin eine Illusion ist.

Halten wir zudem fest: In den USA und überhaupt im angelsächsischen Journalismus – also beispielsweise auch in Großbritannien – sind Wahlempfehlungen, sogenannte "Endorsements" der Zeitungen vor einer Wahl die Regel, nicht die Ausnahme.

Im Lauf des Wahlkampfs hatte auch die Washington Post Empfehlungen für mehrere Kandidaten beider Parteien bei den ebenfalls bevorstehenden Wahlen für den Senat und das Repräsentantenhaus abgegeben. Die auffällige Ausnahme ist hier der Verzicht auf eine solche Empfehlung im Fall der Präsidentschaftswahl.

Es ist ein anderes Verständnis von Journalismus, das dem zugrunde liegt – allerdings eines, das gerade in Deutschland regelmäßig zum Vorbild genommen wurde. Etwa vom legendären Tagesthemen-"Anchor Man" Hans-Joachim Friedrichs (1927–1995) – der hierzulande allerdings am allerliebsten mit einer gegenteiligen Aussage zitiert wird:

"Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten."

Dieser Satz stammt nur in dieser Form gar nicht von Friedrichs.

Unparteilichkeit ist keine Neutralität

Worum es dabei vorwiegend geht, ist die klare Trennung von Reportage und Kommentar. Dazu gehört dann aber auch der Kommentar, so wie zum "sagen, was ist", nicht nur die vorgespiegelte Neutralität gehört, sondern auch die klare offene Positionierung.

Was man hier außerdem hinzufügen muss, ist, dass es in den USA die Regel ist, dass auch eindeutig linksliberal positionierte Zeitungen wie die New York Times oder die Washington Post regelmäßige Kommentatoren haben, die eindeutig auf der anderen politischen Seite positioniert sind. Dies führt insgesamt zu einem vielfältigen Meinungsbild.

Es führt auch zu Streit innerhalb der Redaktion, allerdings einem Streit um die Sache willen, der von allen Seiten im Großen und Ganzen als fruchtbar angesehen wird. Erst mit dem Aufkommen von Wokeness, "political correctness" und "Cancel Culture" von links steht die Unparteilichkeit der Medien – die eben nicht mit impotenter Neutralität verwechselt wird – plötzlich unter Beschuss. Und zwar von rechts wie links.

Pressefreiheit oder Zensur?

Etwas anderes ist die Frage der Unabhängigkeit einer Redaktion von ihrem Eigentümer: Es ist ja nicht so, dass die Redaktion der Washington Post sich in diesem Fall entschlossen hätte, nicht zu "endorsen", sondern dass der Eigentümer Jeff Bezos die Entscheidung seiner Redaktion blockiert hat, hier also aktiv in den redaktionellen Prozess eingriff.

Historische Verantwortung von Medien

Dazu kommt die Frage der historischen und gesellschaftlichen Verantwortung von Medien. Falls es zutreffend ist – und nach Einschätzung nicht weniger politischer Beobachter, Wissenschaftler Politiker aller Parteien und Journalisten ist es zutreffend – dass die USA am kommenden Dienstag die Wahl zwischen Demokratie und Autoritarismus haben – und dass Donald Trump entweder bereits ein ausgemachter Faschist ist oder ein Prä-Faschist, dann stellt sich die Frage nach der historischen Verantwortung von Medien noch einmal anders.

Sollen Medien auch dann neutral und unparteiisch bleiben, wenn das System als Ganzes auf dem Spiel steht? Oder haben sie ihre Aufgabe als Aufklärer der Bürger, als Erzieher zu Bürgersinn, als vierte Gewalt in der Verteidigung demokratischer Werte, als "Sturmgeschütz der Demokratie" (Rudolf Augstein)?

"Was die Oligarchie wirklich ist"

Schließlich geht es auch um die Verteidigung der Pressefreiheit. Falls Donald Trump gewinnt, wird die Freiheit der Presse unter Beschuss sein. So argumentierte jetzt Margaret Sullivan im britischen Guardian

Der demokratische Senator Bernie Sanders (Vermont) sieht in diesem Paukenschlag folglich eine Offenbarung dessen, "was die Oligarchie wirklich ist".

Folgen auch für Deutschland?

Es ist zudem vollkommen egal, ob Leser diese "Wahlempfehlungen" US-amerikanischer Zeitungen jetzt gut finden oder nicht – sie sind Teil journalistischer Möglichkeiten. Die Redaktion der Washington Post wollte diese nutzen, und Jeff Bezos hat in parteilichem Eigeninteresse in die Pressefreiheit seiner Zeitung eingegriffen. Das ist unverzeihlich. Viele US-amerikanische Abonnenten haben das offenbar sehr gut verstanden.

Wenn jetzt bereits acht Prozent aller Washington Post "Subscriber" (digitaler Abonnenten) ihr Abonnement gekündigt haben, ist dies auch für deutsche Medien eine wichtige Lehre.

Viele deutschen Medien praktizieren in der Bewertung der Politik der aktuellen Bundesregierung, in Fragen der Wirtschaftsideologie, und nicht zuletzt in außenpolitischen Fragen klare Parteinahmen: für die Nato, für enge Bündnisse mit den USA, gegen China, aufseiten der Ukraine, im Nahostkonflikt auf Seite der Palästinenser. Rasant kann da aber auch ihnen eine solche Online-Strafaktion mündiger Leser drohen.

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Redaktionelle Anmerkung: Jeff Bezos ist nicht, wie ursprünglich in der Dachzeile des Betrags geschrieben, Verleger der Washington Post, sondern Eigentümer der Zeitung. Seit 2013 ist er alleiniger Besitzer der Tageszeitung. Verlegt wird die Zeitung seit November 2023 von William Lewis.