Elektronische Heimatlosigkeit
Vilém Flusser über Medientechnik und Fremdenhass
Vilém Flusser besaß die seltene Gabe, Thesen zum technischen Fortschritt und zum Fremdenhass miteinander zu verknüpfen. Diese Gabe ist aus der Not entstanden, als Emigrant in Brasilien ein Auskommen als Medientechniker finden zu müssen. Sein legendärer Vortrag "Heimat und Heimatlosigkeit", die jetzt auf CD erschienen ist, verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Medientechnik und der ethischen Frage nach dem Umgang mit dem Anderen aus fremden Kulturen.
Man hört den 1920 in Prag geborenen Juden, wie er zunächst anhand der eigenen Biographie das Thema Fremdenhass entwickelt. Flusser studierte in Prag Philosophie, bevor von dort vor den Nazis flüchten musste. Er emigrierte über London nach Sao Paulo in Brasilien. Dort war er zunächst in der Wirtschaft tätig, bevor er die Notlage, ein Fremdsprachler zu sein, als große Chance begriff.
Das in Brasilien gesprochene Portugiesisch erschien ihm nämlich als eine programmierbare Webmaschine, die es Zuwanderern aus Japan, Italien und eben auch dem jüdischen Emigranten Flusser gestattet, Worte aus ihren Muttersprachen melodisch miteinander zu vermischen. Flusser sah in dieser werdenden Sprache eine willkommene Gelegenheit, abstrakte Begriffe aus der Wissenschaft- und Kommunikationstheorie elegant darzustellen.
Die Sprache als formales System zu begreifen, das derjenige vorteilhaft bedienen kann, der nicht in den Wurzeln der Sprache verhaftet ist, das ist ein Gedanke, den sich der Mathematiker Alan Turing im selben Zeitraum stellt. Die Turing-Maschine operiert abstrakt auf einem endlosen Band und ist weder orts- noch zeitgebunden, also ohne Bodenhaftung und ohne den Ballast der Vergangenheit. Flusser spricht zwar in der Metaphorik des mechanischen Zeitalters, wenn er in seiner Autobiographie "Bodenlos" die brasilianische Sprache einen "Webstuhl" nennt", doch betont er zugleich ihre Manipulierbarkeit. Es stilisiert sich damit zu einem Sprachtechniker, der auf Grund seiner mangelnden Bodenhaftigkeit, Worte und ihre Verknüpfungsregeln als Datensätze betrachten kann, die frei von heimatgebundenen Sentimentalitäten prozessiert werden können.
Flussers Sprachprogramm war erfolgreich. Er wurde zum gefragten Essayisten, dessen Stil jüngere Autoren nachahmten, avancierte zum Professor für Kommunikationstheorie und war als Berater der Biennale von Sao Paulo tätig. Man soll ihm sogar einen Ministerposten angeboten haben, den er jedoch mit dem schlichten Kommentar ablehnte, dass solch ein politischer Posten für einen gelehrten Mann unehrenhaft sei. Es waren wohl auch Bemerkungen wie diese, die seine Situation in dem von Militärs regierten Brasilien so erschwerten, dass er 1972 erneut emigrieren musste und sich in Frankreich niederließ. Flusser starb 1991 bei einem Autounfall nahe der tschechisch-deutschen Grenze.
In Deutschland ist der "Nomade" Flusser als Theoretiker der Fotografie und der neuen Medien bekannt geworden. Flusser veröffentlichte in verschiedenen Sprachen, die er als unterschiedliche Medien begriff, darunter auch das Deutsch seiner Prager Herkunft. Für den Mann war es ein Leichtes sich in Deutschland einen Namen als Medientheoretiker zu machen. Beste Voraussetzung dafür war noch einmal mehr die Not des Flüchtlings, in fremden Situationen kommunizieren zu müssen, dann aber auch sein lebendiges Interesse an Wissenschaftstheorie und Mathematik.
Letzteres ließ ihn schon in den fünfziger Jahren erkennen, dass die Computer Wirtschaft und Gesellschaft revolutionieren werden. Die Rede auf der CD verdeutlicht den ethischen Hintergrund von Flussers Medientheorie, nämlich dass der Computer es ermöglicht, sich von überlieferten Autoritäten der abendländischen Kultur und insbesondere vom Nationalismus zu befreien. In den Vordergrund treten deshalb neue Möglichkeiten des menschlichen Zusammenlebens, die nicht durch abstrakte Autoritäten geregelt werden, sondern durch schnellen und effizienten Austausch von Wissen. Das Verhältnis des Fremden und des Eigenen so zu gestalten, dass der Heimatlose und Fremde in seiner Würde wahrgenommen wird, kann mit Hilfe neuer Medien geschehen. Die Medientheorie erscheint so als eine Konsequenz eines ethischen Anspruchs und nicht als Rechtfertigung technologischer Innovation.
Diesen Eindruck kann ein Besuch im Vilém Flusser Archiv der Kunsthochschule für Medien Köln leicht bestätigen. Dort sind frühe Veröffentlichungen Flussers, die zu Themen der Religiosität und der Gesellschaftsordnung in Brasilien erschienen sind, einsehbar. Zudem belegen zahlreiche Manuskripte in Portugiesisch, Deutsch, Französisch und Englisch, dass Flusser in jeder dieser Sprachen unterschiedlich dachte. Er ging davon aus, dass jede Sprache ihre eigene "Herrlichkeit" besitzt und damit auch einen besonderen Beitrag zur Philosophie des Miteinander zu formulieren vermag. Flusser schrieb manche Texte mehrmals in verschiedenen Sprachen und verglich dann die Fassungen miteinander.
Doch bleibt das geschriebene Wort ungleich hinter der lebendigen Stimme Flussers zurück, die in zahlreichen Audiokassetten gespeichert ist. Man kann ihn - der der das Ende der Schrift in Texten argumentativ vorzeichnete - als Mono-, Dia- und Polylogen kennenlernen. Gespräche mit Freunden, Interviews und einige Vorträge sind aufgezeichnet und abhörbar. Es ist ein Anliegen des Archivs, weltweit nach anderen Ton- und Bilddokumenten zu forschen (Hinweise bitte an flusser@khm.de). Ziel dieser Forschung ist es nicht, einen Schatz an Dokumenten anzuhäufen. Das würde dem nomadischen Grundzug des heimatlosen Denkers empfindlich stören. Das Archiv möchte vielmehr den Austausch von Dokumenten unterstützen und so die Kommunikation zwischen den durch mindestens fünf Sprachen getrennten Flusser-Forschungsinseln fördern.
Flusser hält im Vortrag "Heimat und Heimatlosigkeit" zunächst fest, dass das deutsche Wort "wohnen" bequem in viele Sprache übersetzt werden kann, das Wort "Heimat" hingegen nicht. Beruft man sich auf die Sitten der Heimat, dann betreibe man "Geheimniskrämerei" mit dem Ziel, andere auszugrenzen. Denn indem man besondere Gebräuche für sich in Anspruch nimmt und darauf verzichtet, diese jedermann verständlich zu vermitteln, verschärfe man unnatürliche und unmenschliche Differenzen. Wohnen hingegen ist zutiefst menschlich und natürlich. Eine Wohnung beziehen bedeutet, Gewohnheiten einer neuen Umgebung anzunehmen. Dazu muss man nicht eigene Wände und eigenen Grund und Boden besitzen. Beispielhaft für eine aufgeschlossene Wohnkultur waren die im Nationalsozialismus vertriebenen deutschen Intellektuellen. Im Nord- und Südamerika der dreißiger und vierziger Jahre haben sie für einen gewaltigen kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung gesorgt. Dieser historische Prozess ist mit dem gegenwärtigen Migrationsbewegungen vergleichbar. Die Vietnamesen in Kalifornien, die Japaner und die Nordestinos in Brasilien oder die Türken in Deutschland werden in den jeweiligen Ländern produktiv.
Produktiv werden, das bedeutet nicht Geschäfte zu treiben, sondern die Flexibilität und Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft zu trainieren. Dieses Training ist aus zwei Gründen für das Sozialsystem überlebenswichtig. Für Flusser überwiegt der erste ethische Aspekt: Er beruht auf der Überzeugung, dass das eigene Leben nur dann lebenswert ist, wenn man stets etwas Neues entdecken kann, und es gab für den philosophischen Schriftsteller Flusser nichts, das der Entdeckung des Fremden und Anderen in der Kultur gleichkam. Der zweite wirtschaftlich-technologische Aspekt ist davon schwer zu trennen.
Der Computer verändert die Gesellschaften weltweit so schnell, dass man sich auf keine Autoritäten und keinen Vorschriftenkatalog mehr verlassen kann. Wer heute im globalen Maßstab handeln möchte, der muss seine Flexibilität trainieren. Und das heißt, dass er den ständigen Umgang mit dem Fremden - seien es Personen oder der Ausfall technischer Sicherheiten - als Normalfall verinnerlicht. Deshalb sind die Wohnungen der Fortgeschrittenen offene Systeme. Sie gleichen Zelten mit beweglichen Wänden, die sensibel für die Geschehnisse in der Außenwelt sind und die gestatten, überall Wohnung zu beziehen.
Dieser und andere Vorträge, die noch unveröffentlicht in den Kassetten des Vilém Flusser Archivs gespeichert sind, machen hörbar, dass der Medientheoretiker Flusser, der so vehement die neuen Technologien begrüßte, mit der mechanischen Schreibmaschine arbeitete. Man nimmt wahr, dass seine Vorträge auch von dem Takt der Schreibmaschine bestimmt wurden, auf welcher der Autor die Manuskripte komponierte. Das ist mehr als eine Kuriosität, denn es verdeutlicht die besondere Chance, die in dieser und in weiteren Veröffentlichungen von Tondokumenten liegen. Sie machen erst nachvollziehbar, wie sehr Schrift und Rede in einer Wechselbeziehung stehen und sie bestätigen die Vermutung, dass unsere Denkmuster von den Medien, die wir benutzen, geleitet werden. Flusser, der sich in vier sprachlichen Medien Portugiesisch, Deutsch, Französisch und Englisch in Ton und Schrift ausdrücken konnte, war sich dieser Mächte bewusst und setzte sie ein. Die digitale Speicherung bietet nun die Möglichkeit, zumindest den Medienwechsel von Text und Rede zu studieren.
Vilém Flusser Archiv: Kontakt flusser@khm.de
Vilém Flusser: Heimat und Heimatlosigkeit. (Verlag:) suppose. Köln 1999. Zu beziehen über den Buchhandel oder kontakt@suppose.de. ISBN 3-932513-12-6. Unverbindliche Preisempfehlung: 32 DM.
CD:
Die eigene Biographie (Robion, September 1991) 3:34
Heimat und Heimatlosigkeit (Weiler/Allgäu, August 1985) 44:40
Vortrag beim II. Internationalen Kornhausseminar
Ungekürzte Originaltonaufnahme
Booklet:
Häuser bauen (1989)
Vom Zelten (1990)
Vertreibung (1989)
Nationalsprachen (1991)
(Reproduktion der Originalmanuskripte)