Elektronische Liebesbriefchen

Die E-Mail eignet sich zur Kommunikation in allen Beziehungsphasen

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Schwerverliebte haben ständig das Bedürfnis, ihre Liebe zu dokumentieren: Liebe wird in ausschweifenden Schreiben, auf Bierdeckeln, mit Post-Its und per SMS geschworen. Der wichtigste Name der Welt wird mit Stöckchen in den Sand, mit Farbe an die Wand, mit dem Messer in die Baumrinde und in jungen Jahren auch mit der Zirkelspitze in den Unterarm geritzt. Und das sprichwörtliche Liebesgeflüster geht nicht mehr nur von Mund zu Ohr, sondern auch durchs Telefon und so mancher Anrufbeantworter wartet mit romantischem Gesäusel auf.

Die medialen Möglichkeiten der libidinösen Zustandsbeschreibung sind sprunghaft angestiegen. In "Love Letters. Die Kunst, Liebesbriefe zu schreiben" rät Michelle Lovric gar dazu, zur originellen Übermittlung von Liebesbotschaften mit wasserfester Tinte ein Briefchen zu schreiben, dieses in einem winzigen Umschlag in einem Eiswürfel einzufrieren und in einem Getränk zu servieren. Wer einen pappigen Eiswürfel aus seinem Gin Tonic gefischt, vorsichtig einen Minibrief rausgelutscht und dann die durchnässte Kurzbotschaft beglückt empfangen hat, den muss wahrlich Amors Pfeil getroffen haben. Etwas weniger originell, dafür aber umso erfolgsversprechender, ist die Liebeskommunikation per E-Mail.

Für jede Phase einer Liebesbeziehung gibt's das entsprechende E-Mail-Pendant: Von den ersten zärtlichen Banden bis hin zum tränenreichen Abschied kann der ganze Liebesreigen medial begleitet werden. Und in vielen Fällen ist Mailen nicht die schlechteste Lösung.

Zum Beispiel in Phase eins, der Annäherung: Statt todesmutig nach durchzechter Nacht am Telefon rumzustottern ("Du weißt doch, ich bin die mit dem blauen T-Shirt - ja wir haben uns so ungefähr zweieinhalb Stunden unterhalten - ja genau die!") oder Abende lang in der vermeintlichen Stammkneipe der Neuentdeckung rumzulungern, setzt man einfach ein elektronisches Briefchen auf. Vorausgesetzt, man hat die entsprechende E-Mail-Adresse ergattert. Hält man übrigens nach dem Austausch der E-Mail-Adressen ein Zettelchen mit der Aufschrift kuschelmaus@web.de oder auch arschgranate@gmx.de in Händen, so kann dies durchaus als Frühwarnsystem vor geschmacksverirrten Zeitgenossen genutzt werden.

Die Erstellung einer fünfzeiligen E-Mail nimmt dann zwar schon mal gut zwei Stunden in Anspruch, aber das ist die Risikominimierung im Vergleich zum Anruf wert. Wer nicht soviel Zeit investieren möchte, kann auch in die Fußstapfen von Cyrano de Bergerac treten: Frei verfügbare Liebesbriefgeneratoren im Internet reihen Phrasen aneinander, die allerdings selbst die "Ich hab dich lieb"-Routineformel als kreativen Höhenflug erscheinen lassen. Nichtsdestotrotz, zum zwanglosen Beschnuppern ist die E-Mail wie geschaffen.

Eskalationsstufe zwei, die Phase des Liebesgeständnisses, ist dagegen nicht so E-Mail-kompatibel. Nur ganz Schüchterne sollten beim Geständnis ihrer Liebe auf einen Elektrobrief zurückgreifen. Das romantische Liebesgeständnis ist dann doch durch keine mediale Übermittlung zu ersetzen - und das ist ja auch nicht die Hauptfunktion des Liebesbriefchens.

Diese stellt, so Eva Lia Wyss, das Liebesgeplänkel dar. Die Medienwissenschaftlerin hat im "Zücher Liebesbriefarchiv" über 5.000 Liebesbriefe gesammelt: Vom Heiratsantrag über Faxe, Postkarten, E-Mails und SMS bis hin zum Kopfkissenzettelchen ist alles vorhanden. Die Liebesbriefexpertin vergleicht die Liebeskorrespondenz im Internet mit den Brautbriefen des 19. Jahrhunderts. Sigmund Freud zum Beispiel schrieb während seiner vierjährigen Verlobungszeit fast täglich Brautbriefe an die Zukünftige. In den insgesamt 1.500 Briefe plauderte Freud über Alltagsbegebenheiten, wissenschaftliche Entdeckungen und persönliche Erlebnisse und stabilisierte nebenbei seine Liebesbeziehung - auch wenn die Botschaften manchmal noch so banal waren:

Paris, 20. Januar 1886, Mein geliebtes Weibchen...Ich wollte gestern um zwölf nachts schreiben, aber ich konnte die Zündhölzchen nicht finden und musste bei Mondenschein die feine Kleidung ablegen und zu Bette gehen.

Die täglichen Briefe der Verlobten - in Schönschrift, auf gutem Papier und ab und an gar mit einer Pressblume verziert - verbindet auf den ersten Blick wenig mit der elektronischen Liebeskommunikation, dennoch gibt es eine Menge Gemeinsamkeiten. Die zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit angesiedelte E-Mail-Textform ist zwar nicht so blumig wie der Schreibstil des 19. Jahrhunderts, doch obwohl E-Mails ohne Gestik, Mimik und Tonfall auskommen müssen, gibt es Platz für persönliche Ausdrucksformen. Und weil Rechtschreibfehler und Grammatikalisches in der schnellen Post nicht so wichtig sind, ist ein liebesbrieflicher Schlagabtausch per E-Mail leicht realisierbar und macht so manche Fernbeziehung erträglich.

Der als Liebesbrief getarnte Massen-Virus "Loveletter" infizierte im Frühjahr 2000 etwa 45 Millionen Computer weltweit. Der Betreff "I love you" in Kombination mit der Aufforderung "Kindly check the attached Loveletter coming from me" sprach ein ungeahnt großes Publikum an. Der versprochene Liebesbrief war jedoch nicht enthalten. Dies war besonders enttäuschend für jene, die auf ein heimliches Liebesgeplänkel hofften: Denn Seitensprünge werden durch die elektronische Kommunikation stark vereinfacht.

In Kombination mit der SMS stellt die E-Mail das perfekte Handwerkszeug zum Fremdgehen dar. Das mailbasierte Techtelmechtel sollte dabei jedoch nicht auf der Festplatte dokumentiert sein. Im Wahn der Eifersucht entdecken misstrauische Liebste vielleicht doch noch ihre Affinität zur Technik und die heimlichen E-Mail-Briefe bekommen ein größeres Publikum als ihnen zugedacht war.

Vor 250 Jahren verfasste Christian Fürchtegott Gellert eine praktische Abhandlung von dem guten Geschmack in Briefen. Darin riet er davon ab, was damals durchaus üblich war, Liebesbriefe mit einer späteren Buchveröffentlichung im Hinterkopf zu verfassen, denn "Einfälle, die unter vier oder weniger Augen schön und wohl angebracht waren, verlieren ihren Wert, wenn sie der Welt vorgelegt werden." Auf eine unfreiwillige Veröffentlichung von Fremdgehliebesbriefchen trifft dies schon zweimal zu, selbst wenn die eigene Beziehung kurz vor dem Exitus steht. Apropos: Seine Liebe mit einer schnöden E-Mail zu beenden, ist jenseits der Hochpubertät indiskutabel - doch alles, was nach dem Tag der Trennung kommt, wird durch die Möglichkeit der elektronischen Kommunikation oft erleichtert.

Wer sich vor Wut nicht in die Augen sehen kann, kann wenigstens mailen. Doch sollte im Zorn Niedergeschriebenes wenigstens eine Nacht auf der Festplatte weilen, bevor es über den Draht geht. E-Mails treffen oft den falschen Ton, da die schriftliche Kommunikation den Mut dazu gibt, nie Ausgesprochenes niederzuschreiben. Und manch ein Empfänger liest zwischen den Zeilen ganze Psychogramme. Deshalb ist im Nachbeziehungs-E-Mail-Austausch Vorsicht angesagt.

Und das gilt sowieso: Man sollte nie vergessen, dass ein E-Mail-Liebesbriefchen ohne großen Aufwand für immer archiviert und - noch fataler - mit einem Klick an die ganze Welt weitergeleitet werden kann. Also, immer noch mal drüberlesen, den richtigen Empfänger anklicken und bloß Nix per E-Mail versprechen. Dafür gibt's immer noch Liebesgeflüster.