Elfenbeintürme des Wiederaufbaus
Koordinaten der Katastrophe - Kaschmir, Islamabad und die "Marghalla Towers"
Schachbrettartiger Grundriss samt Bauklötzchenarchitektur, drei künstlich geschaffene Seen und massenhaft künstlich gepflanzte Bäume - so ließe sich Islamabad skizzieren. Das Bild wäre jedoch nicht vollständig, wenn man den Blick der pakistanischen Hauptstadt auf die nördlichen Naturzonen des Landes unberücksichtigt ließe: Sie werden von den Junta-Imagologen als Markenzeichen Pakistans stilisiert - Landschaften des Bleibenden, die die Identität einer ruhelosen Nation stiften sollen. Was im Zuge dessen als touristische Alternative zum Himalaja vermarktet wird, liegt jedoch an einer Stelle, an der die eurasische und indische Platte kollidieren. Diese tektonische Kollision hat zwar vor 50 Millionen Jahren den Himalaya entstehen lassen, aber eben auch die schreckenerregendste Katastrophe seit langem hervorgerufen: Ein Erdbeben, das Islamabad zum umstrittenen Zentrum des Wiederaufbaus gemacht hat.
Als Pakistan am 8. Oktober erschüttert wurde, wusste man in Islamabad lange Zeit nicht, welches Ausmaß das Naturereignis hatte. In der Hauptstadt war davon zu wenig zu spüren gewesen. Präsident Musharrafs Auftreten verriet bis in den späten Nachmittag, dass er keine Ahnung von der Schwere des Bebens hatte, wie ein in Dehli stationierter Journalist notierte. Man wägte sich in Sicherheit, der Schaden schien sich in Grenzen zu halten, nur langsam sickerten Nachrichten aus dem Norden durch. Doch dann begann das Schreckensszenario Gestalt anzunehmen.
Mehr als 80.000 Tote, mehrere Millionen Menschen zwangsmobilisiert, einige Milliarden US-Dollar Schaden. Eine humanitäre Katastrophe, die mit dem Tsunami im Indischen Ozean und dem gewaltigen Unwetter von New Orleans vergleichbar war, die aber kaum so tief in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit vordringen konnte. Denn während die Informationen nur langsam die pakistanische Regierung erreichten, kamen sie in den Massenmedien nie wirklich an. Zumindest nicht so, wie dies Bilder aus New Orleans oder Phuket getan hatten. Ein Grund dafür war: Es standen kaum Bilder zur Verfügung. Die betroffenen Regionen waren zu abgelegen und von den Informationsnetzwerken zu abgeschnitten.
Stattdessen kursierten Bilder aus Islamabad. Sie zeigten eingestürzte Hochhäuser und irritierte Menschen, die versuchten Verunglückte aus den Trümmern zu bergen oder die einfach nur paralysiert herumstanden. Das Beben hatte auch die pakistanische Hauptstadt erfasst, es sollte einige Tage dauern bis klar wurde, dass diese Schäden vergleichsweise begrenzt waren. Das lag weniger am Informationsmangel seitens der Regierung als vielmehr daran, wie die vorhandenen Informationen der Weltöffentlichkeit präsentiert wurden. Die Aufnahmen von den zerstörten Hochhäusern evozierten, dass weite Teile der Stadt betroffen waren. In Wirklichkeit handelte es sich in erster Linie um die so genannten "Marghalla Towers".
Die drei Türme in Sektor F-10
Eine Woche nach der Katastrophe richtete die Regierung in Islamabad die Earthquake Reconstruction and Rehabilitation Authority (ERRA) ein, unterstellte sie einem hohen Militär und stattete sie mit den Kapazitäten des Military Engineering Service (MES) aus. Die im Büro des Regierungschefs angesiedelte Federal Relief Commission wurde ebenfalls der Leitung eines Militärs - Generalmajor Farooq Ahmed Khan - unterstellt. Während im Norden des Landes die Folgen der Naturkatastrophe nach und nach ans Licht kamen, zirkulierten zahlreiche Detailaufnahmen von den "Marghalla Towers" in den Massenmedien: Spektakuläre Luftaufnahmen, spontane Schnappschüsse und sachliche Bestandsaufnahmen der Katastrophe.
Im Sektor F-10 der Stadt situiert, mit bis zu 60 Apartments pro Turm und zahlreichen Regierungsbeamten als Bewohner, waren dort allerdings "nur" einige hundert Menschen ums Leben gekommen. Wenn der Informationsökonomie der Katastrophe ein Missverhältnis zur Grunde lag, dann kam es in den Bildern von den "Marghalla Towers" zum Tragen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb wurde der eingestürzte Gebäudekomplex über Nacht zum Symbol der normierten Stadt und darüber hinaus zum Symbol des Landes. Sicherlich nicht zuletzt, um die Möglichkeiten eines schnellen Wiederaufbaus in Aussicht zu stellen. Suggeriert wurde: Das Land konnte so schnell und reibungslos wiederaufgebaut werden wie dieser Gebäudekomplex.
Pakistan und die "Marghalla Towers" in eins gesetzt - sprichwörtlicher könnte das Nation-Building nicht sein. Allein auf die architektonische Dimension war diese Operation allerdings nicht beschränkt. Der Gebäudekomplex konnte nicht nur als Gerüst und Infrastruktur begriffen werden, die wieder in Stand gesetzt werden mussten, sondern auch als Ideengebäude. In dieser Konstruktion - dem Ideengebäude der Nation - waren die nördlichen Gebiete überaus kostbare Ressourcen. Die Bergregionen wurden seit einigen Dekaden in den nationalistischen Imagekampagnen des Staates als Landschaften des Bleibenden stilisiert, nun waren sie schlichtweg erodiert.
Um sich einen Begriff davon zu machen, griff das Wiederaufbaukommando auf Karten zurück. Eine davon war überwiegend gelb markiert. Gelb bedeutete, dass das Beben am 8. Oktober 70 bis 80 Prozent aller Häuser, Straßen und Brücken zerstört hatte. Während der Stoff, aus dem die nationalen Träume sind, sich in den Augen der Zentralregierung gefährlich verfärbt hatte, begriff sie die Gunst der Stunde und installierte die Wiederaufbautruppen als Stabilisatoren einer politisch ewig-instabilen Gegend. Wo gestern tendenziell immer auch Unsicherheit geherrscht hatte - Kaschmir, wo das Epizentrum des Bebens lag, ist ein notorischer Unruheherd -, sollte nun im Windschatten der gesteigerten Notlage die Kontrolle Islamabads zunehmen.
Ideen, Gebäude, Nation
Während die US-Botschaft in Islamabad die Ankunft einer internationalen Expertenkommission feierte, war die Kritik an dieser Entwicklung kaum mehr von der Hand zu weisen. Gegen das Militär wurden Vorwürfe laut, etwa wegen mangelnder Transparenz und Behinderung der Wiederaufbauarbeiten. Bis heute sind sie Gegenstand von Debatten geblieben. Wenig Vertrauen wird auch den politischen Organen der Hauptstadt entgegengebracht. Islamabad ist berüchtigt für Korruption. Die Kritik daran brachte ein Journalist früh auf griffige Protest-Sprüche:
We do not want to flood Kashmir with the Punjabi land mafia and its Islamabad sponsors. And we can just as easily do without a new lot of local Haliburtons emerging, which will surely happen if Islamabad, not Kashmir, calls the shots.
Zweifel am Wiederaufbauplan manifestieren sich auch an den "Marghalla Towers". So sehr sie die Rekonstruktion des Landes und der angegriffenen nationalen Identität symbolisieren, so sehr stehen sie auch für die inhärenten blinden Flecken dieser Operation. Beim Armeeputsch von General Musharraf vor sechs Jahren, so meinte die Zeitung Daily News, seien Armeepatrouillen innerhalb einer halben Stunde vor den "Marghalla Towers" postiert worden, da in den Luxuswohnungen auch hohe Militärs und Regierungsbeamte wohnten. Am Tag des Erdbebens aber habe es drei Stunden gedauert, bis ein erster Trupp dort aufgetaucht sei. Nachdem eines der drei Hochhäuser zusammengebrochen war, dauerte es wiederum einen ganzen Tag, um das nötige Gerät zur vorsichtigen Beseitigung des Bauschutts zu installieren.
Wie ein taz-Journalist erklärte, können die Hochhäuser auch als exemplarisch für die endemische Korruption im Bauwesen angesehen werden. Die Tatsache, dass nur einer der drei Türme einbrach, habe an den Tag gebracht, dass dieser gar nicht hätte gebaut werden dürfen und dass die Baubehörde auch bei der Einhaltung der Baunormen weggeschaut habe. Es ist mehr als zweifelhaft, dass mit dem Erdbeben der systematischen Blindheit nun ein demonstratives Ende gesetzt worden ist, nur weil per Gerichtsbeschluss die insgesamt 12 Konten der "Marghalla Towers"-Besitzer eingefroren wurden. Und das, obwohl nicht nur Mohammad Ramazan Khokher und seine Frau Kahkashan Khokher, sondern auch der Architekt der Hochhäuser Abdul Hafiz Sheikh und der Ingenieur Azher Mohmood Qureshi sowie ihre gemeinsame Firma CCC Associates betroffen ist.
Bezeichnend ist dieser Vorgang trotzdem. Er macht die ikonischen Bauten einer durch und durch normierten Stadt nochmals nachdrücklich zu post-katastrophalen Symbolen der am Reißbrett entworfenen Identität der pakistanischen Nation: Konnten sie zunächst als Zeichen des schnellen Wiederaufbaus gesehen werden, dürften sie nun als Beleg für die juristisch-moralische Angemessenheit dieses Prozesses und damit für eine Rehabilitierung des von Korruptionsgerüchten in Mitleidenschaft gezogenen Images von Pakistan stehen.