Elon Musk, X und die Meinungsfreiheit: Manege frei für Neonazis!
Elon Musk lässt den 2020 gesperrten Rechtsextremen Martin Sellner wieder auf X zu. Enthemmte Follower bleiben nicht aus. Mit Folgen für die Plattform. Ein Kommentar.
Laut Jaron Lanier lautet eine der ungeschriebenen Regeln des Internets: "Entweder du zahlst oder du wirst manipuliert." Elon Musk kennt diese Regel natürlich und ärgert sich darüber. Teils zu Recht, teils zu Unrecht.
Zu Unrecht, weil Musk ein Popanz ist. Der reichste Mann der Welt will einfach, dass alles nach seiner Pfeife tanzt. Er würde die Welt gerne retten (vor der Klimakatastrophe zum Beispiel), aber nur wenn dies nach seinen Regeln passiert (Tesla kaufen). Er duldet schlicht keine Regeln, wenn sie nicht von ihm stammen.
Widerworte passen nicht ins Programm – und deshalb lief das "Skandal-Interview" mit dem entlassenen CNN-Reporter Don Lemon so aus dem Ruder, als der Elon Musk auf dessen Probleme mit den verlorenen Werbekunden anspracht. Richtig geraten: Der Anstarr-Wettbewerb der beiden ist genau das, was dem YouTube-Neuling Lemon in Sachen Publicity am meisten nutzt.
Kapitalistische Logik: Alles hört auf die Werbekunden
Zu Recht regt sich Musk über die Regeln des Internets auf, weil namentlich die "großen" Medien (CNN et al.) den Einflüsterungen ihrer Werbekunden gehorchen müssen. Das ist in den USA in einem längst grotesken Maße der Fall.
Zum Beweis muss man sich nur ein Interview mit Bernie Sanders anschauen. ABC, CNN, MSNBC, Fox und Co. scheinen verpflichtet zu sein, den Senator aus Vermont zu fragen, woher er das Geld nehmen will für seine sozialistischen Ideen (Krankenversicherung für alle) und ob er mit den Steuererhöhungen die US-Wirtschaft ruinieren möchte. Also genau das, was die Werbekunden hören wollen.
Diese Werbekundenabhängigkeit und die daraus entstehende "Manipulation" (Lanier) ist in den USA extrem, in Europa etwas geringer, weil es neben den Privaten auch staatliche Medien gibt, für die eben gezahlt werden muss.
Im Gespräch mit Lemon platzt Musk der Kragen, weil er spürt, dass er diesen Widerspruch nicht auflösen kann. Sein eigenes, strauchelndes Medium Twitter (X) müsste entweder ein exklusives Bezahlrefugium werden, in dem einige wenige für Informationsaustausch eine Gebühr entrichten, oder es muss Spielwiese der Manipulation durch Werbekunden werden. Anders ist im Netz kein Geld zu machen.
Rechts-Twitter heißt jetzt X – und Nazipropaganda Free Speech
Musks Rede vom Free-Speech-Absolutismus ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass ein gerade etwas glücklos agierender Unternehmer nach der richtigen Strategie sucht. Kurz nach dem Interview mit Lemon holte Musk den österreichischen Identitären Martin Sellner zurück auf Twitter (X).
Der ist mit 50.000 Followern sicherlich kein großer Fisch. Die Frage ist auch, ob dies Musk Herzensangelegenheit sein kann. Ärgert er sich so leidenschaftlich über Migranten, wie es die populären Rechtsextremisten zu tun vorgeben? Kaum. Migranten sind billige Arbeitskräfte, die sich aufgrund ihres unklaren Aufenthaltsstatus und mangelnder Sprachkenntnisse besonders gut ausbeuten lassen.
Außerdem, wenn es eine "Umvolkung"- und "Great Replacement"-Verschwörung gäbe, dann hätte Musk doch sicherlich davon erfahren, oder? Musk holt Sellner zurück, um trotzig einen Punkt zu machen. Die rechten Spinner sind ihm gerade recht, um zu zeigen, wie absolut er die Freie Rede auf Twitter (X) umsetzen will.
Anleihen bei Donald Trump: Die blinde Rechthaberei der Mächtigen
Ein typischer Denkweg reicher und mächtiger Männer. Wenn sie ahnen, dass sie in die Irre gehen, dann stellen sie sich umso lauter und energischer hinter ihren Fehler. Die Double-Down-Strategie funktioniert seit Jahrzehnten bei Donald Trump, weil die Öffentlichkeit bereit ist, sich auf die teils blinde Rechthaberei der Mächtigen einzustellen.
Hinzukommt, dass sich Musk – wie die meisten erfolgreichen Unternehmer – den Rechten durchaus in vielen Punkten nah fühlt. Welcher Milliardär mag Gewerkschaften und Mitbestimmung? Zumindest ein bisschen Faschismus gilt als gut fürs Business.
Freie Meinungsäußerung ist grundsätzlich gut
Musks Argumente sind allerdings nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Was ist das Problem mit freier Meinungsäußerung im Netz? Wenn jemand unbedingt ins Mikro quasseln will: "Die Juden / die Moslems / die Schwulen / die Woken / die Marxisten / die Frauen sind unser Untergang", dann soll er es doch tun. Fun Fact: Es sind fast ausschließlich Männer, die dieses Bedürfnis haben.
Nach solchen Äußerungen weiß das zumindest einigermaßen aufgeklärte Publikum, wen es vor sich hat und die freie Meinungsäußerung war, wenn auch indirekt, ein Instrument der Aufklärung. Nur, es gibt eine ganze Menge unaufgeklärte Zuhörer und Leser. Und die greifen vielleicht zur Waffe.
Die Mischung aus Isolation und geringer, weil selektiver Bildung führen (namentlich im Netz) schnell zur Paranoia. Es kann dann enden wie im neuseeländischen Christchurch, wo im Jahr 2019 der Rechtsextremist Brenton Tarrant zwei Moscheen überfiel und 51 Menschen ermordete.
Social-Media-Radikalisierung und rechte Gewalt
Tarrant war ein Fan von Martin Sellner und hatte ihm 1.500 Euro gespendet. Eine kuriose Beziehung, die vermutlich asymmetrisch und nicht ganz aufrichtig ist. Schließlich ist Sellner Funktionär. Er ist gut vernetzt und bekommt feine Einladungen zum Abendessen (zum Beispiel nach Potsdam).
Dort muss er nichts anderes machen, als die immer gleichen Statements herunterzubeten: Remigration, Überfremdung etc. – niemand erwartet bei Rechtsextremisten Originalität. Sellner hat mit seinen verzweifelten Incel-Followern nicht viel gemeinsam. Mit denen geht er doch sicherlich auf kein Bier.
Den Attentäter Tarrant hatte Sellner zwar brav zu Bier oder Café nach Wien eingeladen, aber wie groß ist die Gefahr, im Fall eines Neuseeländers solch ein ödes Treffen wirklich durchsitzen zu müssen? Oder haben sich die beiden doch in Wien getroffen und ganz prächtig verstanden? Das wird die Öffentlichkeit vermutlich nie erfahren, es ist aber auch unerheblich.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass sich einsame Männer im Netz radikalisieren. Sie werden gewalttätig und gefährlich. Es gibt eine ganze Medienindustrie von rechten Influencern, die diese Klientel bedient. Genau die sollte in den sozialen Medien keine Helfershelfer haben. Bei diesem gefährlichen Betrug müssten verantwortungsvolle Medienunternehmen eine Grenzlinie ziehen.
Elon Musk im Dialog mit sich selbst
Elon Musk ist dazu nicht bereit. Er steigt mit Twitter (X) in die braunen Untiefen und holt Martin Sellner zurück. Damit gewinnt Musk sicherlich keinen flamboyanten Autor, der mit ungewöhnlichen Meinungen Twitter (X) bereichert. Musk macht dies vermutlich einfach, weil er so unendlich sauer auf Don Lemon ist, der im Interview die Twitter (X)-Probleme aufgedeckt hat.
Ob Musk wirklich an Dinge wie Great Replacement glaubt, ist hierbei unerheblich. Er nimmt Vertreter dieser rechten Verschwörung zurück auf Twitter (X), um aus seiner Sicht recht behalten zu können. Damit kann er allenfalls sich selbst etwas bewiesen. Die Welt hat er damit zu einem gefährlicheren Ort gemacht.