Ende der Freizügigkeit im Schengen-Raum
Immer öfter wird der Schengener Grenzkodex für politische Proteste oder grenzüberschreitende Polizeioperationen unterlaufen, um Kontrollen an den EU-Binnengrenzen zu ermöglichen
Zu Recht wurde die Ankündigung der dänischen Regierung zur Errichtung neuer Grenzanlagen heftig kritisiert: Die Schaffung eines Raums ohne Binnengrenzen, in dem der freie Personenverkehr ohne Kontrollen gewährleistet ist, gilt als eine der greifbarsten Errungenschaften der EU. Dabei werden längst regelmäßig großangelegte "Gemeinsame Polizeioperationen" an EU-Binnengrenzen und auf allen Transportwegen durchgeführt.
Der 2006 in Kraft getretene Schengener Grenzkodex regelt unter anderem den Wegfall von Personenkontrollen und Grenzüberwachungsanlagen an den Binnengrenzen der Schengen-Staaten in der Europäischen Union: Die Grenzen dürfen an jeder Stelle ohne Anhalt überschritten werden - die Staatsangehörigkeit der Reisenden spielt dabei keine Rolle.
Die Schengen-Mitgliedstaaten sind seitdem verpflichtet, alle Verkehrshindernisse an den Binnengrenzen zu beseitigen. Nur im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit dürfen die Kontrollen temporär wieder eingeführt werden. Hierfür soll jedoch zuvor eine Risikoanalyse erstellt werden, die regelmäßig evaluiert werden muss. Systematische Personenkontrollen bleiben untersagt.
Verdachtsunabhängige und rassistische Kontrollen verstoßen gegen EU-Recht
Im Juni letzten Jahres hatte der Europäische Gerichtshof darüber hinaus klargestellt, dass der Schengener Grenzkodex ebenso ausschließt, in einem 20 km breiten Streifen entlang der Binnengrenzen die Identität einer Person zu kontrollieren, ohne dass diese vorher aufgefallen wäre.
Doch in Deutschland wird entlang der Außengrenzen munter kontrolliert, gemeinsame Kontrollen mit Polizisten der Nachbarländer sind längst keine Ausnahme mehr und können sich, etwa auf Bahnlinien, bis ins Rhein-Main-Gebiet erstrecken. Betroffene berichten, dass hierbei häufig nach dem Kriterium der Hautfarbe vorgegangen wird. Diese Schikanen rassistisch zu nennen hütet sich der Autor nur deshalb, da hierfür empfindliche Ordnungsgelder verhängt werden. Menschenrechtsorganisationen weisen darauf hin, dass in Deutschland Diskriminierungen durch die Polizei im Rahmen eines "Racial Profilings" alltäglich sind. Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) hatte daher empfohlen, das Phänomen zu untersuchen und für eine laufende Beobachtung rassistischer Polizeiarbeit zu sorgen.
Grenzkontrollen gegen politischen Protest
Doch es bleibt längst nicht bei den alltäglichen Kontrollen: Hinzu kommt die anlassbezogene Wiedereinführung von Grenzkontrollen etwa im Rahmen von Großereignissen wie Gipfeltreffen oder einem Papstbesuch. In einem Vermerk hatte die EU-Kommission letztes Jahr Ergebnisse einer Umfrage vorgelegt, wie oft seit Inkrafttreten des Grenzkodex "wegen eines vorhersehbaren Ereignisses oder in Fällen, die ein sofortiges Handeln erforderten, vorübergehend Personenkontrollen wiedereingeführt" wurden.
Unter den zwölf Regierungen, die ein oder mehrmals Grenzkontrollen einführten, findet sich Frankreich mit Abstand an erster Stelle, darunter mehrmals wegen Demonstrationen der baskischen Batasuna oder einem "Treffen radikaler baskischer Jugendlicher". Ansonsten begründen sich die Maßnahmen größtenteils mit der Kontrolle und Überwachung von Gipfeltreffen, darunter mehrere informelle Zusammenkünfte unter Regierungen oder NATO-Außenministern, die G8-Gipfel in Heiligendamm und dem italienischen L'Aquila, ein KSZE-Ministerratstreffen, der NATO-Gipfel in Straßburg, Baden-Baden und Kehl, eine Nobelpreisverleihung in Oslo, die UN-Klimakonferenz in Kopenhagen oder die Fußballeuropameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz. Gleich zweimal führte Island Grenzkontrollen ein, um ein Treffen des internationalen Motorradclubs "Hells Angels" auszuforschen.
Die Kommission stellt in ihrem Vermerk fest, dass die Mitgliedstaaten häufig zu spät über die Maßnahmen informieren. Die vorgesehene "förmliche Konsultation zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission" ist demnach nicht mehr gewährleistet; ein Vorbehalt verunmöglicht. Auskünfte zur vorübergehenden Wiedereinführung der Grenzkontrollen seien zudem oft sehr allgemein gehalten.
Ende der Offenheit
Normalerweise müssen die Einwohner der EU-Mitgliedstaaten über die Aufhebung ihrer Freizügigkeit im Vorfeld der Maßnahme ausreichend unterrichtet werden. Dieses Recht gilt jedoch nicht mehr im Rahmen der sogenannten "Gemeinsamen Polizeioperationen" ("Joint Police Operations" JPO), wie sie in den letzten Jahren immer mehr in Mode gekommen sind. Im Gegenteil ist hier höchste Geheimhaltung angesagt, um den Erfolg der mehrtägigen Missionen nicht zu gefährden. Ihr Einsatzplan soll laut einem dazugehörigen Leitfaden als Verschlusssache mit entsprechendem Geheimhaltungsgrad eingestuft und nicht veröffentlicht werden.
Die inzwischen teilweise halbjährlich stattfindenden "Joint Police Operations" stehen unter der Leitung der jeweiligen EU-Präsidentschaft und sollen die Polizeibehörden der Mitgliedstaaten und EU-Agenturen miteinander verzahnen. Eine "Koordinierungseinheit" legt Aufgaben und operative Parameter im Einsatzplan fest und erfindet einen Decknamen des Einsatzes. Der federführende Mitgliedstaat arbeitet einen Schlussbericht für die Ratsarbeitsgruppe "Strafverfolgung" aus und sammelt Daten über die ausgeführten Tätigkeiten unter besonderer Berücksichtigung von operativen Ergebnissen, Humanressourcen, Material und Ausrüstung.
Ende April hatte die ungarische Ratspräsidentschaft mit MITRAS ("Migration, Traffic and Security") etwa eine JPO gestartet, an der immerhin 22 EU-Mitgliedsstaaten teilnahmen. Ziel war eine "Bekämpfung illegaler Migration" auf den vorrangigen Transportwegen der Schengen-Zone. 1.838 "illegale Aufenthalte" wurden auf Straßen, Schienen und an Flughäfen festgestellt. Auch die Grenzschutzagentur EU-Frontex nahm an MITRAS teil. Ergebnisse wurden auf einer Konferenz in Budapest zusammengetragen.
MITRAS war der Nachfolger der wenige Monate zuvor zu Ende gegangenen Operation HERMES, die unter belgischer Präsidentschaft durchgeführt wurde und ebenfalls Migrationsströme analysieren und unerwünschte Migranten aufspüren sollte. 43 % der 1.900 festgestellten irregulären Migranten wurden bei der Nutzung von Schienentransportwegen festgestellt, 37.3% auf der Straße und 10% auf Wasserstraßen.
Die Operationen sollen helfen, die Risikoanalysen der EU-Grenzschutzagentur Frontex mit frischen Statistiken zu unterfüttern. Die Teilnahme von Frontex an den JPO ist indes kritikwürdig, da die gegenwärtig noch gültige Frontex-Verordnung Einsätze zur Kontrolle der EU-Binnengrenzen ausschließt (Militarisierung des Mittelmeers). Dabei sind HERMES und MITRAS längst keine Einzelfälle: Neben zahlreichen Seeoperationen im Mittelmeer und Atlantik widmet sich die Frontex-Mission POSEIDON unerlaubten Grenzübertritten in Griechenland und Bulgarien.
Emsige Beteiligung aus Deutschland
Nicht nur unerwünschte Migranten stehen im Fokus der EU-Polizeien. Im Rahmen der JPO AUTOMOTOR hatten 21.000 Polizisten im Februar 150.484 KfZ und 156.510 Personen kontrolliert. Neben Polizeibehörden aus 17 EU-Mitgliedsstaaten waren auch die EU-Polizeiagentur Europol und Interpol beteiligt. Koordiniert wurde die Aktion mit dem europäischen TISPOL-Netzwerk, das EU-weit Verkehrspolizeien miteinander verzahnt. Auf der TISPOL-Webseite war letztes Jahr eine JPO gegen illegalen Mülltransport (AUGIAS) im Vorfeld angekündigt worden, was unter den beteiligten Polizeien für heftigen Unmut sorgte. Derartige Indiskretionen will unter anderem eine unter deutscher Federführung stehende Initiative ausräumen, die eine Zusammenarbeit zwischen TISPOL und der EU-Ratsarbeitsgruppe "Strafverfolgung" stärken will.
Neben TISPOL existieren ähnliche Zusammenschlüsse für Wasserwege (AQUAPOL) und Bahnverkehr (RAILPOL). Mit AIRPOL wurde erst im Dezember letzten Jahres die Zusammenarbeit von Flughafenpolizeien vorangetrieben. Alle Netzwerke betreiben ihre eigenen Gemeinsamen Polizeioperationen. Innerhalb von RAILS überwachten 17.288 Beamte aus 17 Mitgliedsstaaten Bahnanlagen und Bahnverkehr der EU auf der Suche nach Kabeldieben. RAILS war die erste gemeinsame Operation des Netzwerks RAILPOL. Neben geringen Mengen von Drogen konfiszierten deutsche und österreichische Polizeien jeweils eine halbe Tonne Metall. 39.891 Personen wurden hierfür kontrolliert. Fünf Personen, die in Ungarn zur Fahndung ausgeschrieben waren, wurden dem federführenden Land von RAILS überstellt, darunter auch aus Deutschland. 1.738 deutsche Beamte nahmen an RAILS teil und konnten 25 unerwünschte Migranten, vier Fälle von Vandalismus und neun Taschendiebstähle feststellen.
Mit DANUBIUS wurde eine mehrtägige koordinierte Aktion auf Wasserstraßen mit Focus auf dem Rhein-Main-Donau-Gebiet abgehalten. Aus Deutschland waren Länderpolizeien aus dem Saarland, Nordrhein Westfalen, Rheinland-Pfalz, Hessen und Baden-Württemberg beteiligt. Wieder waren Frontex und Interpol integriert, die EU-Polizeiagentur Europol sorgte zudem mit einer Standleitung für den ungebremsten Zugriff auf ihre Datensammlungen.
Insgesamt nahmen Polizeibehörden und Gendarmerien aus 14 Mitgliedsstaaten teil, die hierfür auf 200 Schiffen unterwegs waren. Ziel war die Bekämpfung von Schmuggel, organisierter Kriminalität und unerwünschter Migration. Über 2.000 Wasserfahrzeuge wurden gestoppt, 246 Strafen verhängt, 113 Warnungen ausgesprochen und 168 "andere Maßnahmen" ergriffen.
Auch die polnische Ratspräsidentschaft betreibt die grenzüberschreitende Synchronisation von EU-Polizeien: Im September spürt die zweitägige Gemeinsame Polizeioperation EUROCAR der KfZ-Kriminalität nach, und in der letzten Oktoberwoche sorgt DEMETER mit der Verfolgung unerwünschter Migrationsströme für die neuerliche Aufhebung der Freizügigkeit im Schengen-Raum.