Ende der Wissenschaft?
Eine Attacke auf die Computerwissenschaft und die Sokal-Affaire
Während die einen die Geisteswissenschaften des Unsinns bezichtigen und die Rückkehr zur Objektivität und wissenschaftlichen Rationalität einfordern, glauben die anderen, daß der wissenschaftliche Fortschritt an sein Ende gekommen sei und wissenschaftliche Neuheiten nur noch als philosophische Spekulation oder "ironische Wissenschaft" zu haben wären, da sich die Wissenschaften mit ihren Computersimulationen ihr eigenes Grab schaufeln. In den USA tobt der Kampf der zwei Kulturen.
Natürlich hat im Markt der Aufmerksamkeit oder in der Nische der Meme nicht nur alles Neue und Revolutionäre, sondern auch alles Katastrophische seinen Stellenwert. Aufmerksamkeit beobachtet vor allem Veränderung, mithin das, was nicht stabil bleibt und daher ökonomischerweise nicht wahrgenommen werden muß, sondern aufgrund "alter" Daten als Hintergrund simuliert werden kann. Seit einiger Zeit haben wir im Zeitalter des Post-dies und Post-das fast alles durchexerziert, was zu einem Ende gekommen sein soll: Ende der Geschichte, Ende des Subjekts, Ende der Rationalität, Ende der Moderne und der Postmoderne, Ende des industriellen Zeitalters, der Demokratie und der Arbeitsgesellschaft, Ende des Fortschritts, Ende der Philosophie und der Kunst, Ende der Wirklichkeit, Ende des Nationalstaats ...
Wir lieben Zeremonien des Abschieds oder der Verabschiedung. Das gibt uns einen Kick, erweckt den Eindruck eines epochalen Umschwungs - darunter geht es nicht, wie auch alles, was ein wenig neu ist, den Label Revolution erhält. Richtig begraben wird allerdings nichts, denn auch die Enden sind flüchtig und schon muß das nächste bearbeitet und verkauft werden. Seit einiger Zeit - nach den satten und ästhetischen 80er Jahren der Postmoderne und Nachgeschichte - kam es freilich zu einer Art neuen Konsens, auch wenn dieser bereits die Grundlage der Neuzeit war: Gerade weil vieles sich verändert, bleibt der Motor der Veränderung erhalten. Und der Motor der Veränderung ist der wissenschaftliche und technische Fortschritt, der uns in neue Welten führt und die alten hinter sich läßt. Seitdem starrten wir nach vorne und ging es auch in den Technowissenschaften weniger um die Beschreibung des Gegebenen durch ewige Gesetze, sondern um die Beschreibung, Simulation und Erzeugung des Neuen, um die Entdeckung der Mechanismen, die Neues auf allen Ebenen herstellen. Die Theorien komplexer, nicht-linearer und adaptiver Systeme haben diese Perspektive als Programm verinnert, das sich über die Biologie und darwinistische Evolutionstheorien von der Physik bis hin zu den Gesellschaftstheorien verbreitet hat.
Auch wenn die Möglichkeiten der Voraussage von den Wissenschaften sehr eingeschränkt wurden und sie im Gegensatz zu den Gewißheiten des mechanistischen Zeitalters eher den Status der Metereologie mit ihren Wetterberichten - hier findet man auch eine Wurzel der Chaostheorie - angenommen haben, so wäre eigentlich unschwer vorauszusehen gewesen, daß jemand auch mit der Gewißheit des technowissenschaftlichen Fortschritts Schluß machen wird. Das hat letztes Jahr John Horgan, Mitarbeiter bei Scientific American, bereits mit seinem Buch "The End of Science" vorgeführt. Vielleicht wurde es dem Wissenschaftsjournalisten, der den Markt der Aufmerksamkeit bedienen und ständig den Neuheiten und Stars hinterher jagen muß, einfach ein wenig langweilig, weil hinter allen kleinen Erkenntnissen nicht die große, gut verkäufliche Revolution herauszukitzeln war und er mittlerweile viele der prominenten Wissenschaftler bereits interviewed hatte. Ebenso wie die Mode sich permanent verändern muß, sollte sich auch die Wissenschaft verändern, wenn man Nachrichten über sie in Medien an den Mann bringen und sich selbst einen Namen dabei machen will. Die Verkündung eines Endes ist geschickt, weil man dann nicht im Strom der Details oder Trends mitschwimmt, sondern gewissermaßen selbst einen Abschluß bildet und über dem Geschehen steht, das unter einem brodelt. Eine solche Haltung hat schon immer dazu verführt, die Welt als Wille und Vorstellung und damit als Schein und Immergleiches zu sehen.
Vielleicht sollte man Horgans Attacke auf die Wissenschaften zusammen mit dem von einem Physiker ausgelösten Science War sehen, der ungefähr zur gleichen Zeit den Kauderwelsch der philosophischen Theorien vornehmlich französischer Provenienz, inspiriert von Heideggers Philosophie und Sprachduktus, durch den Kakao gezogen hat. Alan Sokal, Physiker an der New York University, hat es seinerseits geschafft, eine Sokal-Affaire zu erzeugen und aus den Nischen der wissenschaftlichen Publikationen in die medialen Massenöffentlichkeiten - und jetzt auch bis in Deutschlands Medien wie der Zeit - einzudringen.
Sokal wollte, weil er die Sprachspiele der akademischen Geistes- oder Kulturwissenschaftler nicht mehr nachvollziehen konnte, deren intellektuelle Standards testen, indem er in einem mit quasi-wissenschaftlichen Jargon gespickten Text eine unsinnige transformative Hermeneutik der Quantengravität ausarbeitete und sie einer sozialwissenschaftlichen Zeitschrift - Social Text - zur Veröffentlichung anbot. Die nahm den Beitrag ernst und fiel in eben jene Fallstricke der hohlen Wortphrasen, die Sokal vor allem den poststrukturalistischen Theoretikern unterstellte.
Die Quantenphysik diente in Sokals Parodie dazu, das poststrukturalistische und feministische Dogma zu bestätigen, daß es keine äußere Welt gebe und alles ein Effekt von Diskursen und sozialen Konventionen sei. Die Attacke richtete sich den Unsinn, die Absurdität und Bedeutungslosigkeit dieser Theorien, vor allem aber gegen die Verleugnung objektiver Wahrheiten und die Behauptung eines durchgängigen epistemischen Relativismus und Subjektivismus. Steven Weinberg, der sowieso bereits die Philosophen bezichtigte, zur Wissenschaft nichts mehr beizutragen und höchstens eine Art rückschrittlicher Gedankenpolizei zu spielen, unterstützte Sokals Angriff, während die angegriffenen französischen Philosophen vom amerikanischen Kulturimperialismus und davon sprechen, daß die Naturwissenschaftler, nachdem die dicken Budgets des Kalten Kriegs geschrumpft seien, sich nun nur einen neuen Feind suchen würden.
Steht also Horgans Angriff auf die Wissenschaft im Verbund mit den schmählich des Unsinns bezichtigten Geisteswissenschaftlern? Offensichtlich nicht, denn er steht auf der Seite der alten Wissenschaft mit großen Paradigmenbrüchen, die heute nicht mehr möglich seien, weil bereits alles Grundlegende erforscht sei und nur noch Details für die wachsende Wissenschaftlerschar übrigbleiben. Offenbar mag er auch nicht die auf Computersimulationen basierenden Theorien aus dem Bereich der Komplexitätsforschung und des Künstlichen Lebens, die zu keiner Evidenz führen, wie er dies in einem Wired-Gespräch Stuart Kauffman entgegnete, der eben in der Untersuchung der neuen Gesetze kollektiven Verhaltens auf unterschiedlichen Ebenen eine "wunderbare neue Zeit in der Wissenschaft" anbrechen sieht:
"Being a former philosophy student, you may retort that science cannot establish anything with certainty. But that's foolish sophistry. We know that the Earth is round and not flat. We know that electrons exist, and DNA, and gravity, and galaxies. We will never have this kind of evidence for 'baby universes' or the 'laws of complexity' that you - and you alone - discern in your computer."
Die Wissenschaft habe bereits die Grundlagen der Wirklichkeit und die Erzählung ihrer Entstehung vorgelegt. Jetzt könne man nur noch den Rahmen ausfüllen, und wer eine andere Revolution im Wissen anzustreben versucht, erzeuge nur eine "ironische Wissenschaft", die unbeantwortbare Fragen behandelt und so eher der Philosophie angehört. Die Fragen der Komplexitätswissenschaft, warum die Welt oder das Leben gerade so wurden, wie sie wurden, und nicht andere Wege im Möglichkeitsraum eingeschlagen haben, führt nach Horgan zu nichts, höchstens zur metaphysischen Frage, um die auch Heidegger kreiste, warum überhaupt etwas und nicht Nichts sei. "Ironische Wissenschaft", sagt der Wissenschaftsjournalist, bediene nur die Medien und sorge für Ansehen und Einkommen der Wissenschaftler, die mehr sein wollen als biedere und kleine Problemlösungsmaschinen innerhalb eines festgefügten Rahmens.
Ja, nun ist Horgan zu einer gewissen Publizität gekommen und hat möglicherweise das Ressentiment mancher Wissenschaftler gegen die Komplexitätsforscher mit ihren Computersimulationen und Spekulation und gegen ihr Zentrum in Santa Fe geschürt. Aber was wäre eigentlich die Folge, wenn das Ende der Wissenschaft tatsächlich eingetreten ist? Was geschah beispielsweise, nachdem manche, angestiftet von Hegel und in den Fußspuren Kojèves, das Ende der Geschichte und die langweilige Wiederkehr des Immergleichen prophezeiten? Es kam der Zusammenbruch der kommunistischen Staaten und ein Kampf der Kulturen, es trat die Globalisierung mit voller Wucht ins Spiel und der Schwund der Bedeutung nationalstaatlicher Macht, es kam zu einer explosiven Ausbreitung neuer Medien. Ein Ende zu verkünden und sich auf alte Sicherheiten zu stützen, ist vielleicht nur Ausdruck einer Müdigkeit und ein Verlust der Neugier, sicher jedenfalls aber ein guter Mediengag und wahrscheinlich eine memetische Reaktion darauf, daß die Neuheit der Komplexitätsforschung für die Medien verblaßt ist und zu einem etablierten Forschungsprojekt wurde, das jetzt durch geduldiges Arbeiten ausgefüllt werden muß.
Und die Geisteswissenschaften? Sie sollten tatsächlich einmal aufhören, unendlich lange und immer wieder zu schreiben, daß es mit der Wahrheit und Objektivität nichts ist, sondern sich entweder mehr wie einst die Philosophie in die wissenschaftlichen Grundlagen einbohren oder eben gleich und ohne Weltverbesserungspathos Poesie oder reflexive Ideenphilosophie verfassen. Philosophie hat seit ihrem Beginn gewußt, daß die Letztbegründung ihrer Wahrheiten nicht wirklich im Sinne einer wissenschaftlichen Begründung zu haben ist. Gleichwohl brauchen wir kluge Gedanken, mit denen wir der Welt und uns begegnen können, an denen sich Handeln orientieren läßt und die vom Wissen der in der Geschichte der Philosophie durchgespielten Gedankengänge gesättigt sind.