Endlich: Deutschland wird skandinavisch
Seit Jahrzehnten blicken viele fortschrittlichere Deutsche nach Skandinavien und in die Schweiz. Von der Schweiz hätten sie gerne die niedrigeren Steuern und die direkte Demokratie. Von Skandinavien gerne den Sozialstaat und das Primat der Mittelklasse.
Mit der Großen Koalition ist Deutschland etwa 200 Kilometer dichter an Nordeuropa gerückt. Der noch in den Resten des Neoliberalismus vereinte Westen und Osten muss zusehen, wie ihr wirtschaftlich und politisch wichtigster Nachbar, wie das Zentrum der Europäischen Union sich gesellschaftlich Skandinavien annähert. Ein Nordlicht-Phänomen in vier skandinavischen Begriffen.
Storkoalisjon (Norwegisch: Große Koalition)
2011 war es eine besondere Freude zu bemerken, dass der reichste Staat der Welt eine sozialistische Finanzministerin beschäftigte (Warum das reichste Land der Welt eine linkssozialistische Finanzministerin hat), unter deren Ägide er den größten Staatsfonds Europas aufbaute. In Skandinavien bedeutet eine Große Koalition nicht das unfreiwillige Zusammengehen nach dem Verpassen einer Regierungsmehrheit, sondern ist ein traditionelles Prinzip der Regierung.
Da aber die ständige überfraktionelle Koalition automatisch zu einer Nivellierung der Thesen und Programme auf ein mainstreamfähiges Niveau führt, kritisieren etwa die Norweger nun nicht mehr die Regierung, sondern stellen wie Steinar Jakobsen fest: "Wir haben zu viele opportunistische Politiker."
Aber wünschen sich die Norweger wirklich einen Viktor Orbán, der konsequent und rücksichtslos mit patriotischem Pathos sein heruntergewirtschaftetes Land durch Strenge und Verstaatlichung der privaten Rentenversicherung saniert? Oder einen Cameron oder Blair, der die Mehrheit der Bevölkerung zynisch abschreibt?
Wie in der Schweiz ist das große öffentliche Gemeckere an der Politik aber nicht Ausdruck von Politikverdrossenheit oder gar der Erfahrung politischer Ohnmacht, sondern geschieht in der sicheren Gewissheit, dass in der Großen Koalition jeder etwas zu sagen hat. Jeder kennt nämlich jemand, der in der Regierung ist.#
Ab jetzt ist das auch in Deutschland wieder so.
Medelklass första (Schwedisch: Mittelschicht zuerst)
Dass die CDU gegen den Protest der Wirtschaftsverbände nun doch dem Mindestlohn zustimmt, ist kein Erfolg der SPD. Vielmehr hat die SPD, die verantwortlich für die ungerechteste Reform der deutschen Nachkriegsgeschichte ist, versucht, mit dem Mindestlohn ihr Prädikat "sozial ungerecht" abzustreifen und Wählerstimmen zu fischen. Das ist ihr auch gelungen, denn ohne Mindestlohn hätte sie wohl nur noch 14 Prozent bekommen.
Tatsächlich deutet im Koalitionsvertrag aber auch die Mütterrente an, dass auf einmal ein Bedarf gesehen wird, dass die Mittelschicht nicht völlig nach unten ausbricht. Ironisch formuliert: Die bereits seit längerem auf soziale Gerechtigkeit pochende CSU und ihr Partner SPD haben der CDU eine sozial gerechte Politik für den Mittelstand aufgezwungen. Die SPD wird behaupten, den Mindestlohn in die Koalition gebracht zu haben und Merkel und Seehofer werden ihr nicht widersprechen. Nicht nur die Erhaltung, die Ausweitung der Mittelschicht steht nun auf der Agenda, denn die Opportunitätskosten für Armut und soziale Ausgrenzung sind unbezahlbar.
Eine funktionierende Mittelschicht wird dabei zum Finanzfaktor, denn ohne die Mittelschicht gibt es weder Steuereinnahmen, noch Konsum.
Der Mittelschicht aber ist mit politischen Flügelkämpfen nicht gedient. Sie gedeiht auf den satten Weiden des Konsenses, in den blühenden Obstplantagen der Kollegialität und mit den gymnastischen Übungen in Solidarität.
Die ersten Präsentationen der neuen Regierung deuten darauf hin, dass die Vereinigung unter dem Stern des Mittelstands auch das soziale Klima verbessert. Selten sprach man so respektvoll voneinander.
Social retfærdighed (Dänisch: Soziale Gerechtigkeit)
Weil jeder schon immer soziale Gerechtigkeit wollte, war sie ein heiß umkämpftes Terrain. Man übte sich darin, anderen soziale Ungerechtigkeit nachzuweisen, um dabei die eigene Gerechtigkeit zu üben und zu beweisen.
Die Fälle Christian Wulff, Peer Steinbrück, Uli Hoeneß und Tebartz van Elst weisen dabei überraschende Übereinstimmungen auf: Sie sind allesamt Zeichen eines Rufes nach sozialer Gerechtigkeit. Durch das breite öffentliche Interesse wurde der Ruf gehört - auch und gerade von den Regierenden. Auf einmal statuierten Gerichte Exempel, gelobten die Verschwender öffentlich Besserung. Eine Welle der Inquisition im Namen der sozialen Gerechtigkeit verwandelte die Medien in öffentliche Tribunale. Die Leser wurden zur Denunziation aufgerufen. Das klingt eigentlich furchtbar, aber ein gehöriges Mehr an sozialer Gerechtigkeit in Form von Steuerehrlichkeit und Compliance nützt der Gemeinschaft insgesamt.
Der Materialismus der letzten Jahrzehnte hat die Bürger zu Konkurrenten und sogar Feinden im Kampf um die Pfründe gemacht. Nun müssen viele Sieger gehen, damit die Verlierer sich noch als Teil der Gemeinschaft fühlen können. Dabei geht es moralisch nicht gerecht zu, wohl aber sozial. Die Gefallenen fallen in weiche Versorgungsbetten und erhalten keinen Dank für ihre traurige Rolle in der Wiedergewinnung von sozialer Gerechtigkeit inmitten einer strandenden Wettbewerbsgesellschaft.
Der Dank des Volkes ist den Anklägern gewiss. Dass es nun aber auch die Einlösung des Versprechens auf wirkliche soziale Gerechtigkeit, also auf Mindestrenten, Grundeinkommen und Mindestlöhne wartet, bringt die Große Koalition in Lieferzwang. Ob sie liefert?
Hyvä yhteistyö (Finnisch: Gute Zusammenarbeit)
Der soziale Vorgang der Koalitionsverhandlungen, nämlich gleich mit 75 Delegationsmitgliedern in damit unerwartet großer Öffentlichkeit zu verhandeln, drückte das Ziel bereits aus: Es ging darum zu beweisen, dass Politik kooperationsfähig ist. Dass die Sache Primat vor der Selbstdarstellung, die Lösung Primat vor der Ideologie hat.
Das Volk hat diese Botschaft verstanden. Dabei ist kaum noch zu klären, wer wem gehorcht hat. Wollte die Politik mit ihrer neuen Harmonie die Politikmüden und Wutbürger besänftigen, damit keine Radikalen Zulauf bekämen? Oder wählte das Volk eine riesige, kaum mehr unterscheidbare Mitte, weil es wusste, dass am Rand keine Lösungen stehen würden, sondern nur Streit und Ärger? Und warum wurde dabei die doch sehr konsenswillige FDP geopfert?
Es ist auch für erfahrene Soziologen und Politikwissenschaftler schwer, inmitten der neuen "skandinavischen" Bürgerpolitik noch die alten Motivationen und Schemen auszumachen. Es scheint, als habe das, was Jürgen Habermas bereits 1982 als "Neue Unübersichtlichkeit" bezeichnete, erst jetzt seinen politischen Ausdruck gefunden.
Kultur, Medien, Wirtschaft waren schon immer unübersichtlich. Aber dennoch gab es unbeirrt Christsoziale, Sozialdemokraten, Sozialliberale, Linksliberale, Christdemokraten und Linke. Die beiden großen Verlierer der guten Zusammenarbeit, die Linken und die Grünen, haben sich getäuscht, denn längst sieht man ihre Anliegen in der Großen Koalition am besten aufgehoben. Damit aber werden sie auch als Opposition versagen.
Wie wir mit diesem neuen skandinavischen Feeling umgehen, bleibt erst einmal unklar. "Dein Staat gehört Dir!" ist jedenfalls viel schneller Wirklichkeit geworden, als ich es mir vorstellte. Wenn dann noch die von Seehofer geforderten Volksabstimmungen kommen, werden wir Dissidenten endgültig arbeitslos.
Disclaimer: Ich akzeptiere, dass der Autor keiner der vier zitierten Sprachen mächtig ist und daher auch Fehler in den Begriffen wie in ihrer Interpretation auftreten können, die - wie so oft - der fehlenden Fachkenntnis des Autors geschuldet sind. Es ist aber fraglich, ob sich dessen These ohne diese Fehler wesentlich ändern würde.