Energiewende: Braucht Deutschland für den Kohleausstieg russisches Gas?

 Blick auf Kraftwerk Scholven in Gelsenkirchen, Freileitungsmasten und Windkraftanlagen

Blick auf Kraftwerk Scholven in Gelsenkirchen, Freileitungsmasten und Windkraftanlagen. Foto (2013): Wolkenmaschine / CC BY 2.0 deed

Regierung plant neue Gaskraftwerke gegen Dunkelflauten. Brückentechnologie oder Stolperstein? BDI-Chef warnt vor unrealistischen Zielen.

Kritiker der Energiewende hatten stets davor gewarnt: Bei sogenannten Dunkelflauten, in denen weder Wind weht noch Sonne scheint, fallen die erneuerbaren Energieträger auf ihre fossilen Vorfahren zurück.

Die Bundesregierung hat nun entschieden, den Bau neuer Gaskraftwerke zu veranlassen, um sich gegen jene Flauten zu wappnen. So soll verhindert werden, dass die als noch klimaschädlicher geltenden Kohlekraftwerke weiterlaufen müssen. Sobald die entsprechende Technologie dafür einsatzbereit ist, sollen die Kraftwerke mit Wasserstoff betrieben werden.

Der Präsident des Bundesindustrieverbands hat erhebliche Zweifel an dieser Strategie der Bundesregierung angemeldet. Sind sie berechtigt?

"Unrealistische" Ziele?

Den Plänen der Bundesregierung zufolge sollen 12,5 Gigawatt an Kraftwerkskapazität ausgeschrieben werden, unterstützt durch staatliche Förderungen. Das Bundeswirtschaftsministerium sieht in den geplanten Kraftwerken auch einen Beitrag zur schnellen "Dekarbonisierung" des Kraftwerksparks. Eine endgültige Genehmigung durch die EU steht noch aus.

Durch die neuen Kraftwerke hofft die Bundesregierung, auch den vorgezogenen Kohleausstieg abzusichern. Im rheinischen Revier wurde dieser bereits auf 2030 vorgezogen. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) erwartet auch in Ostdeutschland einen "marktgetriebenen", vorgezogenen Kohleausstieg.

Wie die Deutsche Presseagentur (dpa) berichtet, hält der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, das erklärte Ziel von 12,5 Gigawatt bis 2030 dagegen für unrealistisch.

Seine Folgerung: Mit der ambitionierten Planung verrate die Bundesregierung ihre eigenen Klimaziele, weil sie den vorgezogenen Kohleausstieg 2030 dadurch unmöglich noch bewerkstelligen könne.

Zu wenig, zu spät?

Dabei stellt Russwurm sich wohlgemerkt nicht gegen die Transformation als solche. Sein Zorn gilt vielmehr den als halbherzig dargestellten Bemühungen der Bundesregierung um die seit geraumer Zeit in der Schublade liegenden Pläne.

"Das Thema Kraftwerkstrategie wird schon fast zum Running Gag", sagte er mit Blick auf die von ihm kritisierten Verzögerungen. Darüber hinaus liege der für diesen Sommer angekündigte Kabinettsbeschluss für den notwendigen Kapazitätsmarkt noch immer nicht vor.

Jene Versorgungskapazität, die die Bundesnetzagentur als oberstes Ziel sicherzustellen habe, markiert ein weiteres Problem einer beschleunigten Energiewende, auf das bereits mehrfach aufmerksam gemacht wurde.

Wo die klimafreundlichen Technologien selbst zu einer höheren Auslastung des Stromnetzes beitragen, droht die Energiewende-Revolution außerdem gewissermaßen ihre eigenen Kinder zu verschlingen.

Der Bedarf an neuen, regelbaren Gaskraftwerkskapazitäten ist Russwurm zufolge weitaus größer als die aktuellen Pläne der Regierung. Selbst, wenn alle politischen Rahmenbedingungen und die Finanzierung geklärt seien, stelle sich die Frage: "Können wir die Gaskraftwerke überhaupt bauen?", so Russwurm. Denn ein "richtig großes, wasserstofffähiges Kraftwerk" gebe es bisher nicht.

In Gesprächen mit Herstellern und Ingenieuren habe der BDI-Chef zudem erfahren, dass der Bau eines solchen Kraftwerks nur dort möglich sei, wo eine Wasserstoffpipeline die notwendigen Mengen an Wasserstoff liefere. Auch das sei "bis heute noch nicht passiert", konstatiert Russwurm.

Um also jene Kapazität mit den nun geplanten Kraftwerken aufrechtzuerhalten, werde die Bundesnetzagentur "nicht umhinkommen, die Stilllegung von Kohlekraftwerken schlichtweg zu verbieten", meint Russwurm. Die Bedingungen, unter denen Betreiber die Betriebsbereitschaft aufrechterhalten, seien jedoch unklar.

"Klimafreundliche" Abhängigkeiten

Die Episode weckt Erinnerungen an die Zeit vor der russischen Invasion der Ukraine, als Gaskraftwerke noch als "klimafreundliche Brückentechnologie" galten.

Eine der größten Hoffnungen, die Netto-Null-Ziele zu erfüllen, setzten Energie-Experten etwa 2021 noch auf ein ganz bestimmtes Projekt: NordStream2.

Die Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns, Manuela Schwesig (SPD), stand nach dem russischen Einmarsch am 24. Februar 2022 bekanntermaßen heftig in der Kritik dafür, dass sie mit der von ihr mitbegründeten "Stiftung Klimaschutz" dazu beigetragen habe, russische Gaslieferungen als klimafreundlich dargestellt zu haben.

Tatsächlich hat sich Deutschland in eine strategische Abhängigkeit von Russland begeben, um seine ambitionierten Klimaziele zu erfüllen.

Angesichts der vom BDI-Präsidenten nun erhobenen Vorwürfe einer mangelnden Selbstversorgung stellt sich allerdings die Frage, inwieweit Deutschland diese Abhängigkeit nur eingetauscht haben könnte – indem es etwa zwischenzeitlich "voll auf LNG-Gas aus den USA" gesetzt hatte und nach der Entscheidung Joe Bidens, jene Exporte zurückzufahren, auf Lieferungen aus Norwegen, den Niederlanden und Belgien zurückgreifen musste.

Neuerliche Brisanz erhielt der Themenkomplex um Deutschlands Gasversorgung zuletzt durch ein Interview, welches das inzwischen vom Bundesinnenministerium verbotene Magazin Compact mit der Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, führte und das manche Kommentatoren als eigentlichen Grund hinter besagtem Verbot vermuten.

Darin bekräftigte Sacharowa, dass Russland "in seiner heutigen Bestimmung als Nachfolger der UdSSR zu keinem Zeitpunkt die Gaslieferung eigenhändig gestoppt" habe und die Aufkündigung der Versorgung auf eine Initiative der Vereinigten Staaten zurückzuführen sei.

Das steht allerdings in krassem Widerspruch zu den Darstellungen in den deutschen Medien, wonach Russland selbst unmittelbar nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine den Gas-Lieferstopp veranlasst habe.