Entkopplung zwischen Nato und Russland: Die Diplomaten gehen – kommt nun der Krieg?

Seite 2: Gesprächskanäle zwischen Russland und Nato de facto gekappt

Das betrifft die geforderte - noch - diplomatische Frontlinie: Bereits Mitte vergangenen Jahres hatten 24 der damals noch 30 Nato-Staaten Moskauer Gesandte ausgewiesen. Die westliche Militärorganisation selbst hatte bereits im Vorjahr acht russischen Beobachtern wegen Spionagevorwürfen die Akkreditierung entzogen. Seitdem ist der Dialog, der auch der Vertrauensbildung dienen sollte, de facto unterbrochen.

Nach der Ausweisung der acht beim Nato-Hauptquartier in Brüssel akkreditierten russischen Diplomaten hat Russland seine gesamte Nato-Mission geschlossen und das Nato-Informationsbüro in Moskau dicht gemacht. Die Sitzungen des Nato-Russland-Rates, des wichtigsten Konsultationsgremiums zwischen Moskau und dem Westen, wurden auf unbestimmte Zeit ausgesetzt.

Die Gefahr dieser Entkoppelung, die mit einer Politisierung einhergeht, wird nur von wenigen wahrgenommen. Selbst bei nachgewiesener russischer Spionage in Botschaften könnten Ausweisungen von Geheimdienstmitarbeitern "ein zweischneidiges Schwert sein", schreibt Axios, "da sie die Fähigkeit der USA und anderer Gastländer verringern, deren Aktivitäten zu überwachen".

Russisches Botschaftspersonal sei zudem empfänglicher für Anwerbungen, die in Russland selbst angesichts der Ressourcen, die die russische Regierung in die Spionageabwehr investiere, nahezu unmöglich seien.

Das eigentliche Problem liegt jedoch auf der Hand: Durch die sogenannten Tit-for-Tat-Maßnahmen ist auch das westliche diplomatische und nachrichtendienstliche Personal in Russland inzwischen erheblich reduziert worden. Westliche Geheimdienste sind darüber besorgt. Sie verweisen – freilich nur mit Blick auf die eigene Lage – darauf, dass in Zeiten massiv gestiegener Spannungen zwischen der Nato und Russland die personellen und analytischen Kapazitäten reduziert worden seien.

Die Massenausweisungen russischer Diplomaten "könnten negative Rückwirkungen haben", schreibt die US-Denkfabrik Center for Strategic and International Studies (CSIS) mit Sitz in Washington. So habe Moskau bereits weitere Ausweisungen angekündigt, "was die Fähigkeit des Westens einschränken wird, die innere Dynamik Russlands besser zu verstehen".

Die Ausweisungswelle habe auch Meinungsverschiedenheiten zwischen Nato- und EU-Mitgliedern offenbart, insbesondere mit der ungarischen Regierung, die sich weigerte, entsprechende Maßnahmen umzusetzen. "Solche Anzeichen von Uneinigkeit sollten genau beobachtet werden, wenn die Europäer in eine Ära der anhaltenden Konfrontation mit Russland eintreten, die nachhaltigen Zusammenhalt und Entschlossenheit erfordert", so das CSIS.

Westliche Geheimdienste benennen deutlich die Risiken

In Norwegen warnte der Inlandsgeheimdienst Politiets sikkerhetstjeneste (PST) in seinem jüngsten regelmäßigen Sicherheitsbericht vor einem Blowback-Effekt.

Die norwegischen und russischen Behörden treffen sich seltener als früher. Außerdem haben die Wirtschaftssanktionen die Handelsbeziehungen, die Investitionen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern geschwächt. Das bedeutet, dass Russland nicht mehr so leicht Zugang zu Informationen über die Situation in Norwegen hat wie früher. Um dies zu kompensieren, müssen sich die russischen Behörden verstärkt auf ihre Nachrichtendienste verlassen, um ihren Informationsbedarf in Norwegen zu decken. Dadurch wird die Bedrohung durch russische Nachrichtendienste in Norwegen tendenziell größer.

National Threat Assessment 2023, Politiets sikkerhetstjeneste, Norwegen

Aufgrund der verschlechterten Beziehungen zwischen Norwegen und Russland hätten die Moskauer Dienste auch weniger zu verlieren, wenn nachrichtendienstliche Aktivitäten aufgedeckt würden: "Das PST ist daher der Ansicht, dass Russland bereit sein könnte, ein höheres Risiko in Bezug auf seine nachrichtendienstlichen Aktivitäten in Norwegen in Kauf zu nehmen", heißt es in dem Bericht.

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt der finnische Inlandsgeheimdienst Suojelupoliisi. Angesichts der erschwerten Bedingungen für nachrichtendienstliche Operationen habe sich Russland dem Cyberspace und anderen nachrichtendienstlichen Quellen zugewandt, darunter auch Ausländern in Russland. Dies bedeute das Ende der sogenannten menschlichen Aufklärung, also der Arbeit mit Informanten vor Ort.

Seit Russland seinen Angriffskrieg in der Ukraine begonnen hat, ist dies viel schwieriger geworden, da viele russische Diplomaten aus dem Westen ausgewiesen wurden. Obwohl es in Finnland noch einige aktive Geheimdienstmitarbeiter gibt, hat die finnische Regierung wahrscheinlich die Verbindungen zu ihren russischen Netzwerken zumindest vorläufig gekappt, und über die üblichen Kanäle sind kaum Informationen erhältlich. Der russische Geheimdienst wird wahrscheinlich versuchen, seine Operationen an diese neuen Bedingungen anzupassen. "Wir halten es für sehr wahrscheinlich, dass sich Russland dem Cyberspace zuwenden wird", sagt Supo-Direktor Antti Pelttari.

Es ist sozusagen eine Lose-Lose-Situation: Durch die Ausweisung russischer Diplomaten und Geheimdienstmitarbeiter unter diplomatischem Deckmantel hat Russland weniger Möglichkeiten, die Lage im Westen adäquat einzuschätzen. Mittel- und langfristig werden nach Experteneinschätzung die Spionageaktivitäten zunehmen.

Hinzu kommt, dass die Gegenmaßnahmen die Möglichkeit westlicher Informationsbeschaffung gemindert hat. Das krasse Versagen des Bundesnachrichtendienstes bei der Wagner-Revolte, über die Medien besser informiert waren als der deutsche Auslandsgeheimdienst, ist nur ein Beispiel.

Ergo: Wirtschaftlich mindert die Entkopplung die Hemmungen vor einem militärischen Konflikt, weil die Verluste geringer werden. Politisch und Kulturell trägt das Decoupling zur Entfremdung bei. Und diplomatisch sowie geheimdienstlich schaffen die Massenausweisungen kurzfristig Unsicherheit, während sie Spionagetätigkeiten mittel- und langfristig intensiver und schwerer kontrollierbar machen. Alles in allem ist die Krisen- und Kriegsgefahr ohne Not geschürt worden.

Aus alldem spricht wenig Vernunft. Aber viel verblendete Ideologie.

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