Entlassungen bei "Gorillas" wegen Vorwurf illegaler Streiks
Sind Yogakurse und DJs besser als Lohn? Beschäftigte des Lieferdienstes Gorillas glauben nicht daran und streiken für bessere Arbeitsbedingungen
Es klingt nach Methoden des 19. Jahrhunderts: Wer als Arbeiter für seine Rechte kämpft, wird vom Unternehmen kurzerhand vor die Tür gesetzt. Ebensolcher Methoden bedient sich jetzt offenbar die Lieferdienst "Gorillas". Auf die anhaltenden Streiks und Proteste reagierte jetzt das Unternehmen, indem es einen Großteil seiner Berliner Fahrradkuriere entlässt.
Das "Gorillas Workers Collective" (GWC) hatte am Dienstag mitgeteilt, dass im Prinzip alle Beschäftigten an drei Berliner Standorten entlassen wurden. Ihnen wirft das Unternehmen vor, sich an illegalen Streiks beteiligt zu haben. Das GWC erklärte dagegen, es sei nicht illegal, zu verlangen, dass die Löhne regelmäßig gezahlt werden oder dass mehr für die Sicherheit der Fahrer getan werde. Für Mittwoch rief es deshalb zu einer Protestaktion vor dem Hauptquartier des Lieferdienstes auf.
Das Unternehmen lässt sich bislang wenig von den Protesten beeindrucken. Studenten und andere Tagelöhner wurden kurzerhand als Streikbrecher eingesetzt, wie GWC am Mittwoch über Twitter mitteilte. Die Geschäftsführung selbst macht keinen Hehl daraus, dass sie mit den massenhaften Kündigungen die Streiks unterdrücken will. Laut Spiegel erklärte ein Unternehmenssprecher: Unangekündigte und nicht gewerkschaftlich getragene Streiks seien "rechtlich unzulässig". Deswegen entlasse man die Beschäftigten, "die sich aktiv an den nicht genehmigten Streiks und Blockaden beteiligt" hätten.
Im Juli klangen die Töne noch anders. Kagan Sümer, Gründer des Lieferdienstes, hatte gegenüber den Beschäftigten versprochen: "Ich würde niemals jemanden feuern, weil er streikt", sagte er. "Ich mag, dass ihr für eure Rechte kämpft." Wie man heute weiß, diente das Versprechen nur dazu, das Image des Unternehmens aufzupolieren. In einer geleakten Nachricht, die kürzlich in den sozialen Medien die Runde machte, schrieb er: "Wir mussten einem unserer Fahrer kündigen… Anscheinend war er dabei, sich gewerkschaftlich zu organisieren".
Zuletzt hatte sich Sümer noch in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS), noch gegen die Kritik an den Arbeitsbedingungen gewehrt. "Wir beuten niemanden aus", sagte er. In seinem Unternehmen seien die Fahrer fest angestellt, inklusive Sozialversicherungen. "Damit heben wir uns bewusst von der Konkurrenz ab."
Was die Beschäftigten berichten, klingt dagegen anders. Sie erzählen zum Beispiel von neuen Fahrrädern, denen bei den Touren die Pedalen abfallen oder bei denen die Bremsen schon nach zwei Wochen versagen oder bei denen die Lenker defekt sind. Es fehlten Helme für die Fahrer oder Regenkleidung. Bei Regen seien die Fahrer oft gezwungen, völlig durchnässt stundenlang durch die Kälte zu fahren. Zu allem Überdruss gebe es immer wieder Fehler in den Lohnabrechnungen und oft würden die Löhne auch erst nach Monaten ausgezahlt.
Statt Abhilfe zu schaffen, versucht die Geschäftsführung die Probleme mit einem hippen Lebensgefühl zu übertünchen: Am arbeitsfreien Sonntag lädt der Manager zum Beispiel zum Grillen ein. "Im Winter haben die ein paarmal einen DJ vorbeigeschickt, der, ohne zu fragen, uns während der Schicht beschallt hat", erzählte ein GWC-Aktiver. Statt Wasseranschlüssen in den Personalküchen und statt Duschen zur Verfügung zu stellen, hätte die Geschäftsführung überlegt, den Fahrradkurieren vor Schichtbeginn Yogakurse anzubieten.
Auch "kalte Kündigungen"
Die Initiative gegen Arbeitsunrecht berichtete Ende September auch von der "kalten Kündigung" unliebsamer Beschäftigter. Die meisten der rund 3.000 Fahrer des Unternehmens seien nur befristet angestellt. Ab September und Oktober 2021 würden viele dieser Verträge auslaufen. Viele fürchten nun, dass die Verträge derer, die sich für bessere Arbeitsbedingungen eingesetzt haben, nicht verlängert werden könnten.
Zurzeit liegen mindestens zwölf Klagen beim Arbeitsgericht Berlin von befristet angestellten Kurieren, die erreichen wollen, dass ihre Arbeitsverträge in unbefristete umgewandelt werden. Vor Gericht wird in diesen Verfahren geklärt, ob digital unterschriebene befristete Verträge überhaupt rechtswirksam befristet werden konnten.
Während die Kläger davon ausgehen, dass die Befristung der Arbeitsverträge mangels Schriftform ungültig ist, behaupten die Gorillas-Anwälte, dass aus ebendiesem Grund überhaupt kein gültiger Arbeitsvertrag vorliege. Das Unternehmen spiele nur auf Zeit, erklärte der Anwalt der Kläger. Und dies wohl in der Hoffnung, dass die Kläger zwischen Vertragsende und Gerichtstermin gezwungen sind, sich eine neue Beschäftigung zu suchen. Das Gericht hat es auch nicht eilig, für Klärung zu sorgen: Es vertagte den ersten Prozess ohne Ergebnis und legte den nächsten Termin auf Februar 2022.
Umkämpfter Markt
Was die Gorillas-Beschäftigten erleben, ist der knallharte Konkurrenzkampf in der Branche der Lieferdienste, der auf ihren Schultern ausgetragen wird. In der Zeitschrift Capital hieß es Anfang Juli, Gorillas werfe keinen Gewinn ab. Sämtliche Einnahmen würden für den aggressiven Wachstumskurs benötigt. Es geht um: Vorherrschaft in der Branche, denn Aussicht auf Profite haben nur die Großen. "Die Frage, ob sich dieses Geschäft überhaupt einmal gewinnbringend betreiben lassen wird, spaltet selbst die Wagniskapitalgeber, die mit ihren Millioneninvestments die neue Riege der Flash-Supermärkte bislang finanzieren", heißt es bei Capital weiter.
Offenbar steigt der Druck auf Gorillas und das notwendige Wachstum lässt sich nicht erreichen. Darauf weiß ein weiterer Capital-Bericht vom August hin. Die Zahl der wöchentlich aktiven Kunden wachse seit Anfang Juli nicht mehr, heißt es dort. Sogar das Gegenteil sei eingetreten: Die Zahl der Kunden sei um fünf Prozent gesunken - obwohl weitere Standort eröffnet wurden.
Ein Standort muss auf mindestens 1.100 Bestellungen pro Tag kommen, um kostendeckend zu wirtschaften. Aber selbst die erfolgreichsten Warenlager blieben Ende Juli unter 900 Bestellungen am Tag. Einen drastischen Einbruch erlebte der Standort Prenzlauer Berg in Berlin. In dem Zeitraum von April bis Juli halbierte sich die Zahl der Bestellungen fast. Vor diesem Hintergrund scheint es kaum Aussicht darauf zu geben, dass sich die Arbeitsbedingungen der Fahrer verbessern werden; an den Arbeitskosten lässt sich leicht sparen, wenn sich die Beschäftigten nicht stärker organisieren.