Entmachtet das Bundesverfassungsgericht
Woher kommt die überragende Reputation des Gerichts? - Ein Kommentar
Das Bundesverfassungsgericht genießt in Deutschland den höchsten Respekt, die Deutschen vertrauen ihren höchsten Richtern mehr als den von ihnen selbst gewählten Vertretern im Bundestag oder in der Bundesregierung. Einer Umfrage von 2019 zufolge haben 73% der Deutschen sehr großes oder großes Vertrauen in das Gericht, beim Bundestag sind es nur 42% und bei der Regierung sogar nur 37%.
Es gibt keinen rationalen Grund für dieses große Vertrauen. Ein paar hoch bezahlte Juristen treffen Entscheidungen, deren Begründungen kaum jemand nachvollziehen kann. Die demokratische Legitimation ist dürftig - insgesamt 16 Personen, die in einer bestimmten Reihenfolge von den Parteien nominiert und dann vom Bundestag oder vom Bundesrat gewählt werden - und zwar für 12 Jahre, einem Zeitraum, in dem sich ein Parlamentarier normalerweise drei Mal erneut dem Votum seiner Wähler stellen muss. In Frage kommen nur ausgewählte Personen mit einer juristischen Ausbildung und einem Mindestalter von 40 Jahren, sechs der 16 Richter müssen zuvor an einem anderen Bundesgericht gearbeitet haben, was die Auswahl weiter einschränkt.
Diese Menschen sind auserkoren, über die Grundgesetztreue von Gesetzen zu entscheiden, die Bundestag und Bundesrat einschließlich ihrer Experten- und Mitarbeiterstäbe ausdiskutiert und oft nach zähem demokratischem Ringen verabschiedet haben. Sie fällen Urteile, die unanfechtbar sind - und niemand kann sie dafür belangen oder gar korrigieren, wenn sie ihre Kompetenzen überschritten oder womöglich sogar Fehler gemacht haben.
Doch die Wähler, die regelmäßig dabei zusehen, wie die Richter in den roten Roben das verwerfen, was ihre gewählten Vertreter ausgehandelt haben, vertrauen dem Gericht mehr als dem Parlament. Wie ist das möglich? Woher kommt die überragende Reputation des Gerichts?
Schauen wir uns die Inszenierung des Gerichts an, fällt auf, dass sie sich, ganz im Gegensatz zu den Abgeordneten oder den Ministern in der Regierung, gänzlich unalltäglich in Szene setzen. Sie erscheinen wie eine Mischung aus Mönch, Priester und Jedi-Ritter. Genau das ist ihr Habitus, der offenbar auf eine Sehnsucht bei den Bürgern des säkularisierten Staates tritt: Sie sind Vertreter eines weisen Ordens, Priester der Wahrheit. Sie legen uns verbindlich die Heilige Schrift unserer modernen Welt, das Grundgesetz, aus. Sie sind, so scheint es jedenfalls, im Gegensatz zu Politikern nicht von dieser Welt.
Aber welche vernünftigen Gründe sprechen dafür, das zu akzeptieren? Genau genommen keine. Die Richter setzen sich in Szene als unanfechtbare Experten über das Grundgesetz, als wenn die Fragen der Grundrechte, über die sie entscheiden, juristischer Natur wären. Aber das ist ein großer Irrtum. Was wir tatsächlich unter Freiheit, Selbstbestimmung und Würde des Menschen verstehen wollen, ist nicht juristisch zu beantworten, das kann nicht nach formalen Kriterien aus einem klaren Grundbestand von Paragraphen abgeleitet werden. Es ist vielmehr gesellschaftlich auszuhandeln. Die 16 Richter in den Roten Roben sind aber gerade nicht besonders befähigt, diese Aushandlung stellvertretend für uns alle zu übernehmen.
Wenn wir ein Bundesverfassungsgericht brauchen, das über die Einhaltung der Menschenwürde, der Freiheit und der Autonomie auch gegenüber dem Gesetzgeber wachen soll, dann müsste es ein Schöffengericht sein, eine Versammlung von vielleicht hundert durchschnittlichen Bürgern, denen die Experten, Juristen, Wissenschaftler, Politiker, die Sachlage und das Für und Wider, die Konsequenzen und die Risiken von Gesetzen erläutern und die dann miteinander auszufechten hätten, ob ein Gesetz unseren Grundwerten entspricht, ob es unsrer heutigen Deutung des Grundgesetzes genügt. Von sechzehn Juristen dürfen wir uns das nicht länger aus der Hand nehmen lassen. Eine Entmachtung des Verfassungsgerichts ist dringend geboten.
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