Entschlackte EU?

Der versproche Abbau der Überregulierung mittels einer Streichliste von Verordnungen erweist sich als Etikettenschwindel

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"Die Europäische Union muss dem Bürger näher gebracht werden", lautete eine Schlussfolgerung aus den in diesem Frühjahr gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und Holland. Wir haben verstanden, sagte auch Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso und hat nun gemeinsam mit Industriekommissar Günther Verheugen erste Pläne vorgelegt. Bürokratieabbau lautet das Versprechen, denn der Ruf der EU sei auch deshalb geschädigt, so Barroso, weil die Bürger sie als überreguliert erlebten. 68 Entwürfe für Richtlinien, Beschlüsse und Verordnungen, die noch bei der Kommission anhängig waren, sind nun im Papierkorb gelandet. Ungefähr die Hälfte davon stammt aus der Zeit vor der EU-Erweiterung und wird ohnehin nicht mehr benötigt. Bei den anderen Entwürfen erweist sich der Bürokratieabbau, der von Barroso angekündigte Dienst am Bürger, als Etikettenschwindel.

Ad acta gelegt wurde - begleitet von Propaganda in der Boulevardpresse - die Richtlinie, die Bauarbeiter vor übermäßiger natürlicher Sonneneinstrahlung schützen sollte. Außerdem traf es eine Richtlinie zur Kennzeichnungspflicht von Lebensmitteln, eine Beschlussvorlage für die zivilrechtliche Haftung bei Schäden, die durch Industrieabfälle auf grenzüberschreitende Gewässer entstehen, eine Verordnung zum Schutz von jungen Meerestieren, eine Richtlinie, um verminderte Verbrauchsteuern für Biokraftstoffe einzuführen und den Vorstoß, das Sonntagsfahrverbot für LKW europaweit zu regeln. Allesamt Regeln, die die Lebensqualität der Europäer eher erhöht hätten.

Die Kriterien für ihre Auswahl waren eindeutig: Die Entwürfe und Vorschläge hat die EU-Kommission vor allem daraufhin geprüft, ob sie der "Förderung der Wettbewerbsfähigkeit" der Wirtschaft dienen, ein zweiter Grund war, "ob die schwebenden Vorschläge über längere Zeit keine wesentlichen Fortschritte im Gesetzgebungsverfahren erzielt haben". Sozial- oder Umweltschutzstandards wie in den nun gestrichenen Entwürfen einzuhalten, kostet die Wirtschaft offensichtlich Geld und vermindert in deren Logik die Wettbewerbsfähigkeit. Den Unternehmerverbänden reicht die aktuelle Streichliste allerdings nicht. Denn die Kommission hat nach dem zaghaften Protest des europäischen Gewerkschaftsbundes und dem etwas deutlicheren einiger Abgeordneter des Europaparlaments das Gesetzesvorhaben zum Schutz der Leiharbeiter im letzten Moment von der Streichliste genommen. Es soll die Rechte für Kurzarbeiter und Pflichten für die Unternehmer in Europa definieren.

Aber die Ende September veröffentlichte Streichliste ist ohnehin nur das Vorspiel. Der Konservative Barroso und der Sozialdemokrat Verheugen haben angekündigt, "an allen Fronten gegen Bürokratie und Regelungswut vorzugehen". Ab Oktober sollen nun Vorschläge erarbeitet werden, wie die schon bestehenden EU-Rechtsvorschriften, die immerhin 80.000 Seiten umfassen, vereinfacht und aktualisiert werden können.

Die Europäische Kommission will deshalb von der Wirtschaft und anderen Interessierten wissen, welche Regelungen ihren Interessen im Wege stehen. Zu diesem Zweck hat sie einen Fragebogen erarbeitet, der auf der Homepage des Industriekommissars abrufbar ist: "In welchen Politikbereichen stoßen sie auf Probleme?" wird dort gefragt. Mögliche Antworten im Multiple-Choice-Verfahren, Mehrfachnennungen erlaubt: "Steuern und Zölle, Soziale Sicherheit, Verbraucherschutz, Beschäftigung, Umwelt" und einige andere. Ganz konkret können Unternehmen und Verbände auch die Gesetze aufführen, die ihnen Schwierigkeiten und "Mehrkosten" bereiten. Industriekommissar Verheugen bestreitet, dass diese Politik zu Abstrichen beim Verbraucher- und Umweltschutz führen wird.