Entweder oder im Israel-Krieg: Trauer gegen Terror?

Leid auf beiden Seiten wird gegeneinander ausgespielt. Schluss mit dieser unseligen Logik antipolitischer Verfeindung. Eine Erwiderung auf Judith Butler.

Der terroristische Überfall bewaffneter islamistischer Milizen auf jüdische Nachbarn am 7. Oktober dieses Jahres zieht weltweit und auch hier dramatische Konsequenzen nach sich: Fast vergessen scheinen die Opfer der Erdbeben in der östlichen Türkei und in Marokko; fast vergessen die Opfer der Überflutungen in Libyen und Griechenland.

Und weitgehend in den Hintergrund zu treten droht selbst der verbrecherische Angriffskrieg von Putins Russland gegen die Ukraine, von dem man doch behauptet hatte, er richte sich auch gegen die Friedensordnung Europas, also gegen uns alle.

Besser, so scheint es, konnte es für Putin nicht kommen: Der jüngste Terror der Hamas lenkt von seinen andauernden Untaten ab und provoziert im arabischen Raum eine enorme Solidarisierungswelle, die den Friedensnobelpreisträger EU mit dem Vorwurf geradezu vorführt, zu dulden oder sogar zu billigen, was man an Russland schärfstens kritisiert: eine brutale Okkupationspolitik, wie sie in anderer Form auch mit israelischen Siedlungsprojekten und Annexionen einhergeht.

So wird in internationalen Diskussionen einerseits alles miteinander vermischt bzw. auf einen Nenner gebracht und andererseits alles derart Umstrittene einem rigorosen Entweder-oder unterworfen: Entweder ihr seht das Leid der Terroropfer und ihrer Hinterbliebenen oder das der Palästinenser.

Entweder ihr erkennt an, dass der Terror der Hamas "Gründe und Ursachen" hat, oder ihr schlagt euch auf die Seite eines rassistischen und neokolonialistischen Staates.

Entweder ihr haltet zu Israel, das man seit vielen Jahren auszulöschen droht, entgegnen andere, oder ihr verratet die Loyalität, die ihr diesem Land schuldig seid, ihr, die ihr nicht vergessen haben solltet, warum viele Juden nach 1945 nur noch in der Etablierung eines eigenen Staates ihre Zuflucht sehen konnten.

Tatsächlich müssen wir in Deutschland mit Beklemmung sehen, wie radikal die Existenz dieses Staates seit Langem in Frage gestellt und tödlich bedroht wird, als ob es überhaupt keinen Ausweg mehr gäbe.

Tatsächlich muss uns das an die Vorgeschichte der Gründung dieses Staates erinnern. Und niemand sollte uns die historische Sensibilität dieses Zusammenhangs mit dem jüngsten Terror gegen Israel ausreden wollen.

Gleichwohl streitet man wie die Kesselflicker um die richtige Deutung und Einordnung des Geschehenen so, dass jedes Wort falsch gewählt erscheinen muss, weil es irgendeine beteiligte Seite verletzt oder brüskiert und provoziert.

Wenn der Versuch, besonnen zu bleiben, als empathielos gilt

Selbst Versuche, in dieser verzweifelten Lage besonnen zu bleiben, ziehen den Vorwurf auf sich, das Leid der einen oder anderen Seite überhaupt nicht zu sehen oder ernst zu nehmen. Neutralität kann es insofern nicht mehr geben, weder im Hinblick auf das gegenwärtige Leid noch im Hinblick auf dessen geschichtliche Bedingungen und Zukunft – die vor Ort, in Israel und Gaza bzw. Palästina, womöglich nur noch Hass aufeinander verheißt.

Dafür spricht, wie weitgehend man sich zu entwürdigender Sprache hinreißen lässt: Die jeweils andere Seite verhalte sich "wie Tiere" und verdiene, entsprechend behandelt zu werden, hieß es wiederholt. Dabei verüben die so wieder einmal denunzierten Tiere keinen Terror, schon gar nicht mit eliminatorischer Absicht.

Doch eine solche Absicht bescheinigte die US-amerikanische Philosophin und bekennende Jüdin Judith Butler dem amtierenden israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu persönlich. Er befleißige sich einer geradezu "genozidalen Rhetorik", schrieb sie in der London Review of Books vom 19. Oktober wörtlich – obgleich der Gemeinte keineswegs von einer Auslöschung der Palästinenser, sondern nur der Hamas gesprochen hatte, die weder dieses Volk repräsentieren kann noch gar selbst ein Volk ist.

Macht das schon keinen Unterschied mehr? Darf man selbst schärfste Begriffe wie den des Genozids, der seit 1948 für Völkermord steht, derart fahrlässig verwenden? Bei höchsten muslimischen Würdenträgern in Teheran und ihren enthusiasmierten Anhängern hätte Butler im Übrigen ebenfalls fündig werden können.

Abgesehen davon: Kann man hier, in Europa, überhaupt anders, als Aufwiegelung zur Vernichtung anderer ohne Wenn und Aber zu verurteilen? Verfügen wir nicht über einschlägige historische Erfahrung in dieser Hinsicht? Und steht Europa nicht für historisches Lernen aus dieser Erfahrung ein? Sollte sich die alte Devise aus Aischylos' Agamemnon "Aus Leiden lernen" nicht wenigstens in diesem Falle bewährt haben?

Ja, sicher, werden viele sagen. Doch die Frage ist, wie. Mit Recht setzt Butler das Problem auf die Tagesordnung, ob man den Hamas-Terror nur verurteilen darf, ohne ihn "historisch verstehen" zu wollen und ohne ihn zu "kontextualisieren", wie es erforderlich erscheint.

Das Gleiche müsste, wenn man das gelten lässt, auch für die gegenwärtige israelische Gegenwehr zutreffen. Doch selbst das völkerrechtlich kaum zu bestreitende Recht auf Selbstverteidigung gerät in den Sog einer fatalen Logik des Entweder-oders:

Entweder ihr gesteht uns dieses Recht mit allen Konsequenzen zu, oder ihr betreibt das Geschäft der Gegenseite, des Terrors, dessen Vertreter wie jener smarte Herr Ismail Haniyya – von März 2006 bis Juni 2007 Ministerpräsident der Palästinensischen Autonomiegebiete –, der persönlich ungefährdet von Katar aus sein schmutziges Hamas-Geschäft betreibt, kontern wieder andere, um eine neue Replik zu provozieren: Entweder ihr betrachtet unser Tun als legitime Gegengewalt oder ihr seid Menschenrechtsheuchler, die nur Augen für das Schicksal Juden, nicht aber für die von ihnen schon so lange elend unterdrückten Palästinenser haben.

Gegenseitige Vernichtungsdrohungen und das absehbare Ende

Aber drohen wir – ganz abgesehen davon, was für und gegen solche höchst polemogene Deutungen sprechen mag – von einer solchen Logik nicht bedingungslos in den tödlichen Konflikt hineingezogen zu werden?

An dessen verbal bereits absehbarem Ende kann, wenn man die gegenseitigen Vernichtungsdrohungen ernst nimmt, nur ein Desaster stehen, in dem alle Seiten verlieren werden, alle Seiten, die ihre jeweiligen Anhänger jetzt noch glauben machen mögen, die Lösung all ihrer Probleme liege ganz einfach in der Auslöschung ihrer Feinde.

Auch Israels amtierender Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat es in dieser Hinsicht an Deutlichkeit nicht fehlen lassen. Die noch lebenden Mitglieder der Hamas seien schon jetzt nur noch "wandelnde Leichen" (dead men walking), ließ er verlauten.

Als ob nicht der Krieg gegen sie mit täglich hunderten von Bombenangriffen, die die israelische Luftwaffe selbst dokumentiert, auf der Stelle ungleich mehr künftige Feinde produzieren würde, als sie je vernichtend treffen könnte.

Das betrifft die Aussichtslosigkeit rein militärischer Gegenmaßnahmen, die nur dazu führen werden, den Konflikt weiter zu vertiefen, sofern das überhaupt noch möglich ist, und in die Zukunft zu verlängern.

Offenbar besteht wenig Hoffnung, dass die Mahnung des US-Präsidenten Joe Biden, sich nicht von Rachegedanken hinreißen lassen, wie es nach dem 11. September 2001 auf US-amerikanischer Seite geschehen ist, als der von George W. Bush Jr. erklärte "Krieg gegen den Terror" viele tausend Opfer mehr forderte als die brutale Attacke auf das World Trade Center.

Auf diese Weise wurde auch das politische Potenzial öffentlicher, weltweit Menschen aller Couleur verbindender Trauer verspielt, wie sie unter der Beteiligung auch von namhaften Muslimen im New Yorker Yankee-Stadium zum Ausdruck kam.

Wenn überhaupt etwas jene fatale polemogene Logik des Entweder-oder, Wir-oder-sie, Für-uns oder Gegen-uns, zu unterlaufen vermag, dann es ist gewiss nicht militärische, nationale, staatliche oder internationale Macht, die man nun gegen Andere aufbieten will, um sie endgültig zu besiegen, sondern gerade das Eingeständnis von Versagen auf allen Seiten, das die Beteiligten in diese Lage gebracht hat, in der sie auch die Zukunft ihrer eigenen Kinder und Kindeskinder zu verspielen drohen, sowie Trauer über das, was den jeweils Anderen angetan worden ist.

Vorsicht mit "guten Ratschlägen" aus sicherer Entfernung

Wer nicht vor Ort direkt in den aktuellen Konflikt verstrickt ist, sollte sich mit vermeintlich guten Ratschlägen tunlichst zurückhalten. Allzu groß ist der Unterschied zwischen der Lage vor Ort, unter ständiger Bedrohung durch Terror und Bombardierungen, und mehr oder weniger ungefährdetem Leben anderer, so besorgt sie auch sein mögen.

Und doch: Aus großer Distanz fällt auch manches mehr auf als in derart bedrängter Nähe zu unabsehbarer Gewalt. Vor allem fällt auf, was in den weltweiten Streitereien kaum je zur Sprache kommt: Die Kinder und Kindeskinder aller Seiten haben offenbar gar keine Advokaten. Ihre Zukunft wird infolgedessen im womöglich bald schon eskalierenden Konflikt gleich mit ruiniert und vorweg dazu verurteilt, die gegenwärtige Verfeindung immer weiter fortzusetzen.

Für sie protestiert offenbar niemand dagegen, dass auch sie in einer nunmehr nahezu völlig verbauten Zukunft israelisch-palästinensischer Koexistenz in radikaler Verfeindung, im Hass aufeinander und in gegenseitigen Vernichtungsphantasien aufgehen sollen.

Die Jüngeren, darunter viele Eltern kleiner Kinder, wissen das auf beiden Seiten: was Hamas zu verantworten hat, zerstört auch die eigene Zukunft, auch und gerade die der Palästinenser.

Und eine junge Israelin schrieb meiner jüngsten Tochter: Netanjahu hat uns in diese Lage gebracht. Das heißt in meinem Verständnis: Er hat so gut wie nichts getan, um wenigstens in fernerer Zukunft ein friedliches Zusammenleben möglich werden zu lassen.

Stattdessen drischt auch er jetzt martialische Phrasen, die sich zu einer Rhetorik der Vernichtung der Feinde steigern. Und quasi nebenbei wird der Angriff seiner Regierungskoalition auf die politische Kultur Israels, der Hunderttausende für die Unabhängigkeit der Justiz auf die Straßen getrieben hat, zum Schweigen gebracht.

Jetzt, so liest man, agiert sie zunehmend planlos. Tatsächlich verurteilt sich jede Politik – auf allen Seiten – selbst zum völligen Scheitern, die für Feinde nur noch Vernichtung vorsieht.

Vernichtungspolitik ist nur dem Namen nach so etwas wie Politik. Tatsächlich aber besorgt sie antipolitisch die Zerstörung des Politischen gleich mit.

Trauer als gemeinsamer Nenner

Abgesehen von grenzüberschreitender Trauer, die noch in den Hinterbliebenen der jeweils anderen Seite menschliche Wesen wahrnimmt, ist auch dies eine Gemeinsamkeit, an die man sich wieder erinnern könnte: Politik ist die konsequente Vermeidung bzw. Verhütung einer Logik des Alles-oder-nichts, wie es der französische, 2005 verstorbene Philosoph Paul Ricœur ausgedrückt hat.

Kaum zu hoffen wagt man aber, dass ausgerechnet Politik, die derzeit weltweit nur noch Scherbenhaufen hinterlässt, auf denen Autokraten, Diktatoren und Populisten das Sagen haben, bis der Tod auch über sie sein Verdikt sprechen wird, wieder eine Chance bekommt.

Wenn aber, dann jedenfalls nur im Zeichen der Trauer über das, was man Anderen angetan hat. Also auch: im Zeichen der Trauer über ein elendes Niveau bisheriger Politik, die sich dem nicht stellen wollte und genau deshalb selbst keine Zukunft haben kann.

Möglicherweise zielte auch Butler mit ihrem bereits erwähnten Beitrag in diese Richtung, der mit dem Titel überschrieben ist: The Compass of Mourning. Allerdings kann man nicht nach Trauer verlangen, wie sie es tut, wenn sie mit Blick auf die Palästinenser fragt: "Where is the world's mourning?"

Weder kann man für jene viele Hunderte palästinensische Zivilisten, die dem United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs zufolge durch die israelische Armee und Siedler seit 2008 im Bereich der Westbank und Gazas ums Leben gekommen sind, noch für die jüdischen Opfer des jüngsten Hamas-Terrors Trauer fordern.

Und doch: Es gibt Spuren einer grenzüberschreitenden Trauer, die an ihnen sich entzündet, ohne sich für kollektive Verfeindung und vernichtende Politik in Dienst nehmen zu lassen. So haben sich Muslime und Juden hierzulande in doppelsinnig geteilter Trauer getroffen. So könnte es sein, dass ausgerechnet aus deren Düsternis das schwache Licht einer Zukunft wieder aufflammt, in der die Kinder und Kindeskinder aller Seiten zusammenleben dürften.

Diese Trauer sollte nicht schnellstmöglich überwunden werden, wie es selbst die Psychoanalytiker lange gelehrt haben. Sie sollte sich vielmehr öffentlich zeigen dürfen als solidarisches Zeichen der Verbundenheit mit den Opfern der jeweils anderen Seite; als Zeichen des Protests gegen eine trauerlose, nur immer weitere Gewalt und Verfeindung verheißende Politik, die als Vernichtungspolitik nur auf ihre eigene Zerstörung wird hinauslaufen können.

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