Erdogans Problem mit dem türkischen Wort für Nein: "Hayir"
- Erdogans Problem mit dem türkischen Wort für Nein: "Hayir"
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In der Türkei wurde die Hayir-Partei gegründet. Mit aller Kraft versucht die Regierung die Nein-Kampagne gegen die Einführung des Präsidialsystems zu zermürben
Am 16. April werden in der Türkei rund 55,3 Millionen Wahlberechtigte und rund 2,9 Millionen türkische Staatsbürger im Ausland über ein Referendum abstimmen, das Erdogan faktisch zum Diktator machen soll. Der Leiter der türkischen Wahlbehörde, Sadi Güven, teilte am vergangenen Samstag das Datum mit. Das Referendum würde noch im Ausnahmezustand stattfinden, der nach dem Putschversuch vom Juli 2016 verhängt worden war, so Güven.
In der Türkei wurde nun eine neue Partei von enttäuschten AKP-Mitgliedern und CHP-Mitgliedern gegründet. Einziges Ziel: Die Menschen in der Türkei zu einem "Nein/Hayir" gegen das Präsidialsystem zu bewegen.
"Wenn wir dieses Referendum nicht gewinnen und das Präsidialsystem nicht abwenden, gibt es danach vielleicht gar keine Möglichkeit mehr, aktiv zu werden. Deshalb dürfen wir jetzt nicht aufgeben. Wir müssen kämpfen", sagte Tuna Beklevic, einst führendes Mitglied der regierenden AK-Partei, im Deutschlandfunk. Die säkularen Türken und Kurden machen mit eigenen Nein-Kampagnen mobil. Selbst innerhalb der nationalistischen MHP regt sich Widerstand.
Praxis der Zermürbung gegen Nein-Kampagne
Mit aller Kraft versucht die Regierung die Nein-Kampagne zu verhindern. Bürger, die sich für die Nein-Kampagne engagieren, werden systematisch verfolgt und kriminalisiert. Innerhalb der letzten zwei Tage wurden über 800 Menschen mit dem Vorwurf "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" verhaftet. Die Repression richtet sich mittlerweile nicht mehr nur gegen HDP-Abgeordnete, sondern auch gegen einfache Mitglieder.
Die Praxis der Zermürbung ist unglaublich und unüberschaubar: Vor allem Politiker werden verhaftet, einige wieder freigelassen, dann wieder verhaftet. Es ist kaum möglich, einen Überblick zu bewahren. Das Ziel der Maßnahmen von der Regierung ist offensichtlich: Die Menschen in der Türkei sollen nicht erfahren, über was sie eigentlich abstimmen.
Die Propaganda gegen die "Nein-Kampagne" treibt zum Teil unglaubliche Stilblüten: Das Gesundheitsministerium ordnete an, dass in Konya, einer traditionell konservativen, islamischen türkischen Stadt, die vom Ministerium gedruckten Aufklärungsflyer gegen das Rauchen eingesammelt und eingestampft werden sollen. Begründet wurde dies damit, dass der Titel "Wenn Sie NEIN zum Rauchen sagen" als Aufruf gegen das Referendum verstanden werden könnte.
"Nein-Sager und Verschwörer"
Der Bürgermeister von Ankara, Melih Gökçek, bekannt für skurrile Verschwörungstheorien, postete auf seiner Facebook-Seite "Du hast die Wahl" und illustrierte dies mit einem Bild, das die Sichtweise der Regierung wiedergibt. Auf der hellen Ja-Seite sind die "Guten" zu sehen, auf der schwarzen Nein-Seite finden sich die "Bösen", also der IS, die USA, Gülen, die HDP und die PKK in einem Topf wieder.
Erdogan, der als Präsident qua seines Amtes eigentlich zur Neutralität verpflichtet ist, polarisiert stattdessen die türkische Bevölkerung stetig weiter: Kurz vor dem Abflug nach Bahrain, Saudi Arabien, und Katar am 12 Februar antwortete er auf die Frage eines Journalisten zum Referendum:
Der 16. April wird die Antwort auf den 15. Juli sein. Diejenigen, die 'Nein' sagen, stellen sich auf die Seite der Verschwörer des 15. Juli.
Erdogan
Missliebige, international renommierte Künstler und Autoren werden aus der türkischen Realität entfernt und von den türkischen Medien totgeschwiegen. Orhan Pamuk zum Beispiel, dessen Romane sich auch in Deutschland unter den Bestsellern befanden, wurde in New York von Cansu Çamlıbel, der Korrespondentin der türkischen Zeitung Hurriyet.com.tr, zum Referendum interviewt. Darin spricht er sich für ein "Nein" aus.
Dieses Interview der Hurriyet ist nicht erschienen, weil die Dogan Mediengruppe, zu der die Zeitung gehört, das Erscheinen verhinderte. Berühmte Musiker der Türkei komponierten einen Song gegen das Referendum. Dann wurde der bekannte Klavier-Virtuose Dengin Ceyhan wegen seiner Social Media-Postings in Istanbul festgenommen.
Langsam wird es eng in den türkischen Gefängnissen
Langsam wird es eng in den türkischen Gefängnissen. Deshalb hat der Justizminister den Bau von 175 neuen Gefängnissen bekannt gegeben. Es ist demnach nicht zu erwarten, dass die (gleichgeschaltete) Justiz den tausenden Inhaftierten ein faires Verfahren zukommen lässt. Wenn tausende Oppositionelle für mehr als 100 Jahre Haft verurteilt werden, braucht man Platz.
Beunruhigend sind auch die Pläne zur Wiedereinführung der Todesstrafe, die Erdogan im Deal mit der Zustimmung der MHP zum Referendum in Aussicht gestellt hat: "So Gott will, wird der 16. April ein Signal für diese Sache sein."
Die Atatürk treue, "sozialdemokratische"Oppositionspartei CHP ist mittlerweile aufgewacht. Sie war es, die vor einem Jahr dem Antrag der AKP zur Aufhebung der Immunität von Parlamentariern zugestimmt hatte. Ihr Kalkül war damals, die HDP als Sammelbecken von Oppositionellen aus dem kurdischen Lager zu diskreditieren. Denn in der Kurdenfrage sind sich CHP und AKP einig.
Bericht der CHP
Minderheitenrechte oder gar Autonomie können nicht sein. Alle Menschen in der Türkei sind Türken. Punkt. Aber sie haben die Rechnung ohne Erdogan gemacht, bzw. seine Allmachts-Phantasien und Verstrickungen mit der türkischen Mafia unterschätzt. Jetzt wendet sich das Blatt auch gegen die CHP. Die CHP veröffentlichte einen Bericht über die jüngsten Menschenrechtsverletzungen der türkischen Regierung: Zwischen 2010 - 2015 gab es demnach 432 "Faili Meçhul"-Morde, also Morde mit unbekanntem Täter.
17.000 Menschen (vor allem Kurden) wurden so in den 1990er Jahren von staatlichen Kräften und Geheimdiensten in der Türkei ermordet. Zwischen 2010 und 2015 gab es 1.299 extralegale Hinrichtungen. Der Bericht führt interessante Vergleichszahlen zu Verhaftungen an: 2001, als die AKP an die Regierung kam, waren 59.429 Menschen inhaftiert. 2016 waren es 197.297, mehr als 3mal so viel. In neun Provinzen und 35 Kreisen gab es Ausgangssperren bei denen 338 Zivilisten ums Leben kamen, darunter 78 Kinder und 69 Frauen.
Die Frauenfeindlichkeit und Rückständigkeit im Thema Gleichberechtigung zeigt sich an folgenden Zahlen: Zwischen 2002 und 2015 wurden 13.928 Frauen in der Türkei ermordet. Innerhalb von 5 Jahren, von 2010 bis 2015 wurden 232.313 Mädchen im Alter von 16-17 Jahren verheiratet. 17.789 Kinder wurden im Jahr 2015 geboren, deren Mütter zwischen 15 und 16 Jahre alt waren. Wie immer sind diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen, da sich täglich die Situation ändert.