Erdogans maßgeschneidertes Präsidialsystem

Seite 2: Wodurch unterscheidet sich Erdogans Präsidialdiktatur von anderen existierenden Präsidialsystemen?

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Präsidialsystem ist nicht gleich Präsidialsystem und ein Präsidialsystem mündet nicht zwangsläufig in eine Diktatur. Ein Präsidialsystem haben z.B. die USA und viele lateinamerikanische Staaten. Aber demokratische Präsidialsysteme basieren auf der strikten Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative.

Des Weiteren sind reine Präsidialsysteme vor allem für Bundesstaaten, wie z.B. die USA geeignet, wo demokratisch legitimierte Regionen oder Bundesländer mit eigenen Parlamenten, einer eigenen Gerichtsbarkeit und einer eigenen Verwaltung der exekutiven Machtfülle eines Präsidenten auf der Ebene des Gesamtstaates eigene Machtzentren entgegensetzen.

Nun ist aber die Türkei bereits seit Atatürks Zeiten ein zentralistischer Einheitsstaat, d.h. weder die Dörfer und Städte noch die Provinzen haben originäre Rechte, die sie gegenüber der Zentralregierung durchsetzen bzw. behaupten können. Das jüngste Beispiel dafür ist, dass fast alle gewählten kurdischen Bürgermeister ohne Probleme von der Regierung abgesetzt werden konnten.

Im Übrigen gäbe es in der Türkei die kurdische Frage - und auch die PKK - wahrscheinlich nicht, wenn das Land ein weniger zentralistischer Staat wäre und es den Provinzen oder Städten möglich wäre, Kurdisch als zusätzliche Amtssprache oder als (zusätzliche) Unterrichtssprache in Schulen und Hochschulen einzuführen.

Der neue Verfassungsvorschlag

Der folgende Text geht auf ein Schaubild der Juristin Ece Guner Toprak in türkischer Sprache zurück:

Die Gesetzgebung (Legislative) wird vom Präsidenten kontrolliert, indem er

  1. als Parteivorsitzender einer Partei die Liste der Parlamentskandidaten dieser Partei aufstellt;
  2. das Parlament auflösen kann;
  3. den Staatshaushalt aufstellt;
  4. mit Dekreten das Gesetzgebungsverfahren begrenzen kann
  5. sein Veto gegen Gesetze einlegen kann.

Die Gerichtsbarkeit (Judikative) wird vom Präsidenten kontrolliert, indem er

  1. den Präsidenten des Rates der Richter und Staatsanwälte beruft;
  2. die Hälfte der Mitglieder des Rates der Richter und Staatsanwälte beruft;
  3. 12 von 15 Mitgliedern des Obersten Verfassungsgerichtes beruft.

Der Staat bzw. die Bürokratie (Exekutive) wird vom Präsidenten kontrolliert, indem er

  1. die gesamte obere Staatsverwaltung beruft;
  2. die Berufungskriterien bestimmt;
  3. das Erziehungswesen durch die Berufung der Mitglieder des Obersten Hochschulrates und der Hochschulrektoren bestimmt und
  4. das Militär führt.

Darüber hinaus kann der Präsident künftig auch den Staatsaufbau verändern, indem er

  1. staatliche Behörden und Institutionen gründet;
  2. öffentliche juristische Personen gründet bzw. bevollmächtigt,
  3. regionale Verwaltungsbehörden gründet.

Des Weiteren bekommt der Präsident umfangreiche Befugnisse in folgenden Bereichen:

  1. Er bestimmt die nationale Sicherheitspolitik,
  2. er wird Oberkommandierender der Armee (im Moment vertritt er als solcher nur das Parlament);
  3. er wird über den Einsatz der Armee und
  4. die Ausrufung des Ausnahmezustandes entscheiden.

Wie werden diese weitreichenden Befugnisse kontrolliert?

  1. Alle diese Befugnisse besitzt der Präsident in alleiniger Vollmacht - er kann sie ohne Einschränkungen benutzen;
  2. die Überprüfungsmöglichkeiten durch Gerichte wurden eingeschränkt (es bleibt nur das von ihm ausgesuchte Verfassungsgericht);
  3. künftig entfallen die Vorprüfungen durch den Staatsrat;
  4. als einzige Kontrolle bleibt die Möglichkeit bei Straftaten mit 400 von 600 Abgeordnetenstimmen (2/3) den Obersten Gerichtshof anzurufen;
  5. für den Präsidenten besteht lebenslänglicher Rechtsschutz;
  6. der Präsident kann dreimal gewählt werden.