Ernährungsunsicherheit: Weltweit 320 Millionen Menschen bedroht
WFP warnt vor "dreidimensionaler Krise" infolge des Ukraine-Kriegs. Dem Welternährungsprogramm fehlt Geld, das für Rüstungsbudgets üppig verteilt wird
Es ist müßig, die Zahlen gegenüberzustellen, die den Kontrast zwischen Militärausgaben und dem, was anderswo an Nötigsten fehlt, veranschaulichen. Grundlegende Veränderungen und das dazu nötige Umdenken sind weniger denn je oben auf der Tagesordnung der politischen und gesellschaftlichen Debatten in den reicheren Ländern. Doch weil diese Zahlen zum größeren Bild der Aktualität gehören, sollen sie in aller Lakonie erwähnt werden.
Über 320 Millionen Menschen weltweit haben nach Schätzungen des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) akute Ernährungsunsicherheit in Folge des Ukraine-Kriegs zu befürchten. Was "Food insecurity" genauer, in einzelne Kategorien aufgeschlüsselt, bedeutet, ist für Interessierte hier auf drei Seiten nachzulesen, man kann "Ernährungsunsicherheit" grob gefasst so verstehen, dass die Betroffenen größere Schwierigkeiten haben, an die nächste Mahlzeit zu kommen. Und oft reicht diese nicht für alle Mitglieder des Haushalts oder sie fällt ganz aus.
Ukraine und Nachbarländer
Das WFP geht in seinem jüngsten Lagebericht zur Ukraine und Nachbarländern davon aus, dass bis Ende April etwa 2,3 Millionen Menschen mit Sach- und Geldlieferungen unterstützt werden müssen, die unmittelbar vom Krieg in der Ukraine betroffen sind, eingeschlossen sind darin ukrainische Kriegsflüchtlinge in den Nachbarländern. Bis Ende Mai könnten es vier Millionen sein, bis Ende Juli sechs Millionen, so die Schätzungen. Bisher waren es 1,4 Millionen – "als Reaktion auf die Krise in der Ukraine".
Der Krieg in der Ukraine löse eine "dreidimensionale Krise" auf den Lebensmittel-, Energie- und Finanzmärkten aus, lautet das Fazit am Ende des Lageberichts, das auf die eingangs genannte Ernährungsunsicherheit für über 300 Millionen Menschen weltweit hinausläuft:
"Steigende Preise für Grundnahrungsmittel, steigende Energiepreise und Versorgungsengpässe erhöhen den Druck auf die Haushalte weltweit, insbesondere in den ärmsten Ländern."
Syrien: Nahrungsmittelhilfe wird gekürzt
Die Finanzierungsengpässe bei laufender Verteuerung der Grundnahrungsmittel, die in Syrien (wie auch im Libanon) von einer großen Wirtschaftskrise begleitet werden – bei der im Fall Syriens US-Sanktionen eine erhebliche Rolle spielen –, haben bei der UN-Organisation nun dazu geführt, dass die Nahrungsmittelhilfe für den Nordwesten Syriens gekürzt wird.
Wie ein WFP-Sprecher dem katarischen Sender Al-Jazeera mitteilte, werde der Lebensmittelkorb für den Nordwesten Syriens von 1.300 auf 1.170 Kilokalorien pro Person reduziert. Konkret bedeute die Kürzung, dass die gleiche Menge an Pflanzenöl, Weizenmehl, Salz und Zucker von der UN-Organisation an bedürftige Familien ausgegeben wird, dass aber die monatlichen Mengen an Linsen, Kichererbsen, Reis und Bulgurweizen gekürzt würden.
Als Erklärung wird angeführt, dass seit dem Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine, Ende Februar, der Preis für Pflanzenöl in Syrien um 39 Prozent und Weizenmehl um zehn Prozent gestiegen sei. Im Februar waren nach Angaben der WFP, wie sie Al-Jazeera zitiert, 12 Millionen Menschen in Syrien, was 55 Prozent der Gesamtbevölkerung betrifft, von "akuter Ernährungsunsicherheit" betroffen.
Im Jemen sind nach Angaben der WFP bis zu 19 Millionen Menschen von Ernährungsunsicherheit betroffen.
Hungerkrise am Horn von Afrika
Nicht nur Kriege und ihre Folgen, sondern auch das Klima, konkret eine anhaltende extreme Dürre am Horn von Afrika, lassen eine "Hungerkrise" befürchten. Da in der Region die lang erwarteten Regenfälle nach fast einem Monat Regenzeit ausbleiben, könnte die Zahl der Hungernden aufgrund der Dürre "von derzeit geschätzten 14 Millionen auf 20 Millionen im Jahr 2022" ansteigen, zitiert Al-Jazeera eine aktuelle Einschätzung des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) vom Dienstag. Als betroffene Länder werden Kenia, Somalia und Äthiopien genannt.
Um genügend Mittel zur Bekämpfung der Not zu haben, würde noch knapp eine halbe Milliarde US-Dollar benötigt. Der Konflikt in der Ukraine habe die Krise mit steigenden Lebensmittel- und Treibstoffkosten weiter verschärft, so das WFP.
US-Rüstungsbudget: Einsparungen von einer Billion US-Dollar in zehn Jahren möglich?
Man könnte in den nächsten zehn Jahren mindestens eine Billion US-Dollar beim US-Verteidigungshaushalt einsparen, zu diesem Ergebnis kommt ein 75-seitiger Bericht des Center of International Policy. Erforderlich dafür wäre ein "relativ minimalistisches strategisches Umdenken im nächsten Jahrzehnt", kommentiert dies ein Bericht des Think Tanks Responsible Statecraft.
Zur groben Einordnung: Der Think Tank Center of International Policy hat Mitglieder aus beiden großen US-Parteien, nennt sich "bipartisan" und wurde als Reaktion auf den Vietnam-Krieg gegründet, das ist kein bevorzugter Think Tank von Falken. Ähnliches kann man auch vom Think Tank Responsible Statecraft behaupten, der sich durch seine Kritik und Gegnerschaft zu militärischen US-Interventionen einen gewissen Ruf erworben hat.
In jüngster Zeit fokussiert dessen Kritik auf das enorme Rüstungsbudget der USA unter der Präsident Biden, wobei auch die Rolle der Giganten der US-amerikanischen Waffenhersteller immer wieder herangezoomt wird.
So wird etwa das Problem der Kongressaktionäre verwiesen, die Aktien von Lockheed Martin, Raytheon, Boeing, Northrop Grumman und General Dynamics besitzen, wie auch darauf, wie sehr allein schon die Aussichten auf den Ukraine-Krieg gute Laune in die obersten Etagen gebracht hat: "Wir sehen, würde ich sagen, Möglichkeiten für internationale Verkäufe."(Greg Hayes, CEO Raytheon)
Diese Äußerung brachte Greg Hayes Kritik ein. Daher besserte er sie im März nach dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine etwas nach; so zitiert ihn Responsible Statecraft aktuell wie folgt:
Ich entschuldige mich also nicht dafür. Ich bin der Auffassung, dass wir es anerkennen sollten, dass wir dort sind, um die Demokratie zu verteidigen. Es ist eine Tatsache, dass wir mit der Zeit einen gewissen Nutzen aus diesem Geschäft ziehen werden. Alles, was heute in die Ukraine geliefert wird, stammt natürlich aus den Lagerbeständen des Verteidigungsministeriums oder unserer Nato-Verbündeten, und das ist eine gute Nachricht. Irgendwann werden wir sie wieder auffüllen müssen, und wir werden in den nächsten Jahren einen Nutzen für das Geschäft sehen.
Greg Hayes, CEO Raytheon
Der Krieg in der Ukraine ist in der Tat ein großes Geschäft, wie auch der Artikel von Responsible Statecraft ausführt. Nicht allein wegen der Lieferverträge von Stinger-Flugabwehrraketen und Javelin-Panzerabwehrraketen, woran Raytheon beteiligt ist.
Der größere Strom von Gewinnen komme noch von den zugesicherten Erhöhungen der Ausgaben für die nationale Sicherheit in den USA und in Europa nach dem Ukraine-Krieg, der "zumindest teilweise" eine politische Rechtfertigung dafür abgebe.