Erosion der bürgerlichen Freiheiten

Seite 2: Gezielte Überforderung

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Das Konzept der Schockstrategie, wie es von Alvin Toffler bis hin zu Naomi Klein fortgeschrieben wurde, steht stets für den Effekt der Überforderung - durch innovative Hochtechnologie, innovative Finanztechnologie, innovative Medizintechnik - deren Versprechen jeweils die Adaptionsfähigkeit der Bevölkerung überfordern. Insofern steckt nicht nur hohe Erwartung und schier grenzenloser Erneuerungswille in jeder Innovation.

Es ist auch eine Methode, Fortschritts-Blockaden gering zu halten. Die Schockstarre macht den Weg frei für neoliberale Operationen, die nun keinen Widerstand mehr in ihr Durchsetzungskonzept einplanen müssen. Eine Pandemie ist ein perfekter Auslöser für diese Art Schockstarre. Sie ist ein Durchsetzungs-Beschleuniger. Eine alle betreffende Angst lähmt uns und macht uns Paralysierte empfänglich für neue Konzepte.

Altruismus ist der zentrale Begriff, mit dem die bedingungslose Mitwirkung der Bevölkerung am Programm des Neoliberalismus erreicht werden kann. Mitleid ist der Kleister, der den von katastrophalen Auswirkungen eines Wirtschafts-Systems Betroffenen die Gesellschaft ersetzt, von der Margaret Thatcher schon vor 50 Jahren sagte, dass sie nicht existiert: "There is no such thing as society."

Die Rede von der Bedeutung und Notwendigkeit des Altruismus für das Überleben der Spezies, mithin vom hohen Wert des einzelnen Lebens als einem uns allen gemeinsamen Wert ist insofern Propaganda der Regierungen, als mit ihr die Nichtexistenz von Gegenseitigkeit kaschiert wird.

Gegenseitigkeit stellt kein relevantes Kalkül in der herrschenden Ökonomie dar und kann auf keinem "vernünftigen" Weg in sie hinein gerechnet werden. Wo Gegenseitigkeit fehlt, fehlt der Humanismus. Humanismus ist ein ethisches Konzept, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Altruismus hingegen ist eine Überlebensstrategie. Insofern ist derjenige, der den Altruismus ins Zentrum seiner Aktivitäten stellt, zugleich derjenige, der davon profitiert. Altruismus ist eine moderne Herrschaftstechnik.

In Stromschnellen

Altruismus hilft uns, die Risiken anders zu bewerten, die Nebeneffekt des aktuellen Wirtschaftens sind. Dass neoliberale Wirtschaftsunternehmen die Größe und Reichweite unserer kollektiven Systeme der Risikoabsicherung stets verkleinern möchten, ist keine Überraschung.

Frappierend jedoch ist der Zynismus, mit dem ein Vordenker des Neoliberalismus, Newt Gingrich, diesen Umstand mit einem Bild aus dem Risikosport erläutert:1

Der Rhythmus der Dritten Welle im Informationszeitalter ist ein wenig wie das Befahren von Stromschnellen mit einem Schlauchboot, nachdem wir nur gelernt haben, mit dem Kanu auf einem ruhigen See zu paddeln. Obwohl die Fahrt durch die Stromschnellen schwieriger und gefährlicher sein mag, sind Fertigkeiten, die man benötigt, und Regeln, die man beachten muss, im Wesentlichen dieselben. Wenn wir uns einmal daran gewöhnt haben, kann es sogar sehr aufregend sein und Spaß machen. Es gibt viel größere Herausforderungen, es ist viel spannender und aufregender, und unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten erhalten einen viel feineren Schliff. Es wird eine Menge mehr Herausforderungen in unserer neuen Welt geben als in der, in der wir aufgewachsen sind. Während der Übergangszeit freilich sind die Menschen wahrscheinlich unsicher und eingeschüchtert.

Newt Gingrich

Das Auftreten von Pandemien destabilisiert das Vertrauen in den modernen Wohlfahrtsstaat, der bislang als Garant der Sicherheit galt. Der Ruf nach privaten Akteuren, die in dieses Machtvakuum eintreten, birgt jedoch eine gewisse Schizophrenie, da wir genau die Unternehmen mit der Lösung eines Problems betrauen wollen, deren Geschäftsgebaren das Problem erzeugt hat. Diese Fehlleistung ist nur durch die außerordentliche Bedeutung des Sicherheitsbedürfnisses zu erklären.

Je größer nun die Verunsicherung, desto leichter fällt es den Betroffenen, einer Rückabwicklung der zivilisatorischen Errungenschaften zuzustimmen, die den Kern des sozialen Wohlfahrtsstaates ausgemacht haben.

Stammt die Wohlfahrt aus privater Tasche, so muss man sich wohl oder übel den Bedingungen unterwerfen, die aus ökonomischer Sicht an die Leistungen geknüpft sind. Insofern ist dieser Text als Kritik am staatlichen Versagen zu verstehen. Denn die Politik lässt sich ändern. Rahmenbedingungen für das Wirtschaften lassen sich neu formulieren.

Wer seine Kritik ausschließlich an die Unternehmer richtet, vergisst, dass die Vorgaben für das "freie Drehen" der Wirtschaft von den Personen stammen, die wir beauftragt haben, uns politisch zu vertreten. Ihnen gegenüber müssen wir unsere Forderungen selbstbewusster formulieren. Dafür ist jetzt ein guter Zeitpunkt.

Denn die Pandemie beschleunigt nicht nur die Fahrt durch die Abwärtsspirale, auf der unser Wirtschaftssystem seit Jahren unterwegs ist - "abwärts" im Sinne einer nachhaltigen Zerstörung aller Formen lebensnotwendiger Gerechtigkeit. Sie motiviert die Menschen auch, endlich gegen unerträgliche Zumutungen aktiv zu werden.

Die schier endlose Kette sozialschädlicher Ereignisse, an die uns die Herrschenden über die letzten drei Jahrzehnte scheinbar fest angeschmiedet hatten - die Betrugsskandale, Rechtsbeugungen, Ressourcenvernichtungen und Aushöhlungen unserer Kultur - diese Kette wollen immer mehr Menschen sprengen. Sie glauben nicht länger den Versprechen philanthropischer Milliardäre, weil sie sichtbar leer sind.

Aus der ökonomischen Logik, die das Problem der zurückliegenden "Normalität" schuf, lässt sich dessen Lösung nicht zentrifugieren. Die Menschen erkennen klar, dass die steuersparenden Modelle dieser Almosenkultur bloß die angeblich menschenfreundliche Seite einer Bereicherungsökonomie sind, in der unsere zivilisatorischen Errungenschaften plötzlich nur noch auf der Basis der Freiwilligkeit gespendet werden.

Die Menschen aber wollen nicht vom guten Willen einiger weniger Reicher und den Unwägbarkeiten von deren Risikokapitalinvestments abhängig sein. Sie verlangen die von ihnen seit Jahrhunderten erkämpften Lebensbedingungen als unverbrüchliche Rechte - nicht als Abfallprodukte der Anlagegesellschaften.

Der Mann mit den Engelsflügeln

Die hochfliegenden Pläne für ein Post-COVID New York sind tollkühne Utopie. Die Phantasmen einer voll entfalteten Hochtechnologie als naturähnliche nächste Entwicklungsstufe der menschlichen Evolution sind weder neu noch wünschenswert.

Aber eine "historische Chance" ist nie realistisch, bis zu dem Augenblick, in dem sich ein Spalt öffnet, durch den sie ins Herz des gesellschaftlichen Wollens quillt. Diesen schmalen Spalt versuchen Andrew Cuomo und Eric Schmidt gerade aufzuweiten. Ihre Vision unserer Zukunft würde unter anderen als den augenblicklichen pandemischen Voraussetzungen ihr pathologisches Potential unmittelbar preisgeben.

Es ist ein wenig, wie Karl Schlögel es einmal klug bemerkte:2 was tollkühn erscheinen mag, "ist pures Notstandsdenken, ohne das eine Macht mit denkbar schwacher Legitimation nicht einen Tag überleben könnte".

Als die Botschaft um die Welt geht, dass "@NYGovCuomo has tapped @Google CEO @ericschmidt to head a new Blue Ribbon Commission reimagining New York State’s current systems of health and education", präsentiert sich Eric Schmidt per Videoleitung von zu Haus.

Eric Schmidt - Screenshot aus dem Video

Das theatralisch inszenierte Video-Bild, in dessen Mitte sich Schmidt platziert, steckt voller Hinweise darauf, dass er sich bald über uns alle hoch in die Lüfte erheben wird. Ein Mann in seiner Position überlässt nichts dem Zufall. Jedes Element in dem Video-Raum hat eine zugewiesene Rolle in dem anstehenden Spiel. Die goldenen Flügel und das Foto der Propellermaschine stammen aus dem kalifornischen Ausstattungshaus ZGallerie - sie sind preiswert, aber sie erfüllen ihren Zweck.

In dem Spiel, dass er ankündigt, geht es um nichts Geringeres, als diejenige Stadt, in der am 11. September 2001 die Epochenwende zuerst sichtbar wurde, vollständig umzubauen. "Ground Zero" war bloß der Anfang. Wenn Schmidt fertig ist, werden wir New York nicht mehr wiedererkennen.

Wie dereinst der Magier Woland ("volant" = fliegen) in Bulgakows "Meister und Magarita" erhebt sich Schmidt symbolisch in die Lüfte. Nur von ganz oben kann er Überblick über sein geplantes Teufelswerk erlangen.

Doch Schmidt hat eine Kleinigkeit nicht einkalkuliert. Es hat sich links unten eine verräterische Pflanze in die Szene geschummelt. Es ist eine halb abgestorbene Anthurie. Mit ihren braunen Blättern überbringt sie die Kunde, dass unter der glänzenden Oberfläche der KI, unter der schillernden Schale des "new screen deal" eine faule Nuss schlummert.

Die unvorstellbare Ressourcen-Verschwendung der geplanten Operation und der als Fürsorge getarnte unstillbare Hang zu mehr Macht und Reichtum entdecken sich uns allein durch die kleine vernachlässigte Flamingoblume.

Wo die großen Symbole für Sicherheit (Schutzengel in Gold) und die ewigen Träume der Allmacht (der fliegende Mensch) sorgsam platziert sind, hat Schmidt die Ecke mit der vernachlässigten Topfblume übersehen.

Noch einmal Karl Schlögel: der "verheißene Morgen", der uns zunächst als wohl bedachter "Plan erscheint, stellt sich bei nähren Hinsehen als Nothandeln, Improvisation" heraus. "Das 'System' erweist sich in Wahrheit als ein notdürftig beherrschtes … zur Herrschaftssicherung erneut entfesseltes Chaos."

Olaf Arndt, ist Herausgeber der Zeitschrift "Die Aktion 4.0 - Organ für radikale Intelligenz" und Autor zahlreicher Sachbücher und Sammelbände zu Themen wie KI, Finanzkapitalismus, weniger-tödliche Waffen. Er führt die auf Telepolis begonnene Reihe mit Beiträgen zu den sozialen Folgen von Corona auf seinem Blog weiter. Dort sind auch Informationen zu erhalten über seinen neuen Roman "Unterdeutschland", der sich mit dem gleichen Thema befasst.