"Es geht nicht nur um neue Militärbasen, sondern auch um die Militarisierung des Bewusstseins"

Seite 2: "Die Nato erhält eine Legitimation durch die Übertreibung der Angst"

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Welche Schritte schlagen Sie realpolitisch gegen die Nato vor?

Ilja Budraitskis: Realpolitik, dass ist die Politik derjenigen, die militärische Entscheidungen treffen. Linke beteiligen sich prinzipiell nicht an der Realpolitik, denn sie haben weder in Russland noch im Westen die Macht.

Ich meine mit Realpolitik, in Kontakt zu den Millionen Menschen in der EU zu kommen, die meinen, dass Russland ein gefährliches, expansives Land ist und dass man sich gegen dieses Land zusammenschließen muss.

Ilja Budraitskis: Die Nato erhält jetzt tatsächlich eine Legitimation durch die Übertreibung der Angst. Sie sagen Russland wolle weiter nach Osteuropa expandieren. Es ist offensichtlich, dass das nicht stimmt. Russland will kein Territorium erobern. Die Ziele der russischen Elite sind wesentlich bescheidener. Russland will nur seine Geige in der globalen Weltordnung spielen. Darauf sind alle Anstrengungen Putins gerichtet.

Allein schon von seinen Kräften her - im Vergleich zu Nato - ist Russland zu einer expansiven Politik nicht in der Lage. Russland schlägt im Gegensatz zur Sowjetunion kein alternatives Gesellschaftsmodell vor. Russland sieht seine Aufgabe in der Selbsterhaltung und dem Erhalt seines Einflusses im postsowjetischen Bereich, weshalb auch die Invasion in die Ukraine begann.

Warum sind Sie nach Warschau gefahren?

Ilja Budraitskis: Angesichts der Militarisierung des Massenbewusstseins ist es sehr wichtig zu erklären, dass wir zu dieser Militarisierung nicht bereit sind, dass wir nicht nur Gegner der Nato oder Putins, sondern Gegner von Militarisierung und Imperialismus sind.

"Die Situation der russischsprachigen Minderheit in Lettland und Estland ist eine Bombe mit Zeitzünder"

Was sind Ihrer Meinung nach die Kennzeichen der Militarisierung Russlands?

Ilja Budraitskis: Sie besteht in der Erhöhung des Militärbudgets, den zahlreichen Manövern, dem Einsatz von russischen Truppen in Syrien, dem russischen Rüstungsexport. Wir wissen, dass Russland nach der Syrien-Operation, die auch eine Reklame für den Verkauf russischer Waffen war, Verträge mit Ägypten, Indien und anderen Ländern über sieben Milliarden Dollar Rüstungslieferungen abgeschlossen hat.

Sehen Sie nicht die Gefahr, dass an den Außengrenzen von Russland bewusst Konflikte provoziert werden. So wurde zum Beispiel in der estnischen Hauptstadt Tallin 2007 ohne Not der "bronzene Soldat" abgebaut, ein bei der russischen Minderheit beliebtes Denkmal an den Sieg über den Faschismus. Es kam damals zu großen Demonstrationen der russischen Minderheit in Estland.

Ilja Budraitskis: Die Situation der russischsprachigen Minderheit in Lettland und Estland ist eine Bombe mit Zeitzünder. Das hängt zusammen mit der Anfang der 1990er Jahre eingeführten, rechtlichen Diskriminierung der russischsprachigen Minderheit. Aber das Problem hat noch eine andere Seite. Auf der Krim wurde das erste Mal seit Jahrzehnten der Faktor der russischsprachigen Minderheit als Grund für eine militärische Einmischung Russlands genannt. Dadurch wurde ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen. Außerdem muss man berücksichtigen, dass die Okkupation des Baltikums durch die Sowjetunion in den 1940er Jahren ein Faktor des historischen Gedächtnisses in diesen Ländern ist.

Das Interview führte Ulrich Heyden am 11. Juli 2016.