"Es ist die Vielfalt, die uns siegen lässt"

Seite 3: "Lasst uns doch so sein, wie wir es wollen"

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Wie erklären Sie Menschen im deutschsprachigen Raum, dass man hier im 21. Jahrhundert eine eigene Nation mit einem eigenen Staat fordert?

Carme Porta: Das ist der Wille einer breiten Bevölkerung. Ich würde die Frage umdrehen und fragen: Wie kann es sein, dass in einem demokratischen Europa im 21. Jahrhundert der demokratisch formulierte Wille einer Mehrheit der Katalanen nicht respektiert wird? Es geht darum, die Welt zu verändern, sie von der Basis und dem Willen der Bevölkerung aus von unten zu gestalten. Es sind die alten Strukturen, die das verhindern. Es sind Strukturen, die auf der Ausbeutung von Mensch und Natur basieren. Wir befinden uns in einer Konsumgesellschaft, die sogar ungesund ist für die eigene Bevölkerung.

Seit einiger Zeit wird auch immer klarer, dass diese Gesellschaft für die breite Masse immer weniger zu bieten hat. In der Krise wurde die einstige Mittelklasse geschleift und wir nähern uns dabei einer Situation in Lateinamerika an, wo das weitgehend schon geschehen ist. Es müssen Veränderungen her, es müssen neue Strukturen geschaffen werden. In Spanien ist das unmöglich.

Dort fehlt vor allem Respekt vor denen, die anders sein wollen. Wir haben eine ganz andere Landverteilung, ein anderes bürgerliches Recht, eine andere Sprache, eine andere Kultur, andere Werte ... Lasst uns doch so sein, wie wir es wollen. Doch das kann Spanien nicht. Es geht aber nicht darum, einen Staat mit neuen Grenzen zu schaffen, wie man es aus dem 19 Jahrhundert kennt, hinter denen jeweils eine Bourgeoisie stand. Es geht um einen Prozess, hinter dem die breite Bevölkerung steht. Wir Katalanen fordern unsere Rechte ein. Wir wollen sein, wie wir es wollen. Und das wollen wir in einem konstituierenden Prozess jetzt definieren. Es gibt viele Vorschläge und darüber wollen wir frei sprechen und entscheiden.

Vielleicht müssten Sie einmal erklären, was Sie genau meinen, wenn Sie von Katalanen sprechen. Wer ist das? Gehe ich zum Beispiel durch den Stadtteil Raval, sehe ich da viele Menschen, die aus der ganzen Welt nach Barcelona gekommen sind.

Carme Porta: Natürlich sprechen wir nicht von einer Ethnie, Blut und Boden. Es geht nicht um ein Volk in einer Form, wie das vielleicht in Deutschland gesehen wird. Das gibt das hier nicht. Klar ist die katalanische Sprache ein einender und identitätsstiftender Faktor. Doch hier gibt es auch viele, die für die Unabhängigkeit eintreten, die kein Katalanisch sprechen. Katalonien ist geprägt von einer langen Zeit der Durchmischung, der Einwanderung und Auswanderung. Es gibt nur sehr wenige, die einen katalanischen Stammbaum haben.

Der Vorgang geht weit zurück in die Zeit, als hier die Mauren waren, davor die Westgoten oder die Römer. Wir sind eine Gemeinschaft, eine sehr vielfältige. Und wie man sehen kann, haben wir hier Leute aus allen Ländern, die für die katalanische Unabhängigkeit eintreten. Man könnte sagen, wir sind ein Volk aller Hautfarben und aller Länder. Hier werden 300 Sprachen gesprochen.

Das heißt natürlich auch nicht, dass es hier keinen Rassismus gäbe, dass auch hier die Migration beschränkt wird, weil die Grenzen durch Europa geschlossen sind, wir uns im Schengen-Raum befinden ... Wir sind auch nicht perfekt, alles andere als das, sondern haben auch viele Widersprüche. Aber was wir auch wollen, das ist, dass viele unserer Mitbürger, die bisher auch von Wahlen ausgeschlossen sind, sich hier gleichberechtigt beteiligen können. Sie sollen die katalanische Staatsbürgerschaft erhalten, jeder, der das will. Es geht uns darum, etwas ganz anderes aufzubauen als das, was wir bisher kennen. Und es ist diese Vielfalt, die uns siegen lässt, die dafür sorgt, dass wir das Referendum durchführen und klar gewinnen konnten.

Wie interpretieren Sie es, dass so wenige Menschen gegen den Unabhängigkeitsprozess auf die Straße gehen? Am 12. Oktober, als nicht erneut aus ganz Spanien die Menschen herbeikamen und herangeschafft wurden, waren es vielleicht nicht einmal 50.000 und das einen Tag nachdem die Unabhängigkeit verkündet wurde.

Carme Porta: Der spanische Staat versucht es mit seinen aggressiven nationalistischen Mobilisierungen, bei denen dann auch Einwanderer und die angegriffen werden, die anders sind oder sein wollen. Es wird mit Drohungen gearbeitet, mit Konfrontation, mit Ausschluss. Das zieht nicht, schreckt vielmehr ab.

Genau das hat man im Unabhängigkeitslager nicht, wo es um Integration und Einbindung geht. Wie auch? Wie sollten wir uns auch aggressiv gegen die spanische Bevölkerung wenden? Wer hier hat keine Wurzeln woanders und familiäre Verbindungen in Spanien. Meine Eltern sind zum Beispiel aus Aragon nach Katalonien gekommen. Auch für sie ist Katalonien ihre Heimat. Klar haben sie Familie und Freunde in Aragon, doch auch sie wollen, dass Katalonien vorankommt wie die große Mehrheit der Menschen hier. Es ist das Land, das uns aufgenommen hat, das den Kindern und Enkeln eine Ausbildung gegeben hat.

Ums Geld geht es nur zweitrangig. Es geht nicht darum, dass Katalonien viel Geld an den spanischen Staat bezahlt, die Leute sind sehr solidarisch hier. Was hier aber auch meine Eltern empört, ist, dass man sich sogar dann auch noch im Dorf dafür anfeinden lassen muss, obwohl man das tut.

Wer ist es, der in Spanien uns angreift und wer ist es, der uns dort verteidigt? Es ist die Bourgeoisie, die in Spanien keine Landreform und andere Reformen durchführt. Hass wird gegen uns geschürt, um die Korruption, die Reformunfähigkeit zu verdecken. Und auch hier ist es die katalanische Oligarchie, die sich gegen Veränderungen stemmt. Deshalb droht sie, den Sitz der großen Banken und Firmen nach Spanien zu verlegen. Dem internationalen Kapital ist das mehr oder weniger egal. Dort weiß man, dass sie hier produktive Strukturen haben und es einen Markt gibt und sie investieren weiter stark in Katalonien. Einige reiben sich vermutlich sogar schon die Hände, dass ihnen da ein Raum überlassen wird.

Es sind aber Landarbeitergewerkschaften wie in Andalusien oder der Extremadura, die den katalanischen Prozess verteidigen und solidarisch sind. Sie hoffen darauf, dass die Strukturen im Staat endlich aufgebrochen werden. Klar ist auch, dass das ständige Nein, Nein, Nein aus Spanien nicht integriert und vereint. Es ist so, dass damit hier immer neue Unabhängigkeitsbefürworter geschaffen werden. Der alte Spruch, lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach, hat in Katalonien aufgehört zu funktionieren. Die Leute haben die Nase voll und streben nun nach der Taube.

Was passiert jetzt? Die linksradikale CUP und andere fordern von Puigdemont, die Aussetzung aufzuheben und das Übergangsgesetz umzusetzen.

Carme Porta: Ich denke, das wäre das Richtige. Es ist klargestellt, dass es hier keine zwei Kriegsparteien gibt, die aus ethnischen, religiösen oder welchen Gründen auch immer in einer Konfrontation stehen. Es gibt eine vielfältige, friedliche und demokratische Mehrheit, die gehen will. Wir wenden uns schlicht gegen Faschisten, die zeigen, dass sie sich in all den Jahren seit der Diktatur nicht verändert haben. Wir haben es längst auch nicht mehr mit einem internen Konflikt zu tun, sondern einem europäischen, wo es um Grundrechte geht. Entsprechend müsste gehandelt werden. Rajoy müsste dazu gebracht werden, die Unabhängigkeit anzuerkennen oder zu verhandeln.

Sie sehen sich bald in einem souveränen Katalonien?

Carme Porta: Ja, klar. Vor 20 oder 30 Jahren, als wir eine Minderheit waren, hätte ich gesagt: unmöglich. Das wird natürlich nicht in zwei Wochen sein, es wird eine Übergangsphase geben, in der wir in einem Prozess das aufbauen, was wir wollen. Ich würde mir wünschen, dass das in Übereinkunft mit dem spanischen Staat geschieht, in Frieden, ohne die Konfrontation, die einige Teile dort wollen.