"Es ist die Vielfalt, die uns siegen lässt"

Der katalanische Präsident Carles Puigdemont erklärt die Unabhängigkeit und die sofortige Aussetzung. Bild: govern.cat

Das spanische Ultimatum läuft am Montag ab und Katalonien erwartet eine neue Repressionswelle - Gespräch mit Carme Porta von der linken ERC

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Wie erwartet, hat Spanien bisher auch das 19. Dialogangebot der Katalanen abgelehnt und setzt weiter auf Konfrontation. Daran haben auch die Versuche einer internationalen Vermittlung nichts geändert. Dafür hatte der katalanische Regierungschef Carles Puigdemont vergangenen Mittwoch den Raum doch wieder geöffnet, als er die Unabhängigkeit nach dem Ja beim Referendum am 1. Oktober gemäß dem Referendumsgesetz zwar erklärt, aber die Wirkung sofort wieder ausgesetzt hat.

Während Spanien offensichtlich über das Ultimatum ein Nachgeben erzwingen will, das am Montag abläuft, fordern viele in Katalonien weiter einen Dialog, so auch die Bürgermeisterin Barcelonas Ada Colau. Mit Blick auf den wachsweichen Vorschlag der spanischen Sozialisten, ohne klaren Inhalt und Garantie die Verfassung reformieren zu wollen, meint Colau, dass das wahrlich keine "Ausrede sein kann, sich nicht auf ein Unabhängigkeitsreferendum" zwischen Spanien und Katalonien zu verständigen.

Die Gegnerin der katalanischen Unabhängigkeit wirft dem Sozialistenchef Sánchez seine lange Abwesenheit in der Katalonienfrage vor. Als er sich dann in der Frage plötzlich doch zu Wort gemeldet hat, unterstützte er den rechten Regierungschef Mariano Rajoy. Opposition sieht anders aus. Colau behauptet aber, dass es "Kontakte" zwischen der Zentralregierung und der katalanischen Regierung gäbe: "Wir hoffen, dass sie in einem Dialograhmen münden und nicht in eine Kapitulation und zu realen Lösungen führt."

Derweil drängt die linksradikale CUP, die sich öffentlich sehr kritisch gegenüber der Aussetzung der Unabhängigkeit gezeigt hatte, in dieser Woche diese aufzuheben und das Übergangsgesetz in Kraft zu setzen. Auch der große Katalanische Nationalkongress (ANC) fordert von Puigdemont diesen Schritt. Vermutlich wird und muss der kommen, wenn sich Spanien mit neuen repressiven Maßnahmen vorwagt. Der ANC-Chef Jordi Sànchez hat in einem Schreiben, das Telepolis vorliegt, allen erklärt, die während des Referendums am 1. Oktober eine herausragende Rolle als Mitglieder oder Vorsitzenden der Wahlräte in den Wahllokalen tätig waren, dass sie sich wie er und andere auf eine Festnahme oder Verhaftung wegen "Aufruhr" einstellen sollen. Auch gegen Sànchez wird schon ermittelt.

Wahlhelfern drohen Verhaftungen und Anklage. Bild: R. Streck

Er befürchtet eine weitere "undemokratische Reaktion durch den spanischen Staat", der bisher nur Öl ins Feuer gegossen hat. Er ist aber überzeugt, dass es richtig war, erneut "ehrlich und aufrichtig" den Dialogweg zu versuchen, da auch die internationale Gemeinschaft darauf gedrängt hat, "die in diesen Augenblicken versucht, einen Dialog aufzubauen". Während die internationalen Medien den Versuch gewürdigt hätten, würden sich die großen spanischen Parteien in der "Intoleranz verschanzen, die sie charakterisiert". Er sagt voraus: "Die kommenden Tage werden entscheidend sein." Und fordert mit Blick auf die CUP auch, die "Vertrauenskette" nicht zu zerstören, denn die habe den Prozess bis heute so stark gemacht.

Er appelliert angesichts zu erwartender neuer Repression erneut an alle "weiter friedlich und gewaltlos angesichts des zu erwartenden repressiven und gewalttätigen" Vorgehens der spanischen Sicherheitskräfte zu bleiben. Man solle ihnen keine Anlässe geben, mit denen sie ihr Vorgehen rechtfertigen könnten, da sie darauf nur warten würden. "Wir sind friedliche Menschen", und wenn man vereint bleibe, "werden wir gewinnen", bedankt er sich bei allen für ihren Einsatz.

"Sie versuchen Angst zu schüren und eine Konfrontation herbeizuführen"

Über die Vorgänge in Katalonien sprach Telepolis mit Carme Porta. Sie ist Mitglied der Esquerra Republicana de Catalunya (Republikanische Linke Kataloniens) und war 1999 erste Parlamentarierin der ERC im katalanischen Parlament und gehört zu den vielen Frauen, die den Unabhängigkeitsweg in der ERC-Führung zentral mitgestaltet haben, wie die frühere ANC-Chefin und heutige Parlamentspräsidentin Carme Forcadell schon in einem Interview mit Telepolis dargelegt hat. Porta war auch Mitglied des siebenköpfigen Exekutivkomitees des 2013 gegründeten "Nationalen Paktes für ein Referendum" (PNR).

Der spanische Regierungschef Mariano Rajoy hat vom katalanischen Präsidenten Carles Puigdemont bis Montag Aufklärung darüber gefordert, ob er vergangenen Mittwoch die Unabhängigkeit Kataloniens verkündet hat oder nicht. In welcher Situation befinden wir uns nun real? Ihr Parteichef Oriol Junqueras erklärt ja, dass die Regierung die Republik aufbaut.
Carme Porta: Die Lage ist klar. Die Unabhängigkeit wurde formal erklärt, die Erklärung von einer Mehrheit von 72 Parlamentariern unterzeichnet. Puigdemont schlug aber vor, sie befristet auszusetzen, da innerhalb und außerhalb Kataloniens gefordert worden war, einen Dialog mit Spanien weiter zu ermöglichen. Das war einer von insgesamt 19 Versuchen, die auf verschiedenen Grundlagen gestartet worden sind, unter anderem um ein verbindliches Referendum mit Spanien abzustimmen.
Carme Porta. Bild: R. Streck
Wie kam es zu der nun verfahrenen Lage?
Carme Porta: Über zehn Jahre hat sich Spanien eingeigelt, den Hass auf Katalanen geschürt und jeden Dialog verweigert - und so wurde diese Situation provoziert. Ein vom katalanischen Parlament mit riesiger Mehrheit 2006 beschlossenes Autonomiestatut wurde im spanischen Parlament beschnitten. Auf Antrag von Rajoys Volkspartei (PP) wurden über das Verfassungsgericht weitere wichtige Teile herausgebrochen, die schon per Referendum beschlossen worden waren. Und in all den Jahren wurden soziale und ökonomische Rechte massiv beschnitten.
Der Referendumspakt hat dann eine Million Unterschriften gesammelt, um ein Referendum über die Unabhängigkeit vom Zentralstaat zu fordern, in dem die Frage und Bedingungen mit Madrid abgestimmt werden sollten, wie in Schottland und Quebec. Als Exekutivkomitee fuhren wir damit nach Madrid und wurden weder von der PP noch von den Sozialisten (PSOE) auch nur empfangen, den wichtigsten Akteuren im Staat. Und sie negieren weiter Realitäten. Sie sagen, wir seien eine Minderheit. Sie sagten auch, es würde kein Referendum geben, keine Stimmzettel, keine Urnen ... Obwohl alles getan wurde, es auch mit extremer Gewalt zu verhindern, haben aber 2,3 Millionen Menschen abgestimmt und mehr als 90 Prozent wollen die Unabhängigkeit.
Es geht jetzt nicht mehr um das Referendum, sondern um das Wie. Wie unter internationaler Vermittlung mit der Lage und der Unabhängigkeitserklärung umgegangen wird.
Wäre es möglich, sich nun auf ein Referendum zu einigen und erneut abzustimmen?
Carme Porta: Im Prinzip Nein! Doch wenn Spanien das in einem Dialog vorschlagen würde, dann kann man auch darüber reden.
Wie hat Madrid auf das Dialogangebot geantwortet?
Carme Porta: Sie haben erneut gezeigt, dass sie sich einen Dreck darum scheren. Das gilt für das Referendum, die Unabhängigkeitserklärung, den Dialog, die Versuche einer internationalen Vermittlung. Das ist eine verrückte Strategie. Rajoy hat ein Ultimatum gestellt und droht mit Artikel 155, also der Aussetzung der Autonomie, mit neuen Festnahmen und Anklagen wegen Aufruhr ... Sie versuchen Angst zu schüren, eine Konfrontation herbeizuführen. Firmen und Banken verlassen angeblich Katalonien, dabei wurde nur der Firmensitz auf dem Papier verlegt, keine Filiale oder Fabrik wurde geschlossen.

"Wir haben zuvor 18 Dialogangebote gemacht und unsere dauernde Verhandlungsbereitschaft gezeigt"

Ist die Strategie erfolgreich?
Carme Porta: Es gelingt ihnen in Spanien nicht, unsere Gesellschaft hier zu spalten. Es gibt keine Konfrontation, keine Probleme mit dem Zusammenleben. Vielleicht hat Katalonien nicht die großen Partner, die uns schon jetzt klar anerkennen würden, aber die gesamte Welt schaut auf uns. Spanien ist zunehmend isoliert und man fragt sich, ob sie hier einen zweiten Kosovo schaffen wollen.
Ich weiß nicht, ob Europa oder die Welt zu so etwas bereit wäre, mitten in der EU eine solche Situation zu wiederholen. Es ist auch klar, dass es hier keine Auseinandersetzung zwischen zwei Seiten gibt. Es gibt eine Seite, die stets einen Dialog anbietet, und eine andere, die nicht antwortet oder Nein sagt, sondern nur mit Aggressionen, Repression, Beschneidung von Rechten wie der Meinungsfreiheit kommt. Das ist seit vergangenem Mittwoch auch 1500 Journalisten aus 150 Ländern klar, als erneut das Angebot zum Dialog kam und als Antwort nur Forderungen nach verschärfter Repression.
Spanien beeinträchtigt hier das friedliche Zusammenleben mit aggressiv nationalistischen Mobilisierungen, bei denen Einwanderer und alle angegriffen werden, die anders sind oder sein wollen. Es wird mit Drohungen gearbeitet, mit Konfrontation, mit Ausschluss. Das hat man im Unabhängigkeitslager nicht, wo es um Integration und Einbindung geht. Wie sollte es auch anders sein? Wer hier hat keine familiären Verbindungen in Spanien.
War es also eine Taktik, angesichts der vorhersehbaren Reaktion aus Madrid auf die Erklärung der Unabhängigkeit, sie zunächst auszusetzen, um vor der Weltöffentlichkeit noch einmal klarzustellen, dass Spanien nicht bereit zu Gesprächen ist?
Carme Porta: Davon gehe ich aus. Wir haben zuvor 18 Dialogangebote gemacht und unsere dauernde Verhandlungsbereitschaft gezeigt. Klar sind wir für die Unabhängigkeit. Zwei Millionen Menschen haben am 1. Oktober trotz der Gewalt aus Spanien dafür gestimmt, dass die Unabhängigkeit verkündet wird und das Übergangsgesetz in Kraft tritt. Jetzt wurde die Unabhängigkeit zwar erklärt, aber sofort wieder temporär ausgesetzt. Dahinter verbirgt sich das Projekt, weitere Menschen und einen Sektor dieser Gesellschaft in den Prozess einzubinden. In diesem Sektor gibt es ja viele Menschen, die nicht gegen die Unabhängigkeit sind. Sie haben oft aber Angst vor einer Konfrontation, da sie ja nur zu gut wissen, wie Spanien reagiert. Mit unserem Vorgehen wurde ihnen die Hand noch weiter entgegengestreckt und dem Dialog eine letzte Chance gegeben.
Und dabei muss man auch eines bedenken. Es scheint, dass es den beiden großen spanischen Parteien unmöglich ist, mit einer gewählten katalanischen Regierung zu verhandeln. Doch sowohl die PP und die PSOE haben beide an der Regierung mit einer bewaffneten Organisation wie der baskischen ETA verhandelt. Der einstige PP-Ministerpräsident José María Aznar erkannte sie politisch sogar als "Nationale Befreiungsbewegung" an. Die breite soziale Bewegung von unten, die diesen Prozess hier vorantreibt, wird aber nicht anerkannt.

"Lasst uns doch so sein, wie wir es wollen"

Wie erklären Sie Menschen im deutschsprachigen Raum, dass man hier im 21. Jahrhundert eine eigene Nation mit einem eigenen Staat fordert?
Carme Porta: Das ist der Wille einer breiten Bevölkerung. Ich würde die Frage umdrehen und fragen: Wie kann es sein, dass in einem demokratischen Europa im 21. Jahrhundert der demokratisch formulierte Wille einer Mehrheit der Katalanen nicht respektiert wird? Es geht darum, die Welt zu verändern, sie von der Basis und dem Willen der Bevölkerung aus von unten zu gestalten. Es sind die alten Strukturen, die das verhindern. Es sind Strukturen, die auf der Ausbeutung von Mensch und Natur basieren. Wir befinden uns in einer Konsumgesellschaft, die sogar ungesund ist für die eigene Bevölkerung.
Seit einiger Zeit wird auch immer klarer, dass diese Gesellschaft für die breite Masse immer weniger zu bieten hat. In der Krise wurde die einstige Mittelklasse geschleift und wir nähern uns dabei einer Situation in Lateinamerika an, wo das weitgehend schon geschehen ist. Es müssen Veränderungen her, es müssen neue Strukturen geschaffen werden. In Spanien ist das unmöglich.
Dort fehlt vor allem Respekt vor denen, die anders sein wollen. Wir haben eine ganz andere Landverteilung, ein anderes bürgerliches Recht, eine andere Sprache, eine andere Kultur, andere Werte ... Lasst uns doch so sein, wie wir es wollen. Doch das kann Spanien nicht. Es geht aber nicht darum, einen Staat mit neuen Grenzen zu schaffen, wie man es aus dem 19 Jahrhundert kennt, hinter denen jeweils eine Bourgeoisie stand. Es geht um einen Prozess, hinter dem die breite Bevölkerung steht. Wir Katalanen fordern unsere Rechte ein. Wir wollen sein, wie wir es wollen. Und das wollen wir in einem konstituierenden Prozess jetzt definieren. Es gibt viele Vorschläge und darüber wollen wir frei sprechen und entscheiden.
Vielleicht müssten Sie einmal erklären, was Sie genau meinen, wenn Sie von Katalanen sprechen. Wer ist das? Gehe ich zum Beispiel durch den Stadtteil Raval, sehe ich da viele Menschen, die aus der ganzen Welt nach Barcelona gekommen sind.
Carme Porta: Natürlich sprechen wir nicht von einer Ethnie, Blut und Boden. Es geht nicht um ein Volk in einer Form, wie das vielleicht in Deutschland gesehen wird. Das gibt das hier nicht. Klar ist die katalanische Sprache ein einender und identitätsstiftender Faktor. Doch hier gibt es auch viele, die für die Unabhängigkeit eintreten, die kein Katalanisch sprechen. Katalonien ist geprägt von einer langen Zeit der Durchmischung, der Einwanderung und Auswanderung. Es gibt nur sehr wenige, die einen katalanischen Stammbaum haben.
Der Vorgang geht weit zurück in die Zeit, als hier die Mauren waren, davor die Westgoten oder die Römer. Wir sind eine Gemeinschaft, eine sehr vielfältige. Und wie man sehen kann, haben wir hier Leute aus allen Ländern, die für die katalanische Unabhängigkeit eintreten. Man könnte sagen, wir sind ein Volk aller Hautfarben und aller Länder. Hier werden 300 Sprachen gesprochen.
Das heißt natürlich auch nicht, dass es hier keinen Rassismus gäbe, dass auch hier die Migration beschränkt wird, weil die Grenzen durch Europa geschlossen sind, wir uns im Schengen-Raum befinden ... Wir sind auch nicht perfekt, alles andere als das, sondern haben auch viele Widersprüche. Aber was wir auch wollen, das ist, dass viele unserer Mitbürger, die bisher auch von Wahlen ausgeschlossen sind, sich hier gleichberechtigt beteiligen können. Sie sollen die katalanische Staatsbürgerschaft erhalten, jeder, der das will. Es geht uns darum, etwas ganz anderes aufzubauen als das, was wir bisher kennen. Und es ist diese Vielfalt, die uns siegen lässt, die dafür sorgt, dass wir das Referendum durchführen und klar gewinnen konnten.
Wie interpretieren Sie es, dass so wenige Menschen gegen den Unabhängigkeitsprozess auf die Straße gehen? Am 12. Oktober, als nicht erneut aus ganz Spanien die Menschen herbeikamen und herangeschafft wurden, waren es vielleicht nicht einmal 50.000 und das einen Tag nachdem die Unabhängigkeit verkündet wurde.
Carme Porta: Der spanische Staat versucht es mit seinen aggressiven nationalistischen Mobilisierungen, bei denen dann auch Einwanderer und die angegriffen werden, die anders sind oder sein wollen. Es wird mit Drohungen gearbeitet, mit Konfrontation, mit Ausschluss. Das zieht nicht, schreckt vielmehr ab.
Genau das hat man im Unabhängigkeitslager nicht, wo es um Integration und Einbindung geht. Wie auch? Wie sollten wir uns auch aggressiv gegen die spanische Bevölkerung wenden? Wer hier hat keine Wurzeln woanders und familiäre Verbindungen in Spanien. Meine Eltern sind zum Beispiel aus Aragon nach Katalonien gekommen. Auch für sie ist Katalonien ihre Heimat. Klar haben sie Familie und Freunde in Aragon, doch auch sie wollen, dass Katalonien vorankommt wie die große Mehrheit der Menschen hier. Es ist das Land, das uns aufgenommen hat, das den Kindern und Enkeln eine Ausbildung gegeben hat.
Ums Geld geht es nur zweitrangig. Es geht nicht darum, dass Katalonien viel Geld an den spanischen Staat bezahlt, die Leute sind sehr solidarisch hier. Was hier aber auch meine Eltern empört, ist, dass man sich sogar dann auch noch im Dorf dafür anfeinden lassen muss, obwohl man das tut.
Wer ist es, der in Spanien uns angreift und wer ist es, der uns dort verteidigt? Es ist die Bourgeoisie, die in Spanien keine Landreform und andere Reformen durchführt. Hass wird gegen uns geschürt, um die Korruption, die Reformunfähigkeit zu verdecken. Und auch hier ist es die katalanische Oligarchie, die sich gegen Veränderungen stemmt. Deshalb droht sie, den Sitz der großen Banken und Firmen nach Spanien zu verlegen. Dem internationalen Kapital ist das mehr oder weniger egal. Dort weiß man, dass sie hier produktive Strukturen haben und es einen Markt gibt und sie investieren weiter stark in Katalonien. Einige reiben sich vermutlich sogar schon die Hände, dass ihnen da ein Raum überlassen wird.
Es sind aber Landarbeitergewerkschaften wie in Andalusien oder der Extremadura, die den katalanischen Prozess verteidigen und solidarisch sind. Sie hoffen darauf, dass die Strukturen im Staat endlich aufgebrochen werden. Klar ist auch, dass das ständige Nein, Nein, Nein aus Spanien nicht integriert und vereint. Es ist so, dass damit hier immer neue Unabhängigkeitsbefürworter geschaffen werden. Der alte Spruch, lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach, hat in Katalonien aufgehört zu funktionieren. Die Leute haben die Nase voll und streben nun nach der Taube.
Was passiert jetzt? Die linksradikale CUP und andere fordern von Puigdemont, die Aussetzung aufzuheben und das Übergangsgesetz umzusetzen.
Carme Porta: Ich denke, das wäre das Richtige. Es ist klargestellt, dass es hier keine zwei Kriegsparteien gibt, die aus ethnischen, religiösen oder welchen Gründen auch immer in einer Konfrontation stehen. Es gibt eine vielfältige, friedliche und demokratische Mehrheit, die gehen will. Wir wenden uns schlicht gegen Faschisten, die zeigen, dass sie sich in all den Jahren seit der Diktatur nicht verändert haben. Wir haben es längst auch nicht mehr mit einem internen Konflikt zu tun, sondern einem europäischen, wo es um Grundrechte geht. Entsprechend müsste gehandelt werden. Rajoy müsste dazu gebracht werden, die Unabhängigkeit anzuerkennen oder zu verhandeln.
Sie sehen sich bald in einem souveränen Katalonien?
Carme Porta: Ja, klar. Vor 20 oder 30 Jahren, als wir eine Minderheit waren, hätte ich gesagt: unmöglich. Das wird natürlich nicht in zwei Wochen sein, es wird eine Übergangsphase geben, in der wir in einem Prozess das aufbauen, was wir wollen. Ich würde mir wünschen, dass das in Übereinkunft mit dem spanischen Staat geschieht, in Frieden, ohne die Konfrontation, die einige Teile dort wollen.

"Den Prozess der Unabhängigkeit haben zivilgesellschaftliche Organisationen mit Frauen an der Spitze vorangetrieben"

Wie erklären Sie sich, dass alle Sektoren, auch die radikalsten Teile, klar auf einen friedlichen Weg setzen? Man lässt sich verprügeln, wehrt sich nicht einmal.
Carme Porta: Wir stehen für Dialog und sind aus tiefer Überzeugung friedlich. Was wir zeigen und zeigen wollen, ist, dass es einen festen Willen der Bevölkerung gibt. Und die will keinen Krieg, sondern die Unabhängigkeit. Wir wollen schaffen, aufbauen, nicht zerstören. Das macht uns stark. Niemand will eine Konfrontation mit den Menschen in Spanien. Dahinter steht aber auch keine Strategie, sondern das kommt ganz natürlich aus unserem Sein. Daraus hat sich diese Bewegung entwickelt. Ich glaube nicht, dass hier jemand eine gewalttätige Konfrontation im Sinn hat. Aber wir wollen unsere Rechte und unser Land aufbauen, um so zu sein, wie wir sein wollen, weil uns das stets verwehrt wird.
Welche Rolle spielen die Frauen wie Sie in dieser Bewegung? Von der Tatsache, dass Sie 1999 die erste Parlamentarierin der ERC waren, bis dahin, dass danach viele Frauen wie Muriel Casals, Carme Forcadell, die Frauen der ERC wie Sie oder Marta Rovira, Anna Gabriel, Eulàlia Reguant, Gabriela Serra von der CUP an ganz entscheidenden Stellen den Prozess mitbestimmen, wurden gigantische Schritte gegangen. Haben wir es mit einer feministischen Revolution zu tun, die sich auch in anderen den Kampfformen äußert als zum Beispiel lange Jahre im Baskenland?
Carme Porta: Ja, das ist ein feministischer Prozess, weil er sich aus der Basis der Frauen speist. Es ist kein Prozess von oben nach unten, sondern von unten nach oben. Es waren nicht die Parteien, die den Prozess vorangetrieben haben, sondern zivilgesellschaftliche Organisationen mit Frauen an der Spitze. Es ist ein Prozess, der am Alltag und den Alltagsproblemen orientiert ist. Und der Alltag ist weiblich. Man pflegt, betreut, behütet. Es ist eine familiäre und festliche Bewegung, ohne Konfrontation. Es wurde aufgebrochen, dass normalerweise viele Frauen an der Basis in Organisationen arbeiten, doch der Präsident ist dann doch oft ein Mann.
Aber, das müssen wir auch feststellen, in den letzten Monaten ist die Führung wieder stärker in die Hände der Männer gelangt, weil sich der Prozess zuletzt verstärkt in die Institutionen verschoben hat, wo Männer weiter stärker den Ton angeben. Aber im konstituierenden Prozess werden wir unsere Positionen einfordern, wir bilden schließlich auch eine Mehrheit. Und wir wollen ein Land, in dem endlich Frauen gleichgestellt sind. Die Ungleichheit muss weg. Und in dem Maße, in dem wir Frauen uns in den Prozess eingebracht haben, hat sich unsere Situation schon verbessert. Das hat insgesamt befördert, dass sich immer mehr Menschen beteiligt haben.
Wurden die gewalttätigen Erfahrungen im Baskenland analysiert, um zu diesem Weg zu gelangen?
Carme Porta: Es sind zwei sehr unterschiedliche Prozesse. Keine Frage ist, dass uns die Vorgänge im Baskenland auch geholfen haben. Es war immer eine Referenz für die katalanische Unabhängigkeitsbewegung. Aber auch die Bewegung im Baskenland war nicht nur ETA und der bewaffnete Kampf, auch wenn darauf gerne reduziert wird.
Ich glaube heute, dass wir nun eine Referenz für viele Basken sind. Es gab hier praktisch nie Vorstellungen, die es ja auch in Deutschland, Italien oder Frankreich gab, dass der bewaffnete Kampf eine Lösung sein könnte. Auch im Baskenland sieht man, dass nach dem Ende und der Entwaffnung der ETA - ein Erfolg der Zivilgesellschaft gegen den Staat - auch dort der Prozess stärker wird, mehr Zulauf erhält. Die beiden Prozesse haben stets parallel zueinander stattgefunden, man hat sich gegenseitig beobachtet, aber sie waren völlig verschieden.
Wir ähneln hier vielleicht eher den indigenen Bewegungen in Lateinamerika, die, wenn sie sich an bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligt haben, eigentlich immer verloren haben, wenngleich sie als zivilgesellschaftliche Bewegungen viel erreichen konnten. Klar, der Kontext ist sehr verschieden.