"Es ist toll": Literarische Ansichten zum Grundgesetz über den Dächern von Berlin

Eine Schriftstellerin gab zu, es zum ersten Mal gelesen zu haben - und war begeistert. Foto: InstagramFOTOGRAFIN auf Pixabay (Public Domain)

Bekannte Autorinnen und Autoren ohne juristischen Hintergrund nahmen sich für einen Sammelband Artikel des Grundgesetzes vor.

Einen mehrteiligen literarischen Kommentar zum Grundgesetz hat vor wenigen Wochen der Verlag C. H. Beck herausgebracht: 40 Schriftsteller, Journalisten und Juristen kommentieren in diesem Buch mehrere Artikel. Am Montagabend wurde "Das Grundgesetz. Ein literarischer Kommentar" in der Dachlounge des rbb Fernsehzentrums Berlin in einer Diskussionsrunde vorgestellt.

Traumhafter Rundumblick aus dem 14. Stock – und es gab sogar Menschen, die sich Angebote aus der Speisekarte leisten konnten. Natascha Freundel von rbbKultur diskutierte mit Herausgeber Georg M. Oswald und seinen Mitautorinnen Sibylle Lewitscharoff, Eva Menasse und Ronen Steinke.

Von Oswald stammt das Vorwort: "Ein großes Versprechen", Menasse schrieb im Kapitel "Dissidenten der Digitalmoderne" über Artikel 10, der dem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis Verfassungsrang gibt: Lewitscharoff in "Ein alter Traum" über den Artikel. 11 – Freizügigkeit – und Ronen Steinke in "Der Club der Deutschen" über Artikel 16, Schutz vor Ausbürgerung und Auslieferung.

Literaten kommentieren das Grundgesetz – sicherlich eine gute Idee. An diesem Buch sollten Menschen beteiligt werden, die eben nicht an der Universität Jura studiert haben, die nicht gelernt hätten, diese sehr spezielle Sprache zu entschlüsseln, sagt Oswald, diese Sprache, die ja eine Distanz schaffe zwischen denen, die dieses Herrschaftswissen besäßen und den Regierten.

Offensichtlich mit Erfolg auf mehreren Ebenen: Manch ein Literat scheint von der eigenen Arbeit selber profitiert zu haben. Während nämlich Georg M. Oswald und Ronen Steinke gleichzeitig Juristen sind, bekannte Sibylle Lewitscharoff, "ich las das Grundgesetz zum ersten Mal und war überrascht, wie gut es ist." Es sei präzise in den Einzelheiten, "es ist toll".

Eva Menasse dagegen gab zu, dass sie Angst vor Gesetzestexten habe, sogar ihre Buchverträge müsse ihr Agent lesen. Aber sie sei ja auch erst seit einem Jahr Deutsche. – Und "ihren" Artikel habe sie sehr gern gelesen.

Artikel 10: Auch Social-Media-Kompetenz will gelernt sein

Wobei Eva Menasse diesen Artikel mit einer "Chaiselongue mit Blümchenmuster" verglich: Briefgeheimnis! Wer schreibe denn heutzutage noch Briefe! Sie verwies auf den Film "Das Leben der Anderen", in dem eben auch Spitzelmethoden des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit, kurz "Stasi", gezeigt wurden, wie etwa Briefe über Wasserdampf zu öffnen.

Eine gewissermaßen veraltete Technik – Jugendlichen müsse man das Vorgehen extra erklären! In ihrem Beitrag verweist sie denn auch auf die Weiten des Internets – und meint: "Während wir politisch unbedingt Sorge dafür tragen müssen, dass uns weder staatliche Institutionen noch Kapitalismusriesen wie Google oder Facebook ausspähen oder mit unseren Daten Geschäfte treiben, müssen wir unser eigenes Verhalten im Netz einer mindestens ebenso kritischen Revision unterziehen. Diskretion auch im Netz gehört endlich gelernt."

Das "gute alte Briefgeheimnis in der digitalen Welt [wurde] längst weitgehend außer Kraft gesetzt". Sie schließt: "Wer ausschließen will, gehackt oder belauscht zu werden, muss sich hinsetzen und einen analogen Brief schreiben. Briefschreiber sind die Dissidenten der Digitalmoderne."

Artikel 16: Wie und wann werden aus Geflüchteten Deutsche?

Sibylle Lewitscharoff berichtete auch über ihre eigenen Erfahrungen und die ihrer Familie mit der Freizügigkeit: Deutsche Staatsbürger können ihre Wohn- und Aufenthaltsorte frei wechseln. In ihrer Familie war das nicht so einfach: Der Mann, der späte ihr Vater werden sollte, kam aus Bulgarien und studierte ab 1936 in Wien und Tübingen Medizin.

Dabei hasste er Hitler und Stalin gleichermaßen. In Tübingen lernte er seine spätere Frau kennen, ging aber nach Kriegsende zurück nach Sofia, um nach seiner Familie zu sehen, seine Tante dort hatte einem jungen deutschen Soldaten geholfen und wurde verraten. Sie kam ins Gefängnis, und der Vater gleich mit.

Er floh und schaffte es nach Stuttgart. Aber er durfte nicht nach Bulgarien zurück und die gesamte Familie wurde zu staatenlosen Ausländern erklärt, sogar die Mutter, eine "Erzschwäbin", verlor ihre Staatsbürgerschaft. Lewitscharoff erzählte, wie er Vater darunter litt, dass er in seiner Freiheit eingeengt war, nicht nach Bulgarien zurückkonnte: "Er wusste, dass seine Familie dort verarmte, das lastete schwer auf ihm." Immerhin, einen Vorteil hatte das Ganze, Lewitscharoffs Bruder musste nicht zum Militär. Als er dann alt genug war, wurde die Familie deutsch, und das kostete Geld.

Tja, wer ist – oder wird – eigentlich Deutscher? Wer wird ausgebürgert, er wird ausgeliefert? Darüber schrieb und sprach Ronen Steinke, "Deutschland definiert das Deutschtum anders als Frankreich das Franzosentum", sagte er. Deutschland schaue traditionell auf Stammbäume, erst "in den letzten 30 Jahren hat es sich endlich geöffnet für andere Möglichkeiten der Zugehörigkeit.

In Deutschland herrschte lange Zeit das jus sanguinis, in Frankreich dagegen das jus soli: Gesetz des Blutes gegen Gesetz des Bodens. Also bestimmt die Abstammung die Staatsangehörigkeit? Oder der Geburtsort?

In seinem Beitrag stellt Steinke einen Drogenhändler aus Nigeria, der sich die deutsche Staatsbürgerschaft erschlichen hatte und sie wieder verlor, Deutschen gegenüber: Deutschen, die als Mitglieder der SS in Italien Massaker verübt hatten, aber später in Italien nicht vor Gericht gebracht werden durften, und anderen Deutschen, Verantwortliche der einstigen deutschen Faschistenkolonie "Colonia Dignidad" in Chile, die nun unbehelligt in Deutschland leben.

Die Artrikel 1 bis 19 seien Abwehrrechte gegen den Staat, jedoch keine Teilhaberechte, die etwa ein Dach über dem Kopf, genug zu essen und Teilhabe am Gesundheitssystem garantierten. Für jemanden, der als reicher Mensch nach Deutschland komme, sei das nicht so wichtig, aber "sobald es einem schlecht geht, spürt man die Differenz", sagte Steinke.

Aber ist nicht der Schutz vor einem übergriffigen Staat ein extrem wichtiges Grundrecht? Flieht man nach Deutschland nur aus Hunger oder aus Angst vor Folter?

Artikel 1: Menschenwürde in Zeiten der Pandemie

Gegen Ende ging es nicht mehr nur um die Artikel und Beiträge. So sagte Eva Menasse, dass die Würde des Menschen für Ihr Verständnis im Grundgesetz noch über Freiheit und Sicherheit stehe, sie sei das Wichtigste, die Siegerin.

Ein Beispiel: Eigentlich dürfe niemand alleine sterben, so sei in der Pandemie die Menschenwürde verletzt worden. "Das haben wir in dieser extremen Lage gelernt. Ich finde wir haben in den letzten zwei Jahren mehr über Würde nachgedacht – und das hat uns auch gutgetan."

Und Sibylle Lewitscharoff bedachte den Schutz der Schwachen: man müsse auch bei Schwerverbrechern die Unversehrtheit wahren: "Ein erstaunliches humanes Streben, diese Sorge für Menschen, manchmal ärgert man sich, es sei zu gut, aber man kann einen Menschen, dem man wünscht, er wäre nie geboren, nicht töten. Das ist richtig."

Die gesamte Diskussion wird am morgigen 15. September 2022 ab 19 Uhr im Radio auf rbbKultur sowie im Podcast "Der Zweite Gedanke" zu hören sein. Die Veranstaltung fand in Kooperation von rbbKultur und dem Verlag C.H. Beck statt und wurde für das Programm von rbbKultur mitgeschnitten.