Eskalation und Lüge: Wie im Krieg die Wahrheit massakriert wird

Seite 3: "Hier haben sie die Wahrheit massakriert"

Was für Vietnam und den Irak zutrifft, gilt auch für den 2022 entstandenen Kriegsschauplatz Ukraine. Dieser erinnert an die Worte Wolfgang Borcherts: Die Straße stinkt nach Blut. Hier haben sie die Wahrheit massakriert.

Eine in Russland bereits ab Beginn der Invasion zu beobachtende Sonderdeformation stellte die Rückkehr zu strenger Zensur und Sprachregelung innerhalb des innerstaatlichen politischen Diskurses dar. Russischen Medien wurde u. a. vonseiten der staatlichen Medienaufsichtsbehörde untersagt, Wörter wie Krieg oder Invasion in deren Berichterstattung zu gebrauchen.

Der an die totalitären Zeiten der Sowjetunion erinnernde menschenverachtende und bagatellisierende Euphemismus "Spezialoperation", wird zwar aus russischer Sicht als Kritik an der bis dato mangelhaften ukrainischen Aufarbeitung der fatalen Kooperation ukrainischer Nationalisten mit der deutschen Wehrmacht, samt Beteiligung an Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs gelesen.

Dennoch rechtfertigt dieser Vorwurf ungenügender historischer Aufarbeitung in keinem denkbaren Fall Kriegshandlungen, die innerhalb des ersten halben Jahres bereits Zehntausende zivile und militärische Todesopfer forderten sowie sieben Millionen Flüchtlinge und an die sieben Millionen Binnenflüchtlinge nach sich zogen.

Für die meisten aller historischen und gegenwärtigen Formen der Invasionen und Angriffskriege gilt, was Jean Jaurès bereits in einer Parlamentsrede 1895 konstatierte:

Der Imperialismus trägt den Krieg in sich wie die ziehende Wolke den Gewittersturm.

Die brachiale Steuerung politischer Narrative mittels Desinformation und Sprachregelung diente von der Antike bis heute der Kriegspropaganda. Aus der Geschichte zahlloser Invasionen und Angriffskriege ist bekannt, dass Lügen, Täuschungen und gewaltsam in den politischen Diskurs gezwängte Narrative zwar kurzfristig wirken, jedoch über keine signifikante historische Haltbarkeit verfügen – ein nur im ersten Hinblick schwacher Trost.

Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler. Er ist Autor von Lüge, Hass, Krieg. Traktat zur Diskursgeschichte eines Paktes (2022), Verbalradikalismus (2. Aufl., 2021) und Minimale Moral (2016).