Esoterik: Symptom einer politischen Krise

Wie rechtsoffen sind Esoteriker? Wo sind die Verknüpfungen zwischen Esoterik und rechten Bewegungen? Die Bundeszentrale für politische Bildung tagte zum Spannungsfeld Politik und höheres Selbst.

Anfang dieser Woche (5. und 6. September 2022) hat die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) in Fulda eine zweitätige Fachtagung zum Verhältnis von Esoterik und Demokratie veranstaltet. Dies Verhältnis verdiene eine nähere Betrachtung, so die bpb.

Zwar richteten esoterische Alltagsphänomene wie die Lektüre von Horoskopen meist keinen unmittelbaren Schaden an, manche anderen Formen der Esoterik dagegen sehr wohl: Esoterische Vorstellungen nähmen in der Coronaleugner-Szene breiten Raum ein. Im Rechtsextremismus vermischten sich esoterische Weltbilder mit Reichsbürgerideologie, Antisemitismus und völkischen Überlegenheitsphantasien.

Und schließlich versuche esoterisch grundierte Wissenschaftsfeindlichkeit, politische Entscheidungen zu delegitimieren und bringe mitunter – wenn es etwa um Medizin gehe – Menschenleben in Gefahr. Also:"Esoterik kann in ein direktes Spannungsverhältnis mit der Demokratie treten."

Was ist eigentlich Esoterik?

Im alltäglichen Sprachgebrauch wird alles esoterisch genannt, was weder wissenschaftlich noch religiös ist. Oder so. Ja, und?

Prof. Dr. Wouter J. Hanegraaff (Universität Amsterdam) hat im Jahr 1995 seine Dissertation über die New-Age-Bewegung verteidigt und forscht seit den 1990er Jahren zu esoterischer Tradition, Modernisierungs- und Säkularisierungsprozessen. Für ihn bezeichnet der Begriff der "Esoterik" nichts Reales, sondern es ist ein Label.

Unsere Ideen seien Produkte einer besonderen historischen Entwicklung, und Esoterik könnten wir bloß verstehen, wenn wir sie in den größeren Kontext der westlichen Entwicklungsgeschichte stellen. Im Grunde sei Esoterik das zurückgewiesene Wissen in der westlichen Kultur und die populären Stereotypen von Esoterik seien in eurozentrischem Vorurteil begründet. Für diese Entwicklung führte Hanegraaff etwa Horkheimer und Adorno ("Okkultismus ist die Metaphysik der dummen Kerle") an.

Stattdessen müsse man das Phänomen genau untersuchen und zwar unter historischen und soziologischen Gesichtspunkten. Hanegraaff vertrat die These, dass Esoterik antidemokratische Ideen nicht verursache, sondern der Neoliberalismus der 1980er und 1990er Jahre eine Krise der Demokratie verursacht habe, und dass Esoterik ein Symptom dieser Krise sei. Esoterik stifte einen Sinn für benachteiligte Menschen.

Wer ist esoterisch?

Prof. Dr. Claudia Barth von der Hochschule Esslingen forscht seit den 1990er Jahren zur Kritik esoterischer Weltanschauung, zur Entstehung esoterischer Religiosität und zu sozialpsychologischen Aspekten esoterischer Selbst- und Weltdeutung. In den 2000er Jahren hat sie zahlreiche qualitative Interviews geführt.

In diesen Interviews habe sie festgestellt, dass "esoterisch" als Selbstbezeichnung abnehme, stattdessen würden sich ihre Gesprächspartner "spirituell" nennen. Und als Fremdbezeichnung würde der Begriff erodieren.

In der Literatur – sie bezog sich auf den Begründer der Esoterikforschung Antoine Faivre – finde man vier Kennzeichen für den Glauben von Esoterikern: Erstens wirke eine allumfassende Kraft im Kosmos, und zwar hauptsächlich über feinstoffliche Energien. Zweitens sei die Natur beseelt. Drittens sei die Erkenntnisgewinnung über die wahre Beschaffenheit des Seins nur durch meditative Schau und innere Einkehr möglich. Das vierte Kennzeichen sei die Erfahrung von Transmutation.

Und genau dieses sei immer der Subkontext bei ihrer, Barths, Arbeit mit Esoterikern gewesen. Diese hätten in den ersten ein, zwei Stunden über ihre Arbeit gesprochen, hätten sich von der Welt gequält gefühlt und suchten nach dem eigenen, höheren Selbst.

Während Religionen Geschichten erzählten, die heutzutage nicht mehr so richtig tragen, sei die Esoterik ein Bühnenstück für die Seele, die sich zu spiritueller Meisterschaft entwickle: Was jemandem widerfährt, sei für ihn genau das Richtige! Dies entlaste den Einzelnen, aber es degradiere ihn auch zu einem unmündigen Subjekt, außerdem falle die Gesellschaft dabei aus dem Fokus.

Etwa ein Viertel bis ein Drittel der Menschen neige zur Esoterik, zwei Drittel seien Frauen, Mittelschicht, 40 bis 50 Jahre, studiert und gut situiert. Sie blieben etwa zwei Jahre bei einem Kreis und wechselten dann die Spielart. Hochzeiten der Esoterik waren die 1920er und die Zeit seit den 1990ern – Zeiten mit hoher Arbeitslosigkeit, in der die Mittelschicht Angst vor sozialem Abstieg hatte.

Aber keine Angst vor den Esoterikern: Sehr viele von ihnen hätten sich in ihren Interviews vernünftig gezeigt und wollten weder Regierung noch System stürzen.

Wenn Esoterik politisch wird

Dr. theol. Matthias Pöhlmann, Kirchenrat und Landeskirchlicher Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern in München, hat das Buch Rechte Esoterik. Wenn sich alternatives Denken und Extremismus gefährlich vermischen geschrieben. Er betreibt Feldforschung und berät Betroffene und Angehörige.

Esoterik betrachtet er mit dem Religionswissenschaftler Bernhard Grom als einen hohen Erkenntnisanspruch, sie sei eine besondere oder höhere Erkenntnisform, die sich nur sensiblen Erleuchteten, spirituell Fortgeschrittenen oder Eingeweihten erschließe oder erschlossen habe. Pöhlmann stellte mit zahlreichen Beispielen die Welt der "spirituellen Überwisser" vor – die Esoterik zeige sich sensibel für individuelle und gesellschaftliche Krisenlagen.

So kam in der Diskussion um Ernährung plötzlich der Begriff der "Lichtnahrung" auf, als es um ADHS ging, um "Indigokinder". Pöhlmann unterschied System- und Konsumesoterik, erklärte rechte und rechtsoffene Esoterik und stellte zahlreiche Individuen und Gruppierungen im Bereich der Esoterik vor, etwa die Familienlandsitzbewegung Anastasia.

Esoterik und Religion – Zwei Seiten derselben Medaille?

Dr. Aaron French, Dozent im Fachbereich Religionswissenschaften an der Universität Erfurt, hat in seiner Dissertation an der University of California Rudolf Steiner und Max Weber verglichen – die beiden seien sich ähnlicher als gemeinhin angenommen, besonders im Bereich des Geistes und der Wissenschaft. In Fulda sprach French über Esoterik und Religion. Das schwierigste Problem der heutigen Religionswissenschaft sei die Frage, was Religion eigentlich ist.

Aber auch die Definition von Esoterik sei schwierig: Meist ein Oberbegriff für alles Mögliche – es gebe aber durchaus seriöse Auseinandersetzungen mit Esoterik in der Wissenschaft. So von Frances Amelia Yates, die Esoterik als Phänomene ihrer Zeit nenne, so etwa habe sich Giordano Bruno mit Astrologie beschäftigt.

Auch Mircea Eliade habe Esoterik ernst genommen und verschiedene Religionen verglichen. Antoine Faivre habe Esoterik als Philosophie betrachtet und James George Frazer habe ein Drei-Stufen-Modell in der Entwicklung der menschlichen Kulturen gesehen, von der Magie über die Religion zur Wissenschaft, wobei Magie und Wissenschaft mehr Ähnlichkeit untereinander hätten als mit der Religion.

Konspiritualität: Esoterik und Verschwörungsideologien

Jan Rathje ist Mitbegründer und Senior Researcher bei CeMAS (Center für Monitoring, Analyse und Strategie) in Berlin. Er sprach am zweiten Tagungstag aus der Perspektive der Politikwissenschaft und der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus.

Beispielhaft zeigte er, wie jemand in diese Richtung geraten könnte, nämlich vom unauffälligen Instagram-Account eines scheinbar harmlosen Aktivisten über dessen Online-Kontakte über weitere Accounts bei Instagram und Youtube aus dem Bereich der esoterischen oder rechten Szene.

Bei dem einen erscheine vielleicht eine Reichsflagge, beim nächsten der Hinweis auf ein Szenekonzert und beim dritten Kontakte in die dezidiert rechte Szene oder zu Coronaleugnern, Querdenkern oder Reichsbürgern.

Rathje beschrieb und definierte Esoterik nach Charlotte Ward und David Voas als "politisch-spirituelle Philosophie mit zwei Grundüberzeugungen", nämlich erstens, dass eine geheime Gruppe im Verborgenen die politische und soziale Ordnung kontrolliere oder es zumindest versuche, und zweitens, dass die Menschheit derzeit einen Paradigmenwechsel im Bewusstsein durchlaufe.

Die Lösungen für das erste Problem, die Verschwörung, liege darin, "im Einklang mit einer erwachten 'neuen paradigmatischen' Weltsicht zu handeln." Auch Rathje sprach über stigmatisierte Wissensquellen – und zwar werde eben gerade das Faktum ihrer Unterdrückung als Garant für ihre Wahrheit betrachtet.

Esoterikmonitoring und die Auseinandersetzung mit Esoterik in Deutschland

Dr. Kai Funkschmidt ist wissenschaftlicher Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin. Auch er gab eine beschreibende Definition von Esoterik. Besonders interessant waren seine Ausführungen über Esoterik in der Kirche, Bildungsangebote in den Gemeinden, Tagungshäusern, Akademien und Klöstern und unter Hauptamtlichen.

So bezeichnete sich eine Pfarrerin als Hexe und Schamanin und trat auch als solche öffentlich auf. Aber auch der Staat fördere Esoterisches wie etwa Waldorfschulen, Alternativmedizin oder Alternativwissenschaft, so habe die Universität Viadrina einen Masterstudiengang "Komplementäre Medizin" veranstaltet mit Lehrveranstaltungen wie "Diverse energiemedizinische Testverfahren" oder "Bewußtseinsmedizin".

Im Gegensatz zu etwa Wouter Hanegraaff sieht Funkschmidt die Betrachtung von Esoterik als zurückgewiesenes Wissen als "Totalrelativismus" und "Erfahrungsfundamentalismus".

Zwar seien auch christliche Glaubenssätze wie die Auferstehung Christi nicht naturwissenschaftlich beweisbar, aber die Theologie versuche auch gar nicht, solches zu beweisen: Sie erkenne es als kategorial andere Aussagen an. Auch wenn Funkschmidt eine Landeskirche anführte, die in Einwanderergemeinden mit Geistheilungen und Exorzismen konfrontiert sei.

Christoph Grotepass vom Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. sprach vor allem über die Erfahrungen seines Vereins bei der Information und Beratung zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen.

Drei destruktiven Merkmalen begegne man besonders häufig: Erstens eine überwertige Idee oder göttliche Autorität, zweitens ein Schwarz-Weiß-Denken, drittens ein strikt zu befolgender Rettungsplan.

Mancher Glaube schade den Anhängern, man beobachte in der Beratung Beziehungskonflikte, berufliche Konflikte – die finanzielle Verluste nach sich zögen – gesundheitliche Probleme, wenn die Psyche leidet oder medizinische Behandlungen verweigert werden.

Die Anzahl an Informationsanfragen und Beratungsfällen zum Thema Verschwörungstheorien habe mit der Pandemie sprunghaft zugenommen. Und anders als früher, als sich vor allem Eltern Sorgen um ihre jugendlichen Kinder machten, die in die Fänge von Sekten gerieten, wenden sich inzwischen auch viele Menschen an die Beratungsstelle, die sich Sorgen um ihre Eltern machen.

Den Abschluss der Tagung bildete eine Podiumsdiskussion, in der die interessanteste Frage aber nicht von den Diskutanten, sondern von der Moderatorin Gilda Sahebi kam. Sie berichtete aus ihrer eigenen Erfahrung: Sie war einmal schwer krank gewesen, und sie ist Ärztin.

Ihre Frage betraf das Gesundheitssystem: Das Faktum von Placeboeffekten sei nachgewiesen – aber hat das System einen Raum dafür, oder wird diese Erfahrung verachtet?