Ethnologe unter Kannibalen

Mike Hodges ist nicht nur der unterschätzteste Filmregisseur Großbritanniens, sondern auch einer der besten in Europa. Und: Trotz seiner 75 Jahre ist er immer noch aktiv. Eine Würdigung.

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Dieser Sommer war kein guter für das europäische Kino. Am 30. Juli starben Ingmar Bergman und Michelangelo Antonioni. Den großen Zeitungen war das ausführliche Nachrufe wert. Kaum beachtet wurde dagegen von den in Jubiläen verliebten Feuilletons, dass ein anderer der großen alten Männer des europäischen Films einen Tag zuvor seinen 75. Geburtstag feiern konnte. Das ist schade, denn so wurde die Gelegenheit verpasst, auf einen Meister seiner Kunst aufmerksam zu machen. Auf einen, der sträflich unterschätzt oder schlicht vergessen wird, weil er Filme dreht, die über geringe Werbeetats verfügen, die zu subversiv und kompromisslos für unsere schöne neue, multiplex-gestützte Kinowelt sind. Wenn man sich aber die Frage stellt, ob der europäische Film seine Zukunft wirklich in oscar-kompatiblen (also: glatt gebügelten) Afrika- und Stasi-Schmonzetten suchen sollte, dann führt an ihm kein Weg vorbei. Denn Mike Hodges zeigt, dass es auch anders geht.

„Death is the only ending I can absolutely guarantee”

(Mike Hodges)

Von der Buchhaltung zum Gangsterfilm

Hodges war seiner Zeit schon immer ein Stück voraus. Get Carter (1971), sein erster Kinofilm, ist für ihn das, was Citizen Kane für Orson Welles war. Lange nicht ernst genommen, gilt Carter inzwischen als der beste britische Gangsterfilm aller Zeiten; bei einer Umfrage des British Film Institute schaffte er es unter die 20 besten britischen Filme überhaupt. Daran gemessen, verlief Hodges’ weitere Karriere eher enttäuschend. Neben seiner Fernseharbeit brachte er es in gut 35 Jahren auf neun Spielfilme (oft nach eigenen Drehbüchern), dazwischen lagen immer wieder Durststrecken und gescheiterte Projekte. Zum Glück jedoch gibt es noch andere Kriterien für die Beurteilung einer Karriere als den von Personalchefs so geschätzten, lückenlosen Lebenslauf. Schließlich war es kein Geringerer als Samuel Beckett, der ein Lebensmotto formulierte, das auch für Mike Hodges gelten könnte: „Fail again. Fail better.“

Get Carter (1971)

Mike Hodges, geboren am 29. Juli 1932 in Bristol, wurde mit sieben Jahren von seinen Eltern auf das Internat eines katholischen Ordens geschickt, der sich später, als Resultat einer langen Reihe von Pädophilie-Skandalen, auflöste. Nach der Schule ließ er sich zum Buchhalter ausbilden, und mit 22 wurde er zur Marine eingezogen. Er diente auf einem zum Schutz der Fischereiflotte eingesetzten Minensucher, der mit seinen verschiedenen Decks ein getreues Abbild der britischen Klassengesellschaft bot. In den Fischereihäfen lernte Hodges eine Armut kennen, die er nicht für möglich gehalten hätte. Er ging, wie er selbst sagt, als Konservativer auf das Schiff und kam nach zwei Jahren als Sozialist wieder herunter. Danach bediente er beim Fernsehen den Teleprompter. Seine erste Regiearbeit, der sehr komische Dokumentarfilm The British Way of Death (1963), bietet Einblicke in unseren Umgang mit dem – soziale Unterschiede mitnichten einebnenden - Tod, die auch sein weiteres Werk beeinflusst haben; am deutlichsten ist das in A Prayer for the Dying (1987) zu sehen, wo der Chef der Londoner Unterwelt im bürgerlichen Beruf ein Bestattungsinstitut leitet.

Hodges drehte Reportagen über Vietnam, Barry Goldwater und verprügelte Gewerkschaftler (oder, kurz gesagt, das Ende des amerikanischen Traums), portraitierte Robbe-Grillet, Jacques Tati, Godard und Orson Welles. In Suspect (1969), seinem ersten Fernsehkrimi, sind physische (ein Kind wird ermordet) und psychische Gewalt (ein Mann verlässt seine Frau) so geschickt miteinander verschränkt, dass selbst Chabrol es nicht besser hinbekommen hätte. Auch Rumour (1969) ist von der Nouvelle Vague beeinflusst. Hodges befreit sich von den Zwängen des linearen Erzählens und durchzieht den Film mit Bildern vom Blackwater Tunnel in London, die die Höllenfahrt seines Helden (ein Klatschreporter wird in eine politische Intrige verwickelt) vorweg nehmen. Von Anfang an werden bei Hodges, der Atmosphäre schafft wie kaum ein anderer Regisseur, die Schauplätze zu Charakteren, die die Handlung mitbestimmen.

Dekonstruktion etablierter Filmgenres

Get Carter (ein Londoner Gangster fährt zurück in seine Heimatstadt, um den Tod seines Bruders zu rächen) ist zum großen Teil an Originalschauplätzen in der Hafenstadt Newcastle gedreht, in der damals die terrassenförmig angelegten Arbeiterhäuser durch moderne Wohnsilos ersetzt wurden. Solche Eingriffe, die nichts an der durch soziale Ungleichheit geprägten Struktur einer Stadt ändern, für die Identität ihrer Bewohner aber verheerende Folgen haben: das ist ein Thema, das Hodges bis heute interessiert. Die Stadtplaner, sagt Jason Robards in Black Rainbow (1990), nehmen eine Lobotomie an der Bevölkerung vor. Sie fressen unsere Vergangenheit auf wie die Heuschrecken. In diesem Film, einem von Hodges’ besten (Tote nehmen Kontakt mit einem Medium auf, bevor sie gestorben sind), geht es um die Zerstörung unseres Planeten und unserer Erinnerung, um religiösen Fundamentalismus und die Regulierungsfunktion der Zeit. All das ist mit bewundernswerter Leichtigkeit miteinander verknüpft.

Hodges arbeitet meistens in etablierten Filmgenres, aber nur, um diese Genres stilistisch wie thematisch auseinander zu nehmen und neu zusammen zu setzen. Get Carter lässt sich ebenso gewinnbringend mit der jakobäischen Rachetragödie vergleichen wie mit dem Western, ist eine Sozialreportage in der Tradition von George Orwells The Road to Wigan Pier oder Let Us Now Praise Famous Men von James Agee und Walker Evans, kommt aber im Gewand eines Samurai-Films daher. Bei Hodges’ Form des poetischen Realismus gibt es keine Sozialromantik, er ist weder mitleidig noch sentimental, und er legt die Verflechtungen zwischen Stadtentwicklung, Politik und organisierter Kriminalität offen. „Sobald ich mich entschlossen hatte, Carter zu drehen“, sagt er, „musste ich es mit derselben Unbarmherzigkeit machen, mit der ein Chirurg einen Krebspatienten aufschneidet.“ Er fand dabei Pornographie auf allen Ebenen. In den frühen 70ern, als man im Vereinigten Königreich noch ein stark geschöntes Bild vom eigenen Land pflegte, brachte ihm das viel Kritik ein. Die Filme des Mike Hodges sind, wie gesagt, ihrer Zeit voraus. Deshalb lohnt auch ein Wiedersehen mit Pulp (1972), einer schwarzen Komödie (der Verfasser von Schundromanen soll die Autobiographie eines ausrangierten Gangster-Darstellers schreiben) über den Wiederaufstieg rechtspopulistischer Parteien in Europa, unter gütiger Mitwirkung der CIA.

Damien: Omen II (1978)

Hollywood – nein danke

Hodges’ Filme handeln immer von Ausbeutung und Manipulation, wollen aber selbst nicht manipulieren. Hollywoods liebstem Instrument zur Lenkung des Publikums, der Identifizierung mit dem Helden, verweigern sie sich konsequent. Das hat ihm dort nicht viele Freunde eingebracht. The Terminal Man (1974), ein Science-Fiction-Film über Kontrolle und urbane Einsamkeit (dem Protagonisten wird zur Beherrschung seiner gewalttätigen Impulse ein Mikrocomputer implantiert) gehört zu den wichtigsten US-Filmen der 70er Jahre, wurde aber – wie Black Rainbow – so schlecht verliehen, dass er bald in der Versenkung verschwand (wer ihn trotzdem gesehen hat weiß übrigens, warum Hannibal Lecter in The Silence of the Lambs die Goldberg-Variationen hört). Damien: Omen II (1978) erwies sich als ein großes Missverständnis. Hodges fand den Sohn des Teufels viel weniger unheimlich als den multinationalen Konzern, der versucht, durch die Einführung gentechnisch veränderter Pflanzen den Markt für Nahrungsmittel unter seine Kontrolle zu bringen. Nach drei Wochen wurde er abgelöst (durch die Vielschichtigkeit seiner Bilder erkennt man sofort, was er inszeniert hat: vor allem die Szenen in der Militärakademie und in der Firma). Flash Gordon (1980) wurde ein großer Publikumserfolg und erregte das Missfallen der Kritiker, weil er sich stilistisch an der Comic-Vorlage orientiert, was damals neu war. Für Unmut sorgte außerdem, dass – anhand von Ming the Merciless – vorgeführt wird, wie Amerika sich ständig neue Bösewichter erfindet, die es bekämpfen kann. A Prayer for the Dying wurde von den US-Produzenten umgeschnitten und mit einer dröhnenden, pseudo-irischen Musik zugedonnert. Letzteres ist besonders schmerzlich, weil Hodges’ Filme von der Liebe zum Detail leben, auch zum akustischen. Er braucht keine Stimmungsmusik, um Wirkung zu erzielen.

I’ll Sleep When I’m Dead (2003)

Meisterwerke des Minimalismus

Mike Hodges, hat ein Kritiker gesagt, beobachtet mit der kühlen Distanziertheit eines Ethnologen unter Kannibalen. Das gilt auch für Dandelion Dead (1993), eine Perle unter den TV-Mehrteilern (basierend auf einem Kriminalfall, der 1921 in Großbritannien für viel Aufmerksamkeit sorgte). Ein Anwalt probiert aus, ob das Arsen, mit dem er den Löwenzahn im Garten tötet, auch die Probleme mit seiner Frau und einem Konkurrenten lösen kann, und Hodges zeigt, wie ihm seine Umgebung langsam die Luft abdreht. Hodges’ bisher letzte Kinofilme, Croupier (1998) und I’ll Sleep When I’m Dead (2003), sind Meisterwerke des Minimalismus und lassen sich am besten mit den genialen Spätwerken von Jean-Pierre Melville vergleichen, oder mit den Romanen von Dashiell Hammett, in denen es kein überflüssiges Wort mehr gibt.

Hodges schickt keine schlichten Botschaften, die – in Hollywood ein beliebtes „Kunstmittel“ - dreimal wiederholt werden, damit das Publikum es kapiert. Er will unser Interesse wecken und lässt uns genug Raum, um unsere eigenen Schlüsse zu ziehen. Mit knappen Dialogen und in langen Einstellungen erzählt er scheinbar einfache Geschichten, die unter der Oberfläche ein ungemein komplexes Eigenleben entwickeln. Solche Filme haben es schwer in der heutigen Kinolandschaft. Croupier – ein Film über den Zufall, die Illusion von Kontrolle und über die zentrale Rolle, die das Geld inzwischen in unserem Leben spielt – war kurz davor, im Videomarkt zu verschwinden, als er sich plötzlich, durch Mund-zu-Mund-Propaganda, zum Überraschungserfolg mauserte. I’ll Sleep When I’m Dead kehrt thematisch zu Get Carter zurück und erzählt so brillant von der Krise des Maskulinen und einer durch Rache angetriebenen Welt, dass er hoffentlich auch noch bei uns sein Publikum finden wird.

Hodges, der alte Herr von 75, hat mittlerweile seinen ersten, satirischen (und äußerst komischen) Roman geschrieben, Watching the Wheels, in dem er sich dem Boom der Self-Improvement-Kurse und den Exzessen des Kapitalismus widmet (inklusive einer Sodomie-Szene mit Hinkelstein und Esel, die man so auch noch nicht gelesen hat). Das Filmemachen vergleicht er gern mit einer Flaschenpost: man füllt die Flasche mit Bedeutung, wirft sie ins Meer und wartet geduldig darauf, dass sie irgendwo an Land gespült wird. Der nächste Film, eine Geschichte über die Sinnlosigkeit von Gewalt, wird The Chinese Busker heißen. Die Hauptrolle wurde in der Hoffnung geschrieben, dass Bruno Ganz sie einmal spielen würde. Aber der hat seit mehr als einem Jahr nicht die Zeit gefunden, das Buch zu lesen. Das ist bedauerlich. Schauspieler wie Michael Caine (Get Carter), George Segal (The Terminal Man), Mickey Rourke (A Prayer for the Dying), Rosanna Arquette (Black Rainbow) und Clive Owen (Croupier) hat man nie besser gesehen als in den Filmen von Mike Hodges. Also: Bruno Ganz, bitte öffnen Sie die Flasche!