Euro-Zone vor dem Ende?

Seite 2: Das Elend der rechthaberischen "Wutökonomen"

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Während es längere Zeit in den Universitäten und Forschungseinrichtungen für Wirtschaftswissenschaft wegen der Tendenz zur ideologischen Verengung nur verdeckte Auseinandersetzungen gab, ist nach dem EU-Gipfel Ende Juni 2012 eine erbitterte Kontroverse um die Zukunft der Euro-Zone und des europäischen Projektes ausgebrochen. Die Verabredung über eine einzurichtende Bankenunion bedeute die "kollektive Haftung für die Schulden der Banken des Eurosystems" und gehe "zu Lasten der Bürger anderer Länder, die mit alldem wenig zu tun haben", lautete die populistische Kritik eines Aufrufs, der maßgeblich von Hans-Werner Sinn initiiert wurde.

Viele dieser Ökonomen fordern, streng nach der neoklassischen Doktrin, Lohnabbau auch durch den Ausbau von Niedriglohnjobs. An ärgerliche Unwissenschaftlichkeit grenzt die vermiedene Auseinandersetzung mit den Zielen und Funktionen einer Bankenunion, weil die eigentlichen Aufgaben einer Bankenunion unterschlagen werden. Durch sie sollen die Banken über eine gemeinschaftliche Einlagensicherung und über eine stärker grenzüberschreitende Aufsicht mit Interventionsrechten diszipliniert werden. Dazu gehört auch eine Restrukturierung der Banken, bei der im Zweifelsfall ein Institut auch geschlossen werden kann. Schließlich sollen die Banken einen Fonds zur Finanzierung der durch sie erzeugten Krisenkosten einführen. Natürlich reicht eine solche Bankenunion zur Verhinderung zukünftiger Krisen nicht aus. Sie muss daher dringend in ein System sehr viel strenger regulierter Finanzmärkte und einer europäischen Wachstumsstrategie eingebettet werden. Im Zuge einer Abstimmung der Wirtschafts-, Lohn- und Sozialpolitik müssen die dramatischen Ungleichgewichte im Außenhandel innerhalb der EU beseitigt werden, denn ansonsten werden einzelne Länder und deren Banken, Unternehmen und Haushalte regelmäßig in eine Auslandsüberschuldung hineingezwungen. Auslandsüberschuldung lässt sich in einer Währungsunion längerfristig nur durch zwischenstaatliche Politikkoordination, nicht aber durch die Bankenregulierung verhindern.

An die Stelle seriöser Analyse und eines kritischen Disputs tritt bei den oben genannten Ökonomen schlichte Wut gegen Vorschläge zur Rettung des Euro. Dazu gehören die fehlenden Hinweise auf die Frage ob und wie das Währungssystem weiter entwickelt werden soll. Während explizit keine Aussagen zur Rückkehr zu nationalen Währungen gemacht werden, finden Unterzeichner, die ein Zurück zur D-Mark wollen, einen Unterschlupf. Zu Recht ist - wie es Olaf Storbeck vom Handelsblatt titelte - von "Wutökonomen" die Rede.

Einen unschätzbaren Vorteil hat dieses Anti-Euro-Pamphlet allerdings. Massive Proteste sind innerhalb der Wirtschaftswissenschaft ausgelöst worden. Noch nie wurde in der jüngeren Geschichte der deutschsprachigen Ökonomik derart heftig gestritten. Die Frage nach der Zukunft des Euro scheint endlich die "mainstream economics" zu spalten. An die Stelle des beratenden Herrschaftswissens tritt endlich die diskursive Debatte.

Der "Wutausbruch" gegen die Bankenunion ist für die beratende Wirtschaftswissenschaft ein schwerer Rückschlag. Wen wundert es da, dass die Politik und Öffentlichkeit den Respekt vor der Beratungsökonomie verliert. Allerdings entwickeln sich aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs heraus auch wichtige Orientierungen zur nachhaltigen Sicherung des Euro-Währungssystems.

Ohne oder mit Euro: Kosten des Absturzes - Nutzen der Erneuerung

Das Klima für eine Renationalisierung der Währungen wird in doppelter Weise gestärkt. Zum Einen treibt eine sich von EU-Gipfel zu EU-Gipfel schleppende Ad-hoc-Politik ohne ein ernsthaftes Konzept in den Ausstieg aus dem Euro. Zum Anderen wird der Ruf "Gebt uns unsere D-Mark zurück" lauter.6 Die Forderung nach dem Ausstieg aus dem Euro ist, verstärkt durch nationale Ressentiments, nicht nur an den Stammtischen populär. In der wirtschaftswissenschaftlichen und politischen Diskussion werden Varianten mit unterschiedlicher Intensität zum Euro-Exit gehandelt.

Die Demontage einer Gemeinschaftswährung beginnt mit dem Vorschlag, ein Krisenland wie Griechenland solle zur Drachme zurückkehren. Dabei werden abstruse Modelle über eine Parallelwährung mit dem Euro und der Drachme gehandelt. Das Kunstprodukt heißt GEURO. All diese Ansätze sind ökonomisch nicht zu Ende gedacht. Eine Parallelwährung für Griechenland muss scheitern. Die laufenden Zahlungen wie Löhne werden nach diesem Modell in der neuen Währung notiert. Bargeldbestände und Sichteinlagen (Girokonten) verbleiben dagegen, um einen Banken-Run zu verhindern, auf Euro-Basis. Auch inländische Schulden sollen in der Weichwährung notiert werden. Die Folge sind massive Abschreibungen bei griechischen Banken.

Wie aber würde der Wechselkurs in dem Parallelwährungssystem geregelt? Der Wechselkurs zwischen der neuen griechischen Drachme und dem Euro soll je nach Angebot und Nachfrage auf den Devisenmärkten frei schwanken. Der Umtausch bzw. die Flucht des "schlechten" (GEURO) in das "gute" (Euro) Geld ist in diesem System vorprogrammiert. Diese Parallelwährung setzt wie die anderen Varianten zur Auflösung des Euro auf eine massive Abwertung der Drachme. Deshalb muss die Frage nach den Folgen der abgewerteten Drachme für die griechische Wirtschaft beantwortet werden.

In dieselbe Richtung zielt der radikale Vorschlag, Griechenland aus der Euro-Zone auszuschließen. Gewiss ist, die neue Drachme würde massiv abwerten. Von namhaften Ökonomen werden dieser Abwertung segensreiche Wirkungen für die griechische Exportwirtschaft zugeschrieben. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit würde gestärkt. Diese modellhaft konstruierte Erwartung findet in der Realwirtschaft keine Grundlage. Denn in Griechenland ist - vom Tourismus abgesehen - die Exportwirtschaft völlig unterentwickelt. Preisvorteile durch einen niedrigen Wechselkurs stoßen mangels technologisch und innovativer Unternehmen mehr oder weniger ins Leere. In Griechenland muss überhaupt erst die Exportwirtschaft durch eine aktive Wirtschaftsstrukturpolitik aufgebaut werden. Die Funktionsweise der in Griechenland unterstellten Wechselkursdynamik ist dem deutschen Modell abgeschaut. Hier handelt es sich um ein stark außenwirtschaftlich verflochtenes Land. Käme es zu einer Abwertung im Ausmaß Griechenlands, würde die Exportwirtschaft zumindest, bis es zu Gegenreaktionen aus den importierenden Ländern kommt, boomen. Aber Griechenland ist nicht Deutschland. Oftmals resultieren derartige Denkfehler aus der Faulheit, die Unterschiede zwischen Ländern im Euro-Raum zu untersuchen. Ohne Rücksicht auf den spezifischen Entwicklungspfad und die unterschiedlichen ökonomiestrukturellen Bedingungen wird das Modell Deutschland den Krisenländern übergestülpt.

Durch den einseitigen Blick auf die Exportwirtschaft werden die Folgen der Abwertung für die Importe kaum erfasst. Die erhoffte Abwertung der Drachme würde die importierten Güter und Dienstleistungen verteuern. Ein Inflationsimport wäre gewiss. Banken würden infolge der abgewerteten Kredite gegenüber dem Ausland zusammenbrechen. Am Ende würde sich Griechenland mit einer eigenen Währung zu einer Elendsökonomie entwickeln. Und dann stellt sich die Frage, ob das Land noch in der EU bleiben kann und wie dann die Transfers aus dem Gemeinschaftshaushalt finanziert würden. Schließlich wäre mit einem Dominoeffekt zu rechnen: Wenn Griechenland fällt, setzen die Wetten auf den Absturz weiterer Krisenländer ein. Die Renationalisierung der Währungen im zusammenbrechenden Euro-Land stünde am Ende dieses Erosionsprozesses.

Ob es zu einem schleichenden Zusammenbruch durch den Ausstieg zuerst nur eines Landes kommt oder die radikale Forderung nach der Auflösung des Euro-Währungssystem gestellt wird, ärgerlich ist, dass die gesamtwirtschaftlichen Folgen für die Mitgliedsländer sowie die Europäische Union kaum diskutiert werden. Die normalerweise auf empirisch fundierte Modelle ausgerichteten Ökonomen schweigen auffällig. Unübersehbar sind die Schwierigkeiten, einigermaßen gesicherte Aussagen beispielsweise über wirtschaftliche Wachstums- und Arbeitsplatzverluste zu treffen. Es gibt allerdings auch Interessen, diese Debatte zu verhindern. Auffällig ist: Je radikaler die Forderungen zum Euro-Exit sind, umso weniger werden die gesamtwirtschaftlichen Folgen thematisiert. An die Stelle einer rationalen Bewertung von Kosten und Nutzen treten sehnsüchtige Illusionen nach der Rückkehr zum DM-Imperialismus.

Der Sachverständigenrat hat in seinem Sondergutachten vom Juli 2012 erste Hinweise zu den Kosten der Rückkehr zur D-Mark gegeben7: Direkt betroffen wären Auslandsforderungen Deutschlands gegenüber den anderen Euroländern im Umfang von 2,8 Billionen Euro. Davon entfielen 1,5 Billionen Euro auf Unternehmen und Privatleute. Mehr als 700 Mrd. Euro Forderungen der Deutschen Bundesbank aus dem TARGET-Verrechnungssystem der EZB kämen möglicherweise dazu. Auch die bisher über die Rettungsschirme geleisteten Finanzhilfen, die auch nach einem Zusammenbruch des Euro-Systems bedient werden müssten, dürften in erheblichem Maße wertlos werden.

Nach einer Berechnung der WirtschaftsWoche wird der mögliche Verlust bei einer Insolvenz und nachfolgendem Austritt Griechenlands für Deutschland auf 77 Mrd. Euro geschätzt.8 Über dieses monetäre Verlustpotenzial hinaus ist mit Belastungen der Realwirtschaft zu rechnen. Durch den schockartigen Absturz breitet sich eine Vertrauenskrise über die Wirtschaft aus. Bei den Unternehmen dominiert hinsichtlich von Investitionsentscheidungen die Devise: "abwarten und zusehen". Die Ausgabenbereitschaft der privaten Haushalte wird gedämpft. Auch die öffentlichen Haushalte schränken wegen der zu übernehmenden Krisenkosten die Ausgaben zu Lasten der Gesamtwirtschaft ein. Verluste der Banken durch erforderlich gewordene Abschreibungen transportieren über eine restriktive Kreditpolitik die Belastungen in die Realwirtschaft.

In Deutschland ist mit einer massiven Aufwertung der DM gegenüber den anderen Mitgliedsländern im alten ehemaligen Euro-Raum zu rechnen. Die Exportwirtschaft bricht ein, während sich die Importe verbilligen. Arbeitsplatzabbau folgt dem Einbruch der Exportwirtschaft. Infolge der aufwertungsbedingten Verluste bei der internationalen Konkurrenzfähigkeit droht eine Welle an Produktionsverlagerungen. Vorsichtige Schätzungen gehen in der Gesamtwirkung der kumulierten Effekte davon aus, dass die Gesamtwirtschaft nach zwei Jahren bis zu 15 Prozent geschrumpft sein könnte. Mit einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit ist zu rechnen.

Über die ökonomische Dimension dieses Krisenszenarios hinaus wären die politischen Schäden riesig. Mit dem Zurück zur D-Mark-Hartwährungszone, der möglicherweise Österreich und wenige weitere Länder, jedoch nicht Frankreich, angehören könnten, würde die EU-Integration einen schweren Rückschlag erleiden. Die Grundlagen der bisherigen EU-Finanzpolitik mit dem Gemeinschaftshaushalt, der auch über die Strukturfonds zur Angleichung der Wirtschaftsstrukturen eingesetzt wird, wären bedroht. Eine gemeinsame EU-Politik im Bereich der Regulierung der Finanzmärkte mit dem Schwerpunkt Bankenkontrolle würde durch die Spaltung zwischen dem DM-Hartwährungsblock gegenüber den Krisenländern mit anfälligen Währungen kaum noch durchsetzbar sein.

Hat sich der Euro bisher gelohnt?

Mit diesen noch recht vagen Szenarien lassen sich nur erste Grundlinien zeichnen, welche Kosten ein Ende des Euro mit sich bringen würde. Die Antworten auf die Frage "Lohnt sich der Euro?" bringt weitere Erkenntnisse. Da stehen viele positive Posten in der Euro-Bilanz: Entgegen den weitverbreiteten Unkenrufen hat sich der Euro seit seiner Gründung nicht zum dauerhaften Teuro entwickelt. Seit seiner Gründung liegt die Inflationsrate knapp unter zwei Prozent. Auch der Außenwert gegenüber wichtigen anderen Währungen war über viele Jahre recht hoch. Dabei hat die Exportwirtschaft Deutschlands vor allem durch die Lieferungen innerhalb der Eurozone profitiert. Erst im Zuge der aktuellen Eurokrise musste die neue Währung Wertverluste hinnehmen. In der Exportwirtschaft wird der Euro auch außerhalb der Währungsunion eingesetzt. 2011 sind bei den Außenhandelsgeschäften mit Ländern außerhalb der Euro-Zone über 67 Prozent der gesamten deutschen Exporte in Euro abgerechnet worden.

Der Euro hat sich auch zur attraktiven Währungsreserve gemausert. China hält mehr als 30 Prozent seiner Devisenreserven in Euro. Dass der Euro zwischen den Mitgliedsländern die früheren Informations- und Umtauschkosten erübrigt hat, steht ebenfalls auf der positiven Seite seiner Bilanz. Hätte es den Euro während der jüngsten Finanzmarktkrise nicht gegeben, wäre mit massiven Spekulationsgeschäften gegen die Währungen - beispielsweise D-Mark gegen französische Franc - zu rechnen gewesen. Das Europäische Währungssystem (EWS), mit dem versucht wurde, Wechselkurse durch Interventionen der Notenbank einigermaßen stabil zu halten, wäre unter dem Spekulationsdruck mit Sicherheit längst zusammengebrochen. Die Gemeinschaftswährung hat Spekulanten wie George Soros, die in den 1990er Jahren erfolgreich gegen einzelne europäische Länder gewettet haben, das Geschäft entrissen.

Politischen Zeitdruck entschleunigen

Diese Vorteilsliste für den Euro ist stark ökonomisch ausgerichtet. Das Euro-Währungssystem hat nur dann eine Zukunft, wenn die demokratische Fundierung dieser Vergemeinschaftung ernst genommen wird. Hektische Finanzmärkte lösen, angetrieben durch den roboterhaften Hochfrequenzhandel, einen irrationalen Zeitdruck aus und verlangen von der Politik Über-Nacht-Entscheidungen. Die Spekulationsgeschäfte auf kleinste Arbitragen erzeugen politische Krisenlagen, deren schnelle Bekämpfung im Widerspruch zum Zeitbedarf der demokratisch-parlamentarischen Entscheidungsfindung steht. Deshalb müssen Grundregeln der parlamentarischen Beteiligung vereinbart und deren Primat durchgesetzt werden. Der enorme, zeitliche Entscheidungsdruck kann durch die auf realwirtschaftliche Geschäfte eingeschränkten Finanzgeschäfte reduziert werden. Dadurch wird Zeit für politisch fundierte Entscheidungen zurückgewonnen.

In einem Aufruf an die SPD fordern Jürgen Habermas, Peter Bofinger und Julian Nidda-Rümelin gegen die Übermacht des Finanzsektors die "Selbstermächtigung der Politik". Statt einer "marktkonformen Fassadendemokratie" geht es um einen grundlegenden Kurswechsel in der Europapolitik zu "mehr Integration, mehr Demokratie und politische Einheit".9 Die erforderliche Vergemeinschaftung bisher nationaler Souveränitätsrechte macht eine umfassende Demokratisierung der EU-Entscheidungsorgane bis hin zur EU-Bürokratie erforderlich. Hierbei müssen dem Europäischen Parlament spiegelbildlich zu den der EU übertragenen, bisher nationalstaatlichen Souveränitätsrechten sämtliche parlaments-typischen Entscheidungskompetenzen einschließlich der Gesetzgebungsinitiative und Regierungsbildung übertragen werden.