"Europa befindet sich seit mehreren Jahrzehnten in einem unaufhaltsamen Niedergang"
Seite 3: Vom allmählichen Versinken in Rezession und bürgerkriegsähnlichen Zustände
- "Europa befindet sich seit mehreren Jahrzehnten in einem unaufhaltsamen Niedergang"
- Mit Bequemlichkeit, Kalkül und Feigheit erkaufen wir den eigenen Frieden
- Vom allmählichen Versinken in Rezession und bürgerkriegsähnlichen Zustände
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In dem erwähnten Buch haben Sie Parallelen zwischen dem Untergang der Römischen Republik und der gegenwärtigen Lage in den heutigen europäischen Gesellschaften. Die EU existiert aber erst seit einigen Jahrzehnten, die Römische Republik mehrere Jahrhunderte. Haben wir es also mit einer beschleunigten historischen Entwicklung zu tun oder liegen Sie mit diesen Parallelen falsch?
David Engels: Tatsächlich sind die Parallelen zwischen der Niedergangsphase der Römischen Republik, also dem 1. Jahrhundert vor Christus, und der gegenwärtigen Krise der europäischen Gesellschaft extrem augenfällig: Arbeitslosigkeit, Globalisierung, Niedergang traditioneller Religionen und Werte, Populismus, Brot und Spiele, Kriminalität, Staatsschuld, Massenimmigration, asymmetrische Kriege, massive Verflechtung von Wirtschaft und Politik, Fundamentalismus, Terrorismus und schließlich das allmähliche Versinken in Rezession und bürgerkriegsähnliche Zustände - all das prägt eben nicht nur unsere Gegenwart, sondern auch die letzten Jahre der Republik, bevor sie an ihren inneren Widersprüchen zerbrach und in einen plebiszitär verbrämten, tatsächlich aber autoritären Sicherheitsstaat überging.
Auch die übergeordneten historischen Parameter sind durchaus vergleichbar. Zum einen war die Mittelmeerherrschaft der Römischen Republik zu Beginn der Krise auch erst einmal gerade ein Jahrhundert alt, also nicht wesentlich älter als die Europäischen Gemeinschaften. Zum anderen ist festzustellen, dass diese Krise damals wie heute weniger eine in einer einzigen Institution verankerte Krise war, sondern ein generelles Charakteristikum der gesamten, unter der lockeren Ägide Roms vereinigten griechisch-römischen Staatenwelt. Ebenso wie heute alle Mitgliedsstaaten der EU ähnliche innere Zerfallserscheinungen zeigen, denen dementsprechend auch nur durch eine gemeinsame Politik begegnet werden kann.
Freilich stimmt die historische Analogie hier wenig optimistisch, was unsere Zukunft betrifft. Als ich 2012 die französische Erstausgabe meines Buch fertigstellte, waren manche Leser und Rezensenten überaus skeptisch, als ich der westlichen Staatenwelt, gestützt auf den Vergleich mit Rom, einen weiteren wirtschaftlichen Niedergang, eine immer größere europäische Bevormundung schwacher Mitgliedsstaaten, bürgerkriegsähnliche Zustände in den Großstädten und den unweigerlichen Aufstieg populistischer Parteien ankündigte. Heute, nachdem wir bei Negativzinsen, der Fremdverwaltung Griechenlands, den fast monatlichen grausigen Attentaten überall in Europa und den Wahlerfolgen von AfD, Front National, UKIP und Donald Trump angekommen sind, ist die Kritik verstummt.
Sie fordern dazu auf, dass sich die europäischen Nationen auf ihre gemeinsame Geschichte besinnen sollten - auf die europäische Identität, die "uns alle verbindet, von Lissabon bis Wladiwostok" -, um daraus mehr Solidarität untereinander ableiten. Diese Solidarität gab es aber doch nie, auch nicht zur Zeit des Untergangs des Römischen Reiches, wenn wir beispielsweise uns den Konflikt zwischen dem Ost-und Weströmischen Reich zu Grunde legen. Was verstehen Sie unter einer europäischen Identität, die Ihrer Meinung nach von der Nordsee bis zum Pazifik reicht? Und weshalb sollte diese Identität als Grundlage dienen können, wenn schon die ideologischen Grundlagen der EU, auf geografisch kleiner Fläche, nur unzureichend als gemeinsamer Kitt funktionieren?
David Engels: Ich denke, das Problem löst sich auf, wenn man sorgfältig zwischen Identität, Solidarität und Ideologie trennt. Die gemeinsame kulturelle Identität aller Europäer, von Wladiwostok bis Lissabon, ist ein historisches Faktum, das auf einer seit Jahrhunderten, manchmal sogar Jahrtausenden geteilten Geschichte beruht. Wir alle haben direkt oder indirekt Romanisierung bzw. Hellenisierung, Christianisierung, Mittelalter, Renaissance, Glaubenskriege, Absolutismus, Aufklärung, Romantik, Industrialisierung, Imperialismus, Weltkriege, Kalten Krieg und vieles mehr gemeinsam erlebt und geteilt und sind nunmehr in unserer unterbewussten Weltsicht eng miteinander verwachsen.
Das wird auch sofort deutlich, vergleicht man selbst verschiedenste Ausprägungen der europäischen Kultur etwa mit der uns völlig fremdartigen chinesischen oder indischen Kultur. Nur auf dieser Grundlage, die gleichzeitig ja auch Nähe, Verantwortlichkeit und das Gefühl einer Schicksalsgemeinschaft schafft, kann auch echte Solidarität entstehen - doch freilich nur, wenn die verantwortlichen staatlichen Institutionen eine solche Gemeinschaft auch anerkennen und dem einzelnen Bürger nahebringen.
Gerade das ist aber der springende Punkt: Anstatt auf die enge kulturelle Verwandtschaft der europäischen Völker zu verweisen, um gerade in diesen dringenden Zeiten Solidarität zu schaffen, ergehen sich die europäischen Institutionen in abstrakten Überlegungen zu Freiheit, Gleichberechtigung, Demokratie und Toleranz als alleinigen europäischen Grundwerten, wo wir diese doch etwa auch mit Südkorea und Japan teilen, ohne dass wir diese doch als europäische Staaten bezeichnen würden.
Das bedeutet nun freilich nicht, dass ich diese fundamentalen Werte geringschätze, sondern nur, dass ich sie als solchermaßen allgemeinmenschlich betrachte, dass sie vielleicht einmal den Kitt eines künftigen UN-Weltstaats ergeben könnten, nicht aber dazu beitragen, die innere Kohäsion der sich zum Staat entwickelnden europäischen Kultur zu fördern, die zur Wahrung ihres Überlebens genau wie die USA und China ganz klar zwischen Eigen- und Fremdinteressen zu trennen fähig sein muss.
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