"Europa befindet sich seit mehreren Jahrzehnten in einem unaufhaltsamen Niedergang"

Seite 2: Mit Bequemlichkeit, Kalkül und Feigheit erkaufen wir den eigenen Frieden

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Schon in der Antike wurden die historischen Abläufe analysiert, welche zum Aufstieg und Fall großer Mächte führten. Hat man in Europa, angesichts von über sieben Jahrzehnten Frieden, das Bewusstsein für die Tragik historischer Abläufe verloren, welche Paul Valery einst mit den Worten ausdrückte: "Und wir sehen jetzt, dass der Abgrund der Geschichte Raum hat für alle?"

David Engels: Die vielbeschworenen 70 Jahre Frieden schrumpfen natürlich schnell zusammen, wenn man genauer hinsieht. Die schrecklichen Jahrzehnte des Kalten Kriegs, als paradoxerweise nur die Angst vor atomarer Eskalation uns davor bewahrte, zum Schauplatz der Auseinandersetzung zweier bis an die Zähne hochgerüsteter politischer Giganten zu werden, sind kaum als echte Friedensjahre zu betrachten, und auch in der Folge wurde Europa ja durch den langjährigen, eigentlich bis heute schwelenden Jugoslawienkrieg wie auch durch den gegenwärtigen ukrainischen Bürgerkrieg übel heimgesucht - ganz zu schweigen von der humanitären Katastrophe, die sich auf der anderen Seite des Mittelmeers, also nur wenige Kilometer von unseren Außengrenzen, zuträgt.

Nein, den Frieden kann nur ausmachen, wer nicht wirklich hinschauen will, und das wollen heute nur die wenigsten. So hat sich denn auch der eigentlich sehr zynische Eindruck eingebürgert, im "Frieden" zu leben, und die noch zynischere, weil unerträglich selbstzufriedene Einschätzung, diesen Frieden unserer eigenen, angeblich "zivilisierten" Gesellschaftsordnung zu verdanken, also ein "Anrecht" auf ihn zu haben.

Dahinter steht freilich nur, dass wir das Kriegsführen zum einen bequemerweise unserem amerikanischen Bündnispartner überlassen, um uns praktischerweise danach über ihn zu beklagen (und uns gegen klingende Münze am "Wiederaufbau" zu beteiligen), zum anderen, dass unsere Politiker jede Gelegenheit, bei der es eigentlich gelten würde, in unserem eigenen Interesse außenpolitisch und notfalls auch militärisch tätig zu werden, geflissentlich übersehen, um den Wahlbürger durch den Anblick einiger Särge nicht zu vergraulen.

Und so haben denn Bequemlichkeit, Kalkül und, seien wir offen, Feigheit eine Situation geschaffen, in welcher wir uns den eigenen Frieden dadurch erkaufen, dass wir nicht hinschauen, wenn anderswo Krieg herrscht, dadurch aber auch letztlich nur bewirken, dass der Krieg sich unweigerlich unseren Grenzen nähert, ja eigentlich, denkt man an die fast monatlichen Attentatsopfer in den europäischen Großstädten, das Herz unserer Gesellschaft schon erreicht hat - mit dem Resultat, dass nun, wie in Brüssel, Frauen und Kinder, aber keine Soldaten sterben müssen.

In Ihrem Buch "Auf dem Weg ins Imperium: Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der Römischen Republik. Historische Parallelen" schreiben Sie "Es gibt Zeiten in der Geschichte der Menschheit, in denen Optimismus einfach nur Feigheit und unverantwortliche Verblendung bedeutet." Wie kann man der asymmetrischen Kriegsführung, der wir uns heute ausgesetzt sehen, aber begegnen? Pessimismus oder Fatalismus wären doch auch keine Lösung?

David Engels: Das hängt freilich von der Definition von Optimismus ab: Pessimismus bedeutet nicht gleich Fatalismus, und selbst Fatalismus muss nicht Feigheit implizieren. Ich erkläre mich: Europa befindet sich seit mehreren Jahrzehnten in einem unaufhaltsamen Niedergang, den nur der nicht sehen kann, der aus ideologischen Gründen für eine realistische Einschätzung historischer Kategorien unzugänglich ist.

Nie war in der jüngeren Geschichte die Arbeitslosigkeit höher, nie die Staatsschulden größer, nie die Auslagerung der Betriebe bedrohlicher, nie die Masseneinwanderung ebenso wie die Integration der Immigranten umstrittener, nie das außenpolitische und wirtschaftliche Gewicht Europas auf Weltebene geringer, nie die Anhängerschaft populistischer Parteien größer, nie die Aussichten auf einen Konjunkturaufschwung geringer, nie die Glaubwürdigkeit der Politik geringer; und die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Wer da dem Bürger verspricht, ihn glorreichen Zeiten entgegen zuführen, oder von den Segnungen der liberalen, globalisierten und multikulturellen Gesellschaft schwärmt, ist einfach weltfremd, ja eigentlich schon fast unverantwortlich. Das wird übrigens auch in ganz Europa mittlerweile so gesehen, wenn sie etwa die französischen, belgischen oder britischen Medien verfolgen - von den spanischen, italienischen, griechischen oder ungarischen ganz zu schweigen.

Nur Deutschland mit seiner noch relativ zufriedenstellenden und meist auf Kosten seiner Nachbarn gesicherten Wirtschaftslage als Exportgigant bildet hier eine Ausnahme - und auch das wohl nur vorübergehend, denn zum einen haben die Alleingänge der Kanzlerin die Bundesrepublik im Ausland in ein extrem schlechtes Bild gerückt, zum anderen ist zu bezweifeln, dass sich allein durch das massenhafte Ansiedeln syrischer oder afghanischer Flüchtlingsfamilien der drohende Anstieg der Soziallasten der alternden deutschen Bevölkerung bewältigen lassen wird. Nur eine pessimistische Einschätzung unserer Zukunft ermöglicht es hier, einen realistischen Pragmatismus zu entwickeln, um wenigstens das Schlimmste zu vermeiden.

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