Europäische Bürgerinitiative fordert Verbot biometrischer Massenüberwachung
40 Organisationen starten Petition. Verein Digitalcourage verlangt zudem Transparenz, wo in Deutschland "intelligente" Überwachungstechnik welche Verhaltensmuster als verdächtig einstuft
Zumindest vorübergehend hat die Covid-19-Pandemie die Verhältnisse auf den Kopf gestellt: Momentan gilt es nicht als verdächtig, sich biometrischen Überwachungssystemen zu entziehen, weil dies nur die Nebenwirkung der Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und im Einzelhandel sowie auf belebten Straßen und Plätzen ist. Vor allem schwarze Masken, die weit über die Nase gehen, überfordern gängige Gesichtserkennungsalgorithmen, wie US-Forscher laut einer im Juli veröffentlichten Studie herausfanden. Manche Software-Firmen haben sich daher lieber erst mal auf das Erstellen von Programmen zur Identifizierung von Maskenverweigerern konzentriert.
Einen Grund zur Entwarnung ist die aktuelle Ausnahmesituation für das Bündnis "Reclaim Your Face" nicht: Unter diesem Motto haben am Mittwoch mehr als 40 Organisationen eine Europäische Bürgerinitiative (EBI) für ein Verbot biometrischer Massenüberwachung gestartet. In Deutschland unterstützen unter anderem der Verein Digitalcourage e. V., der Chaos Computer Club (CCC), die Vereine D64 und Digitale Freiheit sowie die Gesellschaft für Informatik und die Initiative kameras-stoppen.org die Petition, mit der die EU aufgefordert wird, die Bevölkerung vor Gesichtserkennung und anderen biometrischen Überwachungstechnologien zu schützen.
"Wir wollen eine Gesellschaft, in der sich Menschen frei bewegen können, ohne Angst haben zu müssen, dass ihre Körper und ihr Verhalten ständig analysiert werden", sagt Friedemann Ebelt von Digitalcourage. "Wir unterstützen die Initiative, weil wir überzeugt sind, dass Gesetze und Technik grundsätzlich überwachungsfrei und grundrechtsschonend sein sollten."
Neben einem Pilotversuch am Berliner Südkreuz wurde auch in der baden-württembergischen Stadt Mannheim ein Überwachungsprojekt gestartet, das auf die Erfassung von Bewegungsmustern abzielt.
Unklar, was "verdächtig" ist
An welchen Orten Deutschlands sonst noch Verhaltensscanner im Einsatz sind, die "verdächtige" Verhaltensweisen erkennen sollen, ist nicht einmal bekannt - was Digitalcourage als zusätzliches Problem betrachtet: "Beispielsweise kann nach dem Polizeigesetz Sachsen eine 'intelligente' Videoüberwachung eingerichtet werden, wie wann und wo ist allerdings für die betroffenen Bürger.innen nicht transparent", erklärte Ebelt am Mittwoch gegenüber Telepolis.
Demnach wissen potentiell Betroffene auch nicht, welches Verhalten als "verdächtig" gilt - und wer bereits aus privaten Gründen oder wegen bevorstehender Prüfungssituationen nervös ist, muss sich zusätzlich Sorgen machen, ob sich das in der Körpersprache niederschlägt und er oder sie demnächst einer Straftat verdächtigt wird, weil eine Software Verhaltensauffälligkeiten festgestellt hat.
"Der Einsatz von Verhaltensscannern, also Videoüberwachung mit Bewegungsmustererkennung, ist grundrechtlich bedenklich, weil er einen starken Konformitätsdruck ausübt und gleichzeitig viele Fehlalarme zu erwarten sind", kritisierte das Portal Netzpolitik.org bereits 2018 im Zusammenhang mit dem Mannheimer Überwachungsprojekt.
Grundsätzlich setze die EU der Verarbeitung von biometrischen Daten bereits enge Grenzen, allerdings lasse das EU-Recht auch "einige problematische Ausnahmen zu", erklärte Digitalcourage anlässlich der aktuell gestarteten Petition. "Staatliche Akteure und private Unternehmen nutzen diese Lücken, um biometrische Überwachungstechnologien in öffentlichen Räumen zu etablieren."
Das Bündnis "Reclaim Your Face" habe bereits aufzeigen können, "dass biometrischen Daten von Menschen in ganz Europa systematisch gesammelt und missbraucht werden", gehe aber auch in vielen Fällen erfolgreich gegen den Missbrauch vor. "Serbische Behörden überwachen die Bevölkerung in den Straßen von Belgrad mit intelligenten Kameras. Italienische Behörden nahmen in der Stadt Como Geflüchtete mit biometrischen Überwachungssystemen ins Visier." Dies sei zwar für illegal erklärt worden, trotzdem werde aber versucht, solche Systeme auch in anderen Städten einzuführen.
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