Europas Kampf um die Kontrolle
Seit Jahrzehnten setzt die EU auf "Lösungen" für Flüchtlinge in Lagern und Gefängnissen autoritär regierter Länder und macht damit Menschenrechte zum Privileg
Trotz aller Skepsis gegenüber dem Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei ist die Erleichterung bei den politisch Verantwortlichen nicht zu übersehen. Der deutsche Innenminister Thomas de Maiziére sieht einen "Wendepunkt in der Flüchtlingskrise", Angela Merkel glaubt nun fest daran, "dass Europa es schaffen wird". Die Überzeugung, man könne für das "Problem" Flüchtlinge eine "Lösung" finden, die es den Europäern erlauben würde, zur Tagesordnung zurückzukehren, hat mit diesem Pakt neue Nahrung bekommen.
Die Probleme der Flüchtlinge wird das Abkommen mit Sicherheit nicht lösen. Für sie steht nun der Sicherheitsapparat der Türkei bereit, der bekanntermaßen nicht gerade zimperlich agiert. Er soll gegen Menschen, die in europäischen Ländern Asyl suchen wollen - wozu sie nach der Genfer Konvention und nach Artikel 14 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung berechtigt sind - mit Zwangsmaßnahmen vorgehen: sie an den Küsten aufhalten, sie aus Griechenland zurück- und in Gewahrsam nehmen.
Für die Europäer hat diese "Lösung" den verführerischen Nebeneffekt, dass das Leid der von Europa abgewiesenen Flüchtlinge aus ihrem Blickfeld verschwindet. Sie werden nicht mehr allabendlich in den Nachrichten damit konfrontiert. Wie viele Reporter sind schon dabei, wenn Flüchtende an der türkischen Küste festgenommen werden? Wer berichtet aus den Lagern, in denen sie landen?
Gelöst wird so vor allem ein Problem, das der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk im vergangenen Sommer definierte, als er den Europäern den Einsatz "wohltemperierter Grausamkeit" gegen die Flüchtenden empfahl. Das Hauptproblem sei, so meinte er, dass sich die Europäer als "gutartig" definierten und dass Grausamkeiten von einer "entsprechenden Publizistik" "denunziert" würden. Wie praktisch, dass die "entsprechende Publizistik" in der Türkei viel besser kontrolliert wird!
Das alles ist nicht neu. Auch in den vergangenen Jahrzehnten haben sich europäische Regierungen wenig um die Menschenrechte gekümmert, wenn es darum ging, Flüchtlingen den Weg nach Europa zu versperren. Sie haben sie auf andere Kontinente verfrachtet und dadurch unsichtbar gemacht. Viele Jahre lang bediente man sich zu diesem Zweck der repressiven Regime von Muammar al-Gaddafi in Libyen und Ben Ali in Tunesien. Vor allem aus Italien und Spanien wurden tausende Flüchtlinge direkt in die Lager in der libyschen Wüste und in tunesische Abschiebegefängnisse gebracht. Von ihrem weiteren Schicksal erfuhr man in Europa wenig.
Doch das könnte diesmal anders sein. Die europäische Öffentlichkeit ist sensibilisiert. Das Ausmaß der Anteilnahme an der Thematik, am Schicksal der Menschen, die es bis hierher schaffen und derer, die an europäischen Grenzzäunen hängenbleiben, ist größer als je zuvor. Noch nie sind uns die globalen Probleme so nah gekommen. Noch nie haben sie die Gemüter in Europa so sehr bewegt. In die eine und in die andere Richtung.
Mitgefühl und Angst, Hilfsbereitschaft und Abwehrreflexe sind nah beieinander. Es ist klar, dass auch diejenigen, die noch mehr Abschottung und Härte wollen, nun ihre Interessen artikulieren, auf die Straße gehen und sich wählen lassen. Seltsam wäre es eher, wenn sie das nicht täten. Und, so paradox es sein mag, gerade die Fremdenfeinde und Rechtspopulisten provozieren einen Klärungsprozess über politische und moralische Grundorientierungen in der europäischen Politik, über die Frage, ob Realpolitik und Menschenrechte nicht nur innerhalb der Staaten Europas, sondern auch im Verhältnis zu den Anderen, den Fremden, den fernen Ländern, zusammengehen.