Exodus im südlichsten Bundesland
Deutsche verlassen zu Tausenden Mallorca Spanien lokalisiert die Ursachen in der hiesigen Wirtschaftskrise und blickt der Entkolonialisierung gelassen entgegen
Franco erklärte Mallorca zu einem seiner Prestigeobjekte, als er dabei war, Spanien touristisch hochzurüsten. Mit Hilfe deutscher Klimaflüchtlinge konnte sein Projekt im späten 20. Jahrhundert vollendet werden. Die Insel im Mittelmeer avancierte zu einer weltweit bekannten Urlaubsadresse, die sich spätestens seit den 1990er Jahren fest in deutscher Hand befindet. Jüngste Zeitungsmeldungen in Spanien künden nun von einer Trendwende. Nach der Germanisierung scheint dieser Tage die Entkolonisierung an der Tagesordnung zu sein. Allein im letzten Jahr haben 3.000 Deutsche ihre Zelte auf Mallorca abgebaut und den Heimweg gen Norden angetreten.
Im Sommer 1999 hatte die Kolonisation einen neuen Grad erreicht. Produktionsmaterial und Technik wurden aus Deutschland herbeigeschafft, ebenso tonnenweise Equipment, Mitarbeiter, etc. Mit der Präzision eines japanischen Bauunternehmens, das ein französisches Schloss in der Bretagne abmontiert, um es in Tokio wieder aufzubauen, wurde ein komplettes Fernsehstudio auf der Insel errichtet. Mitarbeiter, Kabelschlepper, Tontechniker, Visagisten, Beleuchter eingeflogen. Selbstverständlich auch die Assistenten des Moderators. Wirklich nichts wurde dem Zufall überlassen.
Der Zufall, das waren auch die Einheimischen. Sie mussten draußen bleiben, durften die raumgreifende Produktionsstätte nicht einmal betreten, bekamen auch keine Eintrittskarten für "Europas größte Fernseh-Show". Denn was vermutlich den Höhepunkt der Expansion darstellte: Ein deutscher TV-Sender hatte nicht nur die halbe Insel angemietet, sondern auch sein eigenes Publikum mitgebracht. Deutsche Fans wurden en masse eingeflogen, kein Widerspruch war, dass sie auch gleichzeitig Sonnenanbeter waren.
Im Zuge der "Operation Sommerloch" (Berliner Zeitung) arbeitete die Fernsehanstalt Hand in Hand mit Touristik-Unternehmen. Luftfahrt- und Reisefirmen traten als Hauptsponsoren der TV-Produktion auf, Check-In Counter wurden zur Abendkasse. Die Mallorca-Edition von Thomas Gottschalks "Wetten dass..?" sah die Besucher der TV-Show bereits am Frankfurter Flughafen mediterranen Boden betreten, der der Boden einer ausgelagerten Exklave der Bundesrepublik war.
Brauchen wir ein Auswanderungsgesetz?
Die Germanisierung Mallorcas hatte schon in den 1990er Jahren ihren ersten Höhepunkt erreicht. Tausende von deutschen Langzeiturlaubern, Frührentnern und Pensionierten hatten sich auf der balearischen Insel ein zweites Heim gebaut, manche hatten sogar ihre ganzen Verbindungen zum Festland abgebrochen, waren gewissermaßen ausgestiegen. Die Formel "Sonne, Sand und Strand" hat auch schon immer Stars angelockt – von Claudia Schiffer bis zum Erfinder von "Wetten dass..?" Frank Elstner.
Zum Mythos des Mittelmeereilands gehört freilich auch, dass der polnische Komponist Frederik Chopin sie zu seinem Sehnsuchtsort auserkor – ein Grund, warum übrigens auch meine Familie dort das Weite suchte. All diese Namen haben Mallorcas Aufschwung einen Glanz verliehen, der manch einen dazu veranlasst hat, Vergleiche mit Florida herzustellen. Der German White Trash Set wurde mit Sagen veredelt. Doch was war der Preis der Germanisierung, im Zuge derer das paradiesische Fleckchen Erde einem rapiden Wandel unterworfen wurde?
Die seit den 1980er Jahren immer lauter werdenden kritischen Parolen der Umweltschützer und Ethnologen wickelten auch den Luftraum um Mallorca ein, doch wer in einer Blase lebt, bekommt von solchen Dingen wenig mit. Es war also notwendig geworden, einige Perspektiven und Verhältnisse zurechtzurücken. Die Zeit für einen Reality Check sah auch Claudius Seidel gekommen, als er im Frühling des Jahres 2000 im SZ-Feuilleton Deutschland mit den Mitteln der Ironie als ein von allen guten Geistern verlassenes Land darstellte, das sich um Software-Inder und andere Immigrationsströme den Kopf zerbricht, aber seine eigenen Kinder nicht halten kann.
Deutschland musste zusehen, wie Kapital und Kulturträger abwanderten – war es nicht schließlich die deutsche Wirtschaft, die Mallorcas Aufschwung finanziert hatte? Seidel fragte also: "Darf man die Leute einfach ziehen lassen? Muss man strenge Quoten einführen, den Wegzug steuern, reglementieren?" Die Debatte um Einwanderungsbeschränkungen erschien ihm als die größte Lebenslüge der deutschen Nation. Was seiner Meinung tatsächlich erforderlich schien, war vielmehr ein Auswanderungsgesetz, damit Städte wie Hannover und Duisburg "nicht verfallen". Doch war es nicht bereits zu spät?
Spaniens Besiedelung erlebt eine Trendwende
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts schrieb der in Malaga lehrende Geograph Rafael Dominguez Rodriguez:
Die auffälligste Entwicklung der letzten Jahre ist der Rückgang deutscher Urlauber an Zielorten, die noch vor einiger Zeit nahezu ausschließlich in 'deutscher Hand' waren allen voran, die Balearen.
Nun melden diverse spanische Tageszeitungen, dass erstmals seit der Germanisierung Mallorcas eine Abwanderungsbewegung stattfindet. . Zwar kämen temporäre Besucher nach wie vor, doch die Langzeiturlauber ziehen sich zurück. Bereits 3.000 Deutsche sollen die Insel im letzten Jahr verlassen haben, Besitztümer aufgegeben, verkauft und zurück ins kalte Deutschland gezogen sein.
Die Veränderung wird zum Anlass genommen, die Ursachen zu benennen. Wo die Wurzeln des Übels zu suchen seien, darüber scheint es keine Zweifel zu geben. Natürlich in Deutschland, dort, wo die Konsequenzen der wirtschaftlichen Krise offenbar auch das südlichste Bundesland in Mitleidenschaft ziehen. Die Artikel zeichnen weniger eine von Auswanderungsängsten gezeichnete Insel, als vielmehr ein von ökonomischen Wehen geplagtes Mutterland. Recht haben sie.
Wenn die Kolonien ins Wanken geraten, ist das immer auch ein Zeichen für eine Krise der Großmacht. Die Unstimmigkeiten im Inneren machen sich zunächst an den Rändern bemerkbar – entladen sich zuerst an der Peripherie, dann im Zentrum. Mallorca muss nun nicht demontiert werden, wie die Produktionsstätte für "Europas größte Fernseh-Show". Das Setting des Urlaubsparadieses kann erhalten bleiben. Andere Völker werden kommen und den Platz der Deutschen einnehmen. Die Besiedelung der iberischen Halbinsel hat ebenfalls ein solches Kommen und Gehen gesehen. Germanische Stämme waren in der spanischen Geschichte nur Übergangspersonal.
Vielleicht nehmen die Spanier die jüngsten Abwanderungstendenzen deshalb so gelassen hin. Selbst Kassandrarufe diverser Touristik-Beobachter erschüttern sie nicht. Diese meinen, dass die Formel "Sonne, Sand und Strand" ausgedient habe und die Touristen nicht mehr locke. Sie wissen einfach, dass an ihren Küsten die Boomtowns der touristischen Urbanisierung liegen, die selbst globale Megastädte alt aussehen lassen: Benidorm beispielsweise hat eine bauliche Dichte dreimal so hoch wie Mexico City.
Aus Holland liegen Studien vor, die die Ostküste Spaniens auf Strukturen der Agglomeration hin untersuchen. Das Architektenbüro MVRDV (Das flüssige Auge des Architekten) spricht in diesem Zusammenhang von der "Costa Iberica": Eine einzige Stadt, die sich von der französischen Grenze bis hin nach Gibraltar zieht und deren Besitzer keine nationale Wirtschaft, sondern die Ströme des globalen Kapitals sind. Die Entwicklungen dieses Modells sind folglich komplexeren Faktoren unterworfen. Wenn die Hochhäuser-Hotels der iberischen Boomtowns eines Tages auch in der Saison leer stehen, wird man die Ursachen kaum auf ein einzelnes Land zurückführen können.