Explizit repressiv
Frankreich glänzt zur Zeit nicht durch Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Letztes Jahr sind über eine halbe Million Franzosen vorübergehend festgenommen worden
Einer von hundert Franzosen durfte 2008 die Freuden einer „Garde à vue“, wie diese vorläufigen Festnahmen genannt werden, am eigenen Leib erfahren. Eine Polizeischikane, die noch aus napoleonischen Zeiten stammt und die zur Zeit wirklich jedem französischen Bürger blühen kann. Der bloße Umstand, bei Rot über die Strasse zu gehen oder auf die dumme Idee zu kommen, einem Polizisten zu widersprechen oder Fragen zu stellen, kann schon zu einer „GAV“, wie es so schön im Amtsjargon heißt, führen. Seit 2001 sind diese vorläufigen Festnahmen um 55% gestiegen. Menschenrechtsorganisationen wie die Ligue des Droits de l’homme oder Richtergewerkschaften stellen ein zunehmend „autoritäres“ Klima fest. Ist es ein Zufall, dass das derzeitige Staatsoberhaupt zuvor zweimal Innenminister war? Und als solcher mit Bemerkungen geglänzt hatte, die in den Vorstädten im Herbst 2005 für Feuer und Flammen gesorgt hatten? Sein Wort racaille, das den Jugendlichen der sogenannten sensiblen Viertel galt, kam dort nicht wirklich gut an. Sarkozy wollte damals ja diesem jugendlichen „Gesindel“ mit dem Kärcher-Hochdruckreiniger beikommen.
Doch nun scheint selbst der Polizei dieses repressive Klima zu viel zu werden. Eine Anhäufung von „gardes à vue“ sorgte kürzlich in Bordeaux für einigen Unmut bei den Ordnungshütern, für die es zur Zeit gilt, „Verhaftungsquoten“ vorzuweisen. Diese vorgeschriebene Quote bekam etwa eine unbescholtene Radfahrerin zu spüren, die leicht angeheitert um 1 Uhr 30 nachts auf ihrem Fahrrad von der Polizei aufgegriffen wurde. Der Alkoholtest ging erwartungsgemäß positiv aus, und trotz ihrer Erklärungen, dass sie eben deswegen auf das Auto verzichtet habe, wurde sie aufs Kommissariat geführt und vorläufig festgenommen. Gemeinsam mit 10 anderen feuchtfröhlichen Radfahrern gilt es dann Leibesvisitationen und Verhöre über sich ergehen zu lassen. Eine ganz normale „garde à vue“ eben. Um 10 Uhr 30 morgens ist die glücklose Radlerin wieder frei und erklärt, dass diese Nacht in einer verdreckten, stinkenden Zelle sie zu tiefst traumatisiert habe. Die Sache sei zudem alles andere als verständlich, sei sie doch sofort geständig gewesen. Also wozu noch Verhöre und erniedrigende Leibesvisitationen? Auch der Sekretär der örtlichen Polizeigewerkschaft Philippe Rolland findet die Verhängung einer „garde à vue“ in diesem Falle exzessiv, und erklärt, dass man zur Zeit einen regelrechten Wettlauf um die Quote feststellen könnte:
Die Festnahmen sind systematisch. Immer mehr Personen werden vorläufig festgehalten. Die Zellen sind voll, und selbst für uns ist diese Situation schwer zu bewältigen.
Wenige Tage später meldete sich der Bürgermeister von Bordeaux, Alain Juppé, ehemaliger Premier und nicht gerade ein Sarkozy-Freund, zu Wort und befand ebenfalls, dass diese vorläufigen Festnahmen der Radfahrer zu weit gegangen seien. Eine Sanktion hätte da vollauf genügt. Aber die Verhängung einer „garde à vue“ sei unverhältnismäßig gewesen, befand der UMP-Bürgermeister.
Dabei hatten die Radfahrer aus Bordeaux noch Glück, ist doch die maximale Dauer einer „GAV“ von Gesetz wegen auf eine Dauer von immerhin 18 Stunden beschränkt, die aber für Delikte, bei denen der Verdacht einer „organisierten Bande“ besteht, zweimal verlängert werden kann. Besteht Terrorismusverdacht, kann der Spaß bis zu 6 Tagen währen. Doch ab wie viel Personen handelt es sich um eine „organisierte Bande“? Und wann hat man es mit einem „Terroristen“ zu tun? Ein Rechtsbeistand darf jedenfalls nicht bei den Verhören anwesend sein. Der Festgehaltene hat lediglich das Anrecht auf ein halbstündiges Gespräch mit einem Anwalt. Ein Recht, das bei einer Verlängerung der GAV wieder in Anspruch genommen werden kann. Wozu dienen nun diese nicht gerade populären „gardes à vue“? Laut Gesetz gilt es eine „Person festzuhalten, gegen die der Verdacht besteht, eine Gesetzesübertretung begangen oder versucht zu haben“.
Effizienzgebot für die Polizei
Das Satiremagazin Le Canard enchainé erinnert anlässlich des derzeit herrschenden Polizeieifers, an eine interne Weisung des ehemaligen Innenministers Sarkozy vom Februar 2007, die offenbar noch immer ihre Gültigkeit besitzt:
Die neue Effizienzrate der Polizeiaktivitäten wird fürderhin anhand der Anzahl der „gardes à vue“ berechnet.
Das Satiremagazin erläutert anschließend einige klassische Verläufe von „GAV“. Mehr oder weniger zivilisiert, mehr oder weniger brutal: Da geht es z.B. um einen grünen Stadtpolitiker, der eben die Bedingungen der vorläufigen Festnahmen in einem Kommissariat überprüfen wollte und sich prompt selbst in einer „GAV“ vorfindet. Oder um einen Fußgänger, der es gewagt hatte, bei Rot über die Straße zu gehen und abends dann im Pyjama von zu Hause von den Ordnungskräften abgeführt wird. Oder um einen Verliebten im Park, der von Polizisten beim Turteln rüde unterbrochen und aus ungeklärten Gründen einer „integralen Leibesvisitation“ unterzogen wird. Dabei wird er so heftig zu Boden gedrückt, dass er das Gefühl hat zu ersticken und um Hilfe schreit. Am Kommissariat muss er anschließend 4 Stunden mit Handschellen verbringen. Die Polizeikontrollbehörde IGS hat bislang noch nicht auf seine Anfragen reagiert. Die „garde à vue“ einer schwarzen Französin ist offenbar so heftig ausgefallen, dass sie im Krankenhaus geendet hat.
Falls die Ordnungskräfte wirklich zu hart rangegangen sind, bleibt noch immer die Möglichkeit, einen Aufmüpfigen der Rebellion (um Hilfe schreien), des Widerstandes gegen die Staatsgewalt (die schwarze Dame kannte ihre Rechte) oder Anstiftung zur Meuterei zu bezichtigen, wie im Falle des glücklosen Fußgängers, der bei seiner Festnahme begonnen hatte, mit Passanten zu diskutieren. Prinzipiell muss der Staatsanwalt sofort von einer vorläufigen Festnahme durch die Polizei oder Gendarmerie informiert werden. Prinzipiell. Doch wird diese gesetzliche Verpflichtung offenbar so fleißig umgesetzt, dass sie laut „Canard Enchainé“, regelmäßig für einen Lacherfolg bei Jusstudenten sorgt.
Die derzeit herrschende Polizeiwillkür hat Amnesty International dazu veranlasst, dem “Fall Frankreich“ eine eigene Webseite zu widmen. Der dazugehörige Bericht ist für die Grande Nation, die sich in ihrer öffentlichen Selbstdarstellung gerne selbst als Erfinderin der Menschenrechte wahrnimmt, alles andere als erfreulich. Kleine Lektion gefällig?
Die Situation in Frankreich ist so weit gediehen, dass sich die Ordnungskräfte als über den Gesetzen stehend empfinden.(...) Totschlag, Prügel, rassistische Beschimpfungen und übertriebene Anwendung von Gewalt durch Beamte der staatlichen Ordnungskraft sind unter allen Umständen vom internationalem Recht verboten. Doch in Frankreich münden die Klagen für solcherlei Missachtungen der Menschenrechte kaum in einer effektiven Untersuchung, und die Verantwortlichen landen nur selten vor der Justiz.
Denn die Richter seien quasi zu Handlangern der Polizei geworden. Klagen wegen Amtsmissbrauchs würden meist sang- und klanglos wieder fallen gelassen. Der Sprecher der größten Polizeigewerkschaft UNSA-Police, Yannick Danio, meint, dass manche seiner Kollegen durchaus ab und an vorm Richter landen würden und rechtfertigt die gelegentlichen „Ausrutscher“ folgendermaßen:
Man darf nicht vergessen, dass sich unter der Uniform Männer und Frauen befinden, die sich in Permanenz mit der Gewalt und dem Zeitdruck konfrontiert sehen, und die neuerdings einer Politik der Quote, der Zahlen und des „alles Repressivem“ genüge tun müssen. Eine Politik, die wir nicht müde werden anzukreiden, vertieft sie doch auch den Graben zwischen uns und der Bevölkerung. So gesehen, kann man doch verstehen, dass man in bestimmten Situationen die Nerven verliert.
Doch nicht nur auf der Polizei lastet zur Zeit schwerer politischer Druck. Auch der Justiz ergeht es nicht viel besser. So hat der gelernte Anwalt Nicolas Sarkozy Anfang Januar angekündigt, dass er den Status des bislang in Frankreich von der Politik unabhängigen Untersuchungsrichters (juge d’instruction) zu verändern gedenkt. Statt dessen soll dieser künftig die Untersuchungen nur noch kontrollieren und nicht mehr leiten. Dieser von der Staatsanwaltschaft unabhängige Richter war für alle bekanntlich sensiblen Angelegenheiten zuständig, die direkt die Autorität des Staates betreffen. So u.a. Fälle von politischer Korruption oder Missbrauch von öffentlichen Geldern . Richtern wie Polizisten scheint es jedenfalls in „Sarkozien“ nicht gerade wohl zu ergehen. Doch gegen seinen Willen festgehalten und eventuell sogar Prügel zu beziehen, dürfte für das Wohlergehen auch nicht gerade zuträglich sein. Sind die Zeiten des göttlichen Lebens in Frankreich endgültig aus und vorbei? Hoffen wir, dass es nur vorübergehend ist.