FDP: Strahlkraft und Selbstdemontage

Warum Deutschlands Parteien nicht zukunftsfähig sind

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Sie vereinte die höchste Stimmenzahl auf sich, die in der Geschichte der Bundesrepublik jemals eine der "kleineren" Parteien bei einer Bundestagswahl zu erreichen vermochte. 6,3 Millionen Wähler waren es, die im September 2009 ihr Kreuzchen bei der FDP setzten; das entsprach einem Stimmenanteil von 14,6 Prozent, somit hatte jeder siebte Wahlbürger für die Liberalen votiert. Es ist müßig, die aktuellen Umfragewerte für die FDP dagegen zu halten, an der horrenden Differenz arbeiten sich derzeit die politischen Kommentatoren ab. Erklärungsbedürftig ist ohnehin weniger das aktuelle Tief, sondern eher das Hoch beim Wahlergebnis.

Seit geraumer Zeit gibt sich die FDP als Klientelpartei für den selbstständigen Mittelstand. Inhaber oder Leiter der etwa 3,3 Millionen mittelständischen Unternehmen in Deutschland sowie deren Umfeld betrachtet die Partei als ihr "natürliches" Reservoir. All die stetig vorgebrachten Forderungen nach Subventionsabbau, nach Entbürokratisierung, nach Deregulierung, vor allem aber nach Steuersenkungen rühren aus dieser Achse her. Überdies verdichten sie sich auch zu übergeordneten Leitlinien wie dem "Ausstieg aus der Staatswirtschaft", worunter zum Beispiel der Rückzug des Bundes aus Großunternehmen wie Deutscher Telekom, Deutscher Post oder EADS gefordert wird. Staatsbeteiligungen an Finanzinstituten, wie sie während der Krise zustande gekommen sind, soll nach Vorstellung der FDP ein "Re-Privatisierungsrat" baldmöglichst rückabwickeln.

Finden solche Forderungen als politische Einzelprojekte Anklang auch außerhalb der FDP, ist die übergreifende Erklärung der Partei für die Krise eine höchst eigene: "Wir brauchen nicht mehr, sondern bessere Regelungen für den Finanzmarkt. Regulierungsversagen ist Staatsversagen, nicht Marktversagen." Mit dieser gar ins Wahlprogramm von 2009 eingegangenen Diagnose offenbart die FDP eine Sichtweise, die danach schreit, als Marktradikalismus bezeichnet zu werden (das völlig ausgelaugte Etikett "neoliberal" ist nicht mehr sinnvoll zu verwenden).

Einmal abgesehen davon, dass sie diesen niemals wirklich konsequent betrieben hat, denn auf wundersame Weise blieben Wohltaten an FDP-nahe Wirtschaftsbereiche vom propagierten Abbau oft verschont, ist die Analyse fragwürdig. Nicht nur in Deutschland war es just der Staat, der mit gewaltigen Kraftakten den Zusammenbruch der Finanzwirtschaft verhinderte und damit weitreichende Wirkungen auf die gesamte Realwirtschaft verhinderte.

Jede moderne Wirtschaft ist ein hochkomplexes Geflecht, in dem auf allen Ebenen nicht nur die ökonomischen Akteure, sondern gleichermaßen die politischen und administrativen mitwirken. Keine einzige zeitgenössische Gesellschaft zeigt eine Wirtschaft ohne Staatseingriffe, ohne Staatsvorgaben, ohne Staatsmitwirkung, ohne Staatsbeteiligung. Und sei es nur durch die Bereitstellung wissenschaftlichen Fortschritts in Gestalt von Universitäten und Hochschulen, Wissenschaftlern und Studenten. Wenn vor diesem Hintergrund "Staatsferne" proklamiert wird, kommt ein bestimmter Mechanismus zur Wirkung: Die bei kleinen und mittleren Unternehmen naheliegende und vorherrschende Sichtweise wird unbedacht auf die Gesamtgesellschaft übertragen.

Eingeengte Perspektive

Aus eigener Tätigkeit als Geschäftsführer einer kleineren GmbH weiß ich, wovon ich rede. Für diese Größenklassen tritt "der Staat" als begehrlich, als regelungswütig, als bürokratisch einschränkend auf. Und zwar ausschließlich. Will ein Unternehmen etwa Neuland beschreiten, Unkonventionelles probieren oder sucht Rat oder Hilfestellung, gerät ein Unternehmen in Schief- oder Notlagen und benötigt Unterstützung, verflüchtigt sich der sonst allgegenwärtige Staat im Nu. Tagtägliche Erfahrungen dieser Art speisen das Milieu, das den Nährboden für viele der marktradikalen, staatskritischen Aussagen der FDP abgibt. Wenn solche Alltagserfahrungen unmittelbar in Politik übersetzt werden, kommt ein Trugschluss zum Tragen: Was für Führung und Entwicklung kleiner oder mittlerer Unternehmen gut ist, so bedeutsam diese für Wirtschaft und Gesellschaft auch sind, muss noch lange nicht für große Einheiten bis hin zur Gesamtgesellschaft oder zur Europäischen Union tauglich sein. In ihrer Programmatik wird die FDP jedoch nicht müde, genau dies zu unterstellen.

Großunternehmen pflegen diese Sichtweise übrigens kaum; zu vielfältig und zu intensiv sind sie mit vielerlei Akteuren und Ebenen des Staates verknüpft, als dass sie Staatsferne in Betracht ziehen würden. Zudem sollten es die FDP-Funktionäre aus dem Regierungsalltag eigentlich auch besser wissen. Man mag es kaum glauben, aber die FDP ist auf Bundesebene tatsächlich die Partei mit der längstwährenden Regierungsbeteiligung (1949 bis 1956, 1961 bis 1966, 1969 bis 1998 und ab Oktober 2009). Im Hinblick auf Regierungsfähigkeit war es deshalb kontraproduktiv, unter völliger Verkennung des krisenhaften Umfeldes "Steuersenkung" rufend durchs Land zu laufen – und damit das ohnehin eingeengte Profil der Partei aus freien Stücken noch weiter zu verengen. Denn in ihren Programmen hatte die FDP einen abgestimmten Dreiklang von Steuersenkungen, Vereinfachung des Steuersystems und Haushaltskonsolidierung angekündigt.

Mit ihrer Selbstdemontage hat sich die FDP jeden Eindrucks von Gestaltungskraft wie Verantwortungsbewusstsein für die Gesamtgesellschaft begeben, zumal im ersten Jahr der doch so großspurig angetretenen "bürgerlichen Koalition" mit Ausnahme des Sparpaketes nichts, aber auch gar nichts Nennenswertes zustande gekommen ist (Union: Abtauchen vor Zukunftsfragen durch Pragmatismus). All dies gibt den Hintergrund ab für den Absturz der FDP in den Umfragewerten, die einen Parteivorsitzenden schon mal ins Grübeln kommen lassen sollten, ob er nicht zurücktreten solle.

Viele der 6,3 Millionen Wähler sehen sich heftigst enttäuscht von der FDP. Liegt das an der Partei oder an den Vorstellungen oder Hoffnungen der Wähler? Zunächst waren viele Bürger in höchstem Maße unzufrieden, dass Union und SPD die Möglichkeiten der Großen Koalition kaum genutzt hatten. Mit ihrer Mehrheit hätten die Volksparteien zentrale Weichenstellungen vornehmen können, hätten ... Allein aus diesem Grund wanderten mehr als eine Million Stimmen von der Union und eine halbe Million Stimmen von der SPD zur FDP.

Der Wahlerfolg sagt mehr über die Wähler als über die FDP aus

An die Hälfte der FDP-Wähler, gerade die Mehrheit der neuen aus konservativen Orten und Gegenden, hat zudem ihre Stimme aufgeteilt – Zweitstimme FDP, Erststimme Union. Solche Taktik war erfolgversprechend, weil die bürgerlichen Parteien ihr Zusammengehen derart in Aussicht gestellt hatten, dass sie im Wahlkampf fast arbeitsteilig agierten. Insofern verhieß die FDP den Stimmbürgern eine sichere Machtperspektive, die sie mit energischen Impulsen und Initiativen auszufüllen ankündigte. Zudem präsentierte sie bevorzugt die eher jüngeren unter ihren Parteiführern, um Agilität und Frische zu versprühen. Wahlforscher konstatieren, tatsächlich habe die Partei so völlig neue Wählerschichten ansprechen können. In alle Milieus und Gruppen wirkte die Strahlkraft, sogar bis zu den Arbeitslosen, von denen mutmaßlich jeder zehnte FDP wählte.

Es ist ein Lehrstück von allgemeiner Bedeutung, wie es der FDP derart erfolgreich gelingen konnte, mit dem Köder "Steuersenkungen" Unentschiedenheit und Wechselhaftigkeit im Wahlvolk zu ihren Gunsten zu nutzen. Und das, obgleich die Umsetzung der Verheißung realistisch nicht erwartet werden durfte. Ein Lehrstück, das weniger über die FDP und mehr über uns Wählerinnen und Wähler aussagt. Nach der weitgehenden Auflösung vormaliger Parteibindungen neigen wir dazu, kurzfristigen Lockungen und Eingebungen zu erliegen.

Fünf Wochen vor der Wahl von 2009 wussten 55 Prozent der Wählerinnen und Wähler nicht, welche Partei sie wählen würden – die Entscheidungsfindung erst in der Wahlkabine scheint zuzunehmen. Was vor einiger Zeit an heißer Luft um nicht einmal vorhandene Parteien erzeugt wurde, passt exakt in dieses Bild. Alle drei hypothetischen Parteien sollen noch stärker sein als die FDP ...

Wie können wir angesichts dieser unserer Beliebigkeit noch erwarten, dass Parteien Zukunftsfähigkeit unter Beweis stellen, indem sie real existierende Probleme benennen, Lösungen erwägen und womöglich Zumutungen aussprechen ... Insofern ist das außerordentliche Votum für die FDP Ausdruck einer unausgesprochenen Übereinkunft: Eine Partei spiegelt uns vor, sie würde etwas bewegen wollen und können – und das sogar zu unserem Vorteil. Und wir Wähler tun so, als würden wir dies ernst nehmen und geben ihr unsere Stimme, worauf sie Machtbeteiligung erlangt, uns aber keinerlei Zumutungen bescheren darf.

Solch symbolischer Tauschhandel ist beileibe nicht auf die FDP beschränkt, er findet in ihren 6,3 Millionen Stimmen allein seine in der Geschichte der Bundesrepublik sichtbarste Verkörperung und ist womöglich Vorbote zunehmender Sinnentleerung des Wahlgeschehens im Fünf-Parteien-System.

FDP als Hüterin der persönlichen Freiheitsrechte

Über der Erörterung dieser Konstellation wird oft übersehen, dass die FDP auch eine bedeutende politische Strömung des vormaligen Bürgertums aufweist. Neben allen wirtschaftspolitischen Ausrichtungen versteht sie sich als Speerspitze oder Hort des Liberalismus, als Hüterin der persönlichen Freiheitsrechte, als Bastion gegen übermäßig exerzierte Staatsmacht. Immerhin stellt die Partei die gegenwärtige Justizministerin, die 1996 aus Protest gegen den "Großen Lauschangriff" von ebendiesem Amt zurückgetreten war – weil ihre eigene Partei in einer Mitgliederbefragung mit einer Mehrheit von knapp zwei Dritteln der "akustischen Wohnraumüberwachung" den Weg bereitet hatte.

In Sachen Liberalität ist die Entschlossenheit der FDP nicht so ausgeprägt wie in Sachen freier Markt, dennoch sollte sie aus dieser historischen Tradition wesentliche Leitlinien beziehen können. Eindeutig ist die Position der Partei etwa zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren, der im Zuge der beginnenden Neuausrichtung des Militärs wieder als ernsthafte Option zurückkehren könnte: "Die FDP lehnt den Einsatz der Bundeswehr im Innern über bestehende Aufgaben hinaus strikt ab." Beim Thema krimineller Angebote und Inhalte im Internet ruft sie zwar einen klaren Grundsatz aus, den sie auch zum Regierungskurs erheben will, indes ist dessen Umsetzung weit weniger klar: "Löschen statt Sperren". Hintergrund ist die nicht unbegründete Befürchtung, dass der Aufbau einer Sperrinfrastruktur die Gefahr ganz anderer Verwendungen in sich berge.

Daran, ob die FDP erfolgreich sein sollte, Zensuroptionen zu verhindern, könnte zumindest in der Netzgemeinde der Rückhalt für ihre modernste Forderung hängen: "Deutschland muss zum europäischen Vorreiter in Sachen Internetkompetenz werden. Die Verwirklichung der Internetrepublik Deutschland bleibt eine wesentliche Herausforderung." Dass dies nicht nur an technische Voraussetzungen wie flächendeckenden Breitbandzugang gebunden ist, sondern gleichermaßen an Bildungsanstrengungen, hat die Partei durchaus begriffen. Ihre Initiative "Vorfahrt für Bildung" will die Bildungs- und Forschungsausgaben auf zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes steigern; diese nur als allergröbster Indikator dienende Relation war seit dem Jahr 2000 kontinuierlich gesunken und stieg erst 2007 wieder an, 2008 lag sie bei 8,6 Prozent.

Über einen Gesellschaftsentwurf verfügt die FDP nicht

Immerhin hat die Bundesregierung ihre Bildungs- und Forschungsausgaben in 2010 tatsächlich erhöht und zudem gelobt, sie fortan von Sparmaßnahmen auszunehmen. Ob dies Ergebnis von FDP-Vehemenz ist oder nicht, muss dahingestellt bleiben. In jedem Fall besteht jenseits des aktuellen Einbruchs bei den Umfragewerten beim Wahlvolk eine Grundskepsis, ob der FDP ihre unablässig hervorgekehrte Fortschrittlichkeit in Bereichen wie Bürgerrechten oder Bildung tatsächlich abzunehmen ist. Ob sie wirklich mehr erreichen will als Steuersenkungen, ob sie es ernst meint mit dem ausgerufenen "eigenständigen Weg"? Eine Art Zielvorstellung oder gar einen Gesellschaftsentwurf, darüber verfügt die FDP nicht – doch auch nüchterne oder pragmatische Parteien könnten Zukunftsfähigkeit zeigen.

Von all den Problemfeldern, die die FDP in der Bundesregierung anzupacken hätte, ist dieses das wohl gravierendste, zumal es durch ewige Flickschusterei fortlaufend verschlimmbessert und an den Rand des Kollapses gebracht wurde. Angesichts explodierender Kosten bei sinkendem Nutzen für die Menschen, aber beträchtlichem Ertrag für vielerlei Interessengruppen müsste das gesamte Gesundheitssystem eigentlich in seine Einzelteile zerschlagen und auf völlig neue Weise wieder zusammengesetzt werden. Solches traut sich jedoch keine politische Kraft zu fordern, geschweige denn anzustreben. Eine umfassende Strukturreform sollte es aber schon sein, die der dynamische Gesundheitsminister der FDP einzuleiten gedachte. Mehr Wettbewerb und weniger Bürokratie waren als die Hebel vorgesehen, um für die Gesundheitsausgaben von über 260 Milliarden Euro im Jahr wenigstens halbwegs angemessene Leistungen zu erzeugen.

Indes, alle bisherigen Schrittchen fielen nicht nur handzahm aus, noch die marktradikalsten Absichten endeten als Bettvorleger. Aus der vielbeschworenen "Kopfpauschale", wie kritisch diese auch beurteilt werden mag, wurde bislang eine "Gesundheitsprämie" mit steuerfinanziertem Sozialausgleich allein auf Zusatzbeiträge, erhöhter bürokratischer Aufwand inbegriffen. Dass die FDP hier Entschiedenheit und Kraft aufbringt, ihr Projekt eines "Systemwechsels" auf den Weg zu bringen, erscheint eher unwahrscheinlich.

Insofern entpuppt sich die von der FDP selbst behauptete und von Teilen des Wahlvolkes gern geglaubte Zukunftsfähigkeit als Schimäre. Auch die Weiterentwicklung der bestehenden Programmatik wird dies kaum beheben ... dass ein neues Grundsatzprogramm zu tatsächlicher Gestaltungskraft verhelfen wird, daran glaubt auch in der FDP niemand. Die wieder auf Normalmaß gestutzte FDP wird deshalb auf ihre immerwährende Rolle als Korrektiv oder Ergänzung zurückfallen.