Union: Abtauchen vor Zukunftsfragen durch Pragmatismus
Warum Deutschlands Parteien nicht zukunftsfähig sind
Auf den ersten Blick ist es bemerkenswert, dass Deutschlands Speerspitze in Sachen Propagierung und Geltungsverschaffung der "sozialen Marktwirtschaft", die Gütersloher Bertelsmann Stiftung, sich an das derzeit heißeste aller Eisen heranwagt. Sie ließ im Juli 2010 das Bielefelder Institut TNS Emnid je tausend Bürger in Deutschland wie Österreich zu Grundfragen der Wirtschaftsordnung befragen (Für ein "gutes" Wirtschaftswachstum und eine "neue" Wirtschaftsordnung). Eigentlich wäre zu erwarten, dass die Verfechter der "sozialen Marktwirtschaft" den allerorten zu spürenden Unmut zur Kenntnis nehmen, abwarten und erst nach Beruhigung der Lage solch heikle Thematik aufgreifen. Dies widerspricht jedoch dem Selbstverständnis der "Bertelsmann Stiftung" als Früherkenner, als Warner und Mahner, als Impulsgeber und als Antreiber politischer Kräfte und Prozesse.
So wird erst auf den zweiten Blick verständlich, warum die Stiftung gerade jetzt die Ansichten der Bürger zu wirtschaftlichen Grundfragen unserer Gesellschaft einholte. Sie tat es, weil die politischen Parteien die Tragweite dessen, was geschehen ist, nicht erkennen oder wahrhaben (wollen), weil sie sich selbst Scheuklappen anlegen, um diese Thematik ignorieren zu können, weil sie sich den unausweichlich tiefen und heftigen Debatten und Kontroversen verweigern. In Gütersloh erkennt man diese Defizite. Während die Parteien inständig hoffen, sich, ohne Farbe bekennen zu müssen, zum Status quo ante zurückstehlen zu können, denkt die Bertelsmann Stiftung vorausschauend. Sie will die Parteien zwingen, sich der Thematik zu stellen – in der klaren Absicht zu bewahren, was zu bewahren ist. Unmut und Zweifel der Bürger sollen gar nicht erst in womöglich grundsätzliche(re) Kritik münden.
Warum ist es eine private Stiftung, die antritt, das derzeit für unsere Gesellschaft heißeste aller Eisen anzusprechen? Eigentlich spricht unser politisches System doch gerade Parteien wesentliche Zuständigkeit für grundlegende Weichenstellungen zu – und äußerst ausgiebig wird diese Zuständigkeit von Parteien reklamiert. Die Erkenntnis, dass die Parteien zwar behaupten, gestalten zu wollen und gestalten zu können, die Untermauerung dieser Behauptung jedoch seit langem schuldig bleiben, diese Erkenntnis ist mittlerweile Allgemeingut. Ihren Ausdruck findet sie beispielsweise in dem Zulauf, den die Partei der Nichtwähler fortlaufend erfährt.
Dass keine einzige der Parteien zu tatsächlicher Gestaltung in der Lage ist, weiß jeder. Bleibt die Frage, warum das so ist und ob es so sein muss. Ein fundamentaler Grund, der für alle Parteien gleichermaßen zutrifft, ist die Haltung, sich den eigenen Wählern oder einer Klientel, was manchmal identisch ist, verpflichtet zu fühlen. Legislaturperioden werden durch den Rhythmus von gewählt-gegeben-wiedergewählt geprägt. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich dieses Wechselspiel nicht nur eingeschliffen, es ist zu einem Grundmuster geworden, das das Denken in Kategorien der Gesamtgesellschaft erschwert und, falls dieses doch einmal praktiziert wird, merkwürdig inhaltsleer ausfallen lässt. Wenn die Begriffe Sonntagsreden oder Fensterreden nicht schon erfunden wären, für jene Deklamationen zum Gemein- und Gesamtwohl, bei denen Politiker den Blick in die Ferne schweifen lassen, würden sie sich selbst erfinden. Niemand nimmt den Politikern noch ab, dass sie tatsächlich das Gemeinwohl im Auge haben, wenn sie in die Unendlichkeit blicken.
Ob jede/r Einzelne es wahrhaben möchte oder nicht, er oder sie lebt in dieser Gesellschaft, ist Teil dieser Gesellschaft. Es ist gar nicht erforderlich, philosophische Kategorien wie Totalität zu beschwören, um es sinnvoll zu finden, die Gesellschaft bei all ihrer inneren Vielgestaltig- und Widersprüchlichkeit auch als ganze zu denken. Doch ist diese Betrachtung mitsamt der zugehörigen Devisen vom Gemein- und Gesamtwohl in der Politik heimatlos geworden. Sie verkam zur lästigen Pflichtübung oder zur beliebig einsetzbaren Argumentationskeule, zum Profilierungsmittel oder zur Fluchtburg vor Festlegungen. Dass das Wahlvolk derartige Bekundungen nicht mehr ernst nehmen will und kann, ist die eine Seite; die andere, dass jegliche Gedanken an die Gesamtgesellschaft beim Publikum von vornherein diskreditiert sind.
Pragmatischer Umgang mit ideologischen Versatzstücken
Ganz besonders deutlich wird dies an jener Doppelpartei, die sich lange Zeit als Inhaber der Definitionsmacht über Gemein- und Gesamtwohl sah. Als politische Vertretung des Bürgertums formierten sich CDU und CSU 1945/1946 als eine christliche, aber überkonfessionelle Gruppierung. Weil sie der Hegemonie des Bürgertums Ausdruck gab, weil sie christliche Verantwortung in Anspruch nahm, verstand und gerierte sich die Union als Inbegriff des Gemeinwohls – wie es das Bürgertum definierte. Über Jahrzehnte wirkte diese Konstruktion, ältere Semester haben deren Niederschlag ins Alltagsleben noch leidgeprüft im Hinterkopf: "Wir sitzen alle in einem Boot." Jedem war klar, dass Gemein- und Gesamtwohl das war, was das Bürgertum unter beifälligem Kopfnicken des Kleinbürgertums als solches erachtete – Widersetzen zwecklos.
Vor diesem Hintergrund ist es ein beträchtlicher Fortschritt, dass heutzutage weder die Union noch sonst wer anderen eine bestimmte Sicht als die Bestimmung des Gemeinwohls aufzwingen kann – auch wenn es um den Preis geschieht, dass überhaupt niemand mehr eine ernsthafte Sicht des Gemeinwohls einnimmt. Dass der Union diese Rolle als Hüter des Gemein- und Gesamtwohls abhanden kam, hat sie nur zum Teil selbst zu verantworten. All die tiefgreifenden und umfassenden Wandlungen der Gesamtgesellschaft haben nicht nur das Bürgertum atomisiert, sondern auch alle Vorstellungen eines Leitbildes, selbst wenn dieses in letzten konservativen Zuckungen immer wieder mal beschworen wird. Angela Merkels berühmter Satz von 2009 "Ich bin mal liberal, mal christlich-sozial, mal konservativ" zeigt den aktuellen Stand dieser Wandlungen: Pragmatischer Umgang mit ideologischen Versatzstücken.
Für die Bewältigung des Alltagsgeschäftes einer Regierung mag das genügen, zumal wenn ihre Akteure allein im Rahmen des Status quo und seiner Bewahrung um jeden Preis denken. Als Nebeneffekt bringt dieses jedoch auch eine Betriebsblindheit, an der die Union nicht nur als Partei, sondern gerade als Regierungspartei leidet. Großen und über Legislaturperioden hinausreichenden Perspektiven fühlt sich niemand mehr verpflichtet. Und in derartigen Fragen gar noch Festlegungen zu treffen, kann eine Merkel-Union nur als unnütze Beeinträchtigung pragmatischen Regierens betrachten. Daher rührt das Schweigen in der für die Gesamtgesellschaft äußerst bedeutsamen Frage, ob sich die soziale Spaltung beschleunigt oder vertieft, ob die sich öffnende Schere die Mittelschichten zerreibt oder großenteils in den Abstieg zwingt.
Während der letzten beiden Jahrzehnte, auch unter Rot-Grün, hat es im Effekt massive Umverteilungen von unten nach oben gegeben, die zu einer "absoluten Polarisierung" geführt haben. Die Ärmeren wurden nicht nur ärmer, die Reicheren wurden nicht nur reicher – beide Pole nahmen auch an Köpfen zu, während die Mitte schrumpfte. Erst 2009 sorgte die Krise für eine kleine Änderung: Die Zahl der Reicheren sank leicht, dafür stiegen ihre Einkommen weiter.
Solche Zahlen müssen indes richtig eingeordnet werden. Es gibt Gesellschaften, da wüsste jeder, dass sich viele der "Ärmeren" arm gerechnet haben oder nur als arm eingestuft werden, weil sie florierend am Staat vorbei wirtschaften. In Deutschland dagegen treffen solche Zahlen eher zu. Obzwar von statistischer Aussagekraft, wohnt ihnen indes kein Gehalt bezüglich politischer Brisanz inne. Wie sehr wir als Wahlvolk uns vom Zauberwort Stabilität beschwichtigen lassen, ja durchaus auch selbst beschwichtigen, ist verblüffend. Stell Dir vor, es ist Krise, und niemand wird ärgerlich, laut oder gar aktiv … (Stolz auf Stabilitätskultur)
Sedierung des Wahlvolks
Genau dieses Phänomen erleben wir derzeit. Und als Hauptregierungspartei sucht die Union diese Sedierung des Wahlvolkes für sich zu verwenden. Sie verzichtet darauf, die soziale Polarisierung anzusprechen; sie enthält sich jeglicher Taten in Richtung sozialen Ausgleichs; sie säuselt der Gesellschaft vor, mit der Wiedererlangung "nachhaltigen Wachstums" (was "Nachhaltigkeit" zu einer Ziffer verkommen lässt) würde sich ohnehin alles richten. Gleichzeitig bekennt sie sich in hehren Worten zu sozialer Gerechtigkeit als Grundpfeiler der Gesellschaft. Gelegentlich fährt der CSU das S ihres Namens ins Bewusstsein, dann bäumt sie sich auf und haut auf den Putz – meist, ohne etwas zu erreichen. Anschließend wird wieder business as usual betrieben. Somit funktioniert dieses Muster aus der Sicht seiner Hauptakteure prächtig.
Dies gilt nicht nur für das Thema der sozialen Polarisierung. Bei eingehender Betrachtung lässt sich nicht eine Zukunftsfrage aufspüren, bei der die Union eine klare Haltung oder ein über Kurzfristigkeit hinausgehendes Ziel aufweist. Die Fixierung auf Wirtschaftswachstum als Motor für alles und das Nein zur Aufnahme der Türkei in die EU sind diejenigen politischen Projekte, die noch am ehesten über das Tagesgeschäft hinausweisen. Wer die knappen Eckpunkte der CDU zur letzten Bundestagswahl, als auch die ausführliche Entsprechung der CSU studiert, findet kaum Substanzielles, erfährt aber immerhin von letzterer eine Krisenerklärung: "Spekulations-Kapitalismus und Sozialismus sind gescheitert. Die Soziale Marktwirtschaft ist beiden weit überlegen. Aber ihre Grundsätze und Regeln sind in den letzten Jahren international nicht mehr ausreichend befolgt worden. Deshalb kam es zur Krise. Wir brauchen mehr Verantwortung und Haftung für das eigene Handeln. Wir werden die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft von Bayern aus kraftvoll neu beleben." Und wir dachten schon, dies würde allein von Gütersloh aus erfolgen …
Auch im Regierungshandeln fehlen Taten, die von einer Vorstellung künden, wie Deutschland in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren aussehen soll oder wenigstens könnte. Wo bereits das Rückgängigmachen einer Klientel-Beglückung als Großaktion gilt, wie im Fall der Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Hotelübernachtungen, kann dies kaum verwundern. Zu einem Kraftakt hat sich die Bundesregierung indes aufraffen können: Sie hat ein "Sparpaket" aufgelegt, das durch Einsparung von etwa 80 Milliarden Euro bis 2014 die öffentlichen Haushalte konsolidieren soll. Weil es die Belastungen faktisch ungleich über die Bevölkerung verteilt, sprechen selbst Unionspolitiker davon, es sei unsozial oder sozial nicht ausgewogen.
Welche Tücken beim Wahlvolk ein jeder halbwegs gravierender politischer Beschluss gewärtigen muss, lässt sich an diesem Maßnahmenbündel bestens veranschaulichen. De facto handelt es sich um ein "Sparpaket". Weil diese Bezeichnung zwar die tatsächliche Lage widerspiegelt, aber den Anklang beinhaltet, die Bundesregierung reagiere defensiv auf eine Notlage, bezeichneten ihre Spindoktoren es als "Zukunftspaket", was den unzutreffenden Anklang beinhaltet, die Bundesregierung würde vorausschauend gestalten. Fast schon wieder sympathisch, dass Angela Merkel häufig den Begriff verwendete, den wir Normalbürger zuordnen: "Sparpaket". Dass solch nüchterne Präsentation von Politprojekten die Akzeptanz beim Wahlvolk jedoch eher behindert, kündet von einer der wesentlichen Hürden, die jedes Bemühen um tiefgreifende Reformen zu erwarten hat: Mittlerweile werden selbst notwendige und wirksame Reformen von vielen Bürgern von vornherein und ausschließlich als Zumutung empfunden.
Daraus allerdings die Konsequenz zu ziehen, nur noch Schlafsand zu verstreuen, ist verantwortungslos. So verweigern die Bundesregierung als auch die sie tragenden Parteien Antworten darauf, wie die Alterssicherung in Zukunft aussehen soll oder kann. Angesichts des zahlenmäßigen Anteils der älteren Kohorten in der Bevölkerung wiegeln sie nur noch ab. Noch unter der Großen Koalition wurde 2009 die gesetzliche "Rentengarantie" beschlossen, nach der die Renten auch dann stabil bleiben, wenn die Löhne sinken sollten. Wie das im Falle länger währender Wirtschaftsprobleme funktionieren soll, bleibt ein Geheimnis von Union und SPD. Im "Sparpaket" von Union und FDP heißt es dann ausdrücklich: "Rentner können sich auf die gesetzliche Rentenversicherung verlassen. Der jährliche Rentenzuschuss von 80 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt wird nicht angetastet." Da können wir ja beruhigt weiterschlafen.